Die schlimmen Lieder längst vergessner Stunden ‒ Das „Liederbuch dreier Freunde“

 

Anfang Februar 1843 hatte Mommsen dem Freund in Husum einen Einfall mitgeteilt, der Folgen haben sollte1; Er hatte gemeinsam mit Guido Noodt und seinen Brüdern Tycho und August ein zurückgelassenes Manuskript Storms Jugendgedichte gelesen.

Da fiel es mir schwer auf die Seele, dass jetzt Alles, woraus doch Manches für einen größern Kreis gelangt hätte, dem Untergang bestimmt sein sollte; ich gedachte Ihrer vollen Mappe und meines Taschenbuchs und beschloss mit Gottes und meiner Freunde Hülfe, der Klique, die jetzt so bald zersprengt werden soll, ein Denkmal zu errichten. Es sollte eine Sammlung angelegt werden, die das Beste aus den verschiedenen Zettelkästen in einer reinlichen Edition vereinigte; Noodt wurde zum Sekretär ernannt und der Plan entworfen. Natürlich bleiben die Verfasser sämtlich anonym; unter dem Schilde der Namenlosigkeit wird Ihr geübtes Auge die künftigen Intrigen, die verschlungenden Fäden der Liebe wie der Malice leicht erkennen. Jemand behauptete, dass Sie auf diesen Vorschlag nicht eingehen würden und mit dem bescheidenen Titel Quorundam, mit dem Bewusstsein der stillen Wirksamkeit nicht zufrieden, wären; er wurde aber von mir auf die gebührende Weise abgemuckt. Ihrer Einwilligung bin ich so sicher, dass ich mit der nächsten Sendung eine Lieferung Ihrer Gedichte erwarte. Sie wissen, ich bin zum Redakteur geboren; senden Sie mir nur Unvollendetes, Fragmente, was Sie haben. Könnten wir die Sammlung zusammen anlegen, so solltʼ es wohl werden, aber ich denke auch so zu Stande zu kommen. Wenn ein Paket fertig ist, schicke ich es Ihnen als dem zweiten Herausgeber.

Storm geht begeistert auf Mommsen Angebot ein und will an dem Projekt mitarbeiten, das den etwas seltsamen Titel „Von einem Gewissen“ tragen soll2: Es wäre ein rechter Spaß; mit tüchtigen Quorundams will ich schon eine Fahrt machen. Gewiss hat der Tycho, der Schelm, mich angezweifelt. Nun es sei ihm vergeben, weil er ein so tüchtiger Quidam ist. Aber ich muss notwendig mehr davon wissen; will Klose auch das Buch in Verlag nehmen? oder wer sonst? Ferner wer soll Alle Beiträge liefern? Hagge doch wohl auch? Ferner doch wohl auch Prosa? Wie soll es heißen? Wann soll es losgehen? Ist das erste Fascikel noch nicht fertig? Lassen mich alles das möglichst umgehend erfahren und erhalten, dann bin ich fix dabei, und Sie erhalten dann umgehend meine sämtlichen carmina sauber in mundo zur Auswahl. Sie sehen, ich bin kein Hund, wie meine Mutter zu sagen pflegt; doch das wissen Sie auch.

Anfang März bremste Mommsen Storms Enthusiasmus und verschob das Projekt aus Zeitgründen in den Sommer.3 Als Verleger hatte er den Kieler Verlagsbuchhändler Theodor Klose gewonnen, in dessen Verlag (Schwersʼsche Buchhandlung) auch das von Karl Leonhard Biernatzki herausgegebene Volksbuch erschien. Nachdem Mommsen gemeinsam mit Guido Noodt die Gedichte redaktionell zusammengestellt und entschieden hatte, dass nur Texte von Storms, von ihm selbst und von seinem Bruder Tycho aufgenommen werden, gab er dem Plan den Titel „Liederbuch dreier Freunde“.

Die Arbeit an diesem Projekt regte Storm zu einigen neuen Gedichten an, die wieder in Zusammenhang mit seinen Versuchen gesehen werden müssen, sich von Bertha zu verabschieden. Eines davon, das auf eine Begegnung mit Bertha im Frühjahr 1840 verweist, nahm Storm nicht in das Liederbuch dreier Freunde auf, aber er überarbeitete es noch einmal, und es könnte sein, dass die Fassung, die er mit dem Datum vom 15. November 1843 versehen hat, für Bertha bestimmt war:

 

Ich habe eben Ihre Briefe durchgeblättert, und da ist es mir recht aufs Herz gefallen, dass mir lange Nichts so gutes und Liebes gesagt ist, als das Verslein am Ende des vorvorigen Briefes „Und wenn der Baum in Blüten steht“. Aber Blüten und Früchte zugleich, das passiert sehr selten, und ich blühe noch immerfort, wie Sie gleich sehen werden. Mich dünkt, wir Deutschen sind recht wie die Lerchen; kaum wirds Frühling so geht der Sing Sang an. Hören Sie nur:4

 

Wir saßen vor der Sonne5
Geschützt im schattig Grünen;
Du hieltest in den Händen
Die Blüte der Jasminen.

Du schautest vor dir nieder
Stumm lächelnd auf die Steige;
Dann warfst du mir hinüber
Das blühende Gezweige.

Drei Jahre sind vergangen,
Seit dieses mir geschehen.
So lang hab ich die Blume
Statt deiner nur gesehen? ‒

Nun send ich dir zurücke,
Die ich so lang besessen.
Du mögest an der welken
Die lange Zeit ermessen.

Nun blühen die Büsche wieder
Es drängt sich Dolde an Dolde.
Ich will keine Blätter und Blumen.
Ich will dich selber, die Holde.

 

Im Brief an Mommsen vom 24. Mai 18436 deutet Storm an, dass er noch immer hofft, von Bertha geliebt zu werden: Ich hab das Couvert wieder abgerissen, um Sie auch noch mit meinen Grillen zu plagen; aber ich muss. ‒ Ich hab Ihnen ja kurz geschrieben, dass ich erst wohl um 6, 8 Wochen nach Altona könne, und der Brief trägt gewiss keine Spuren von Verstimmung. Als ich ihn eben geschlossen, erhielt ich einen Brief von meinem Vetter Scherff aus Altona, worin er mich aus leicht ersichtlichen Ursachen und mit wirklicher Freundlichkeit bittet, meine Reise wegen des schlechten Wetters noch eine Zeit lang aufzuschieben, indem er unten hinzufügt „Rowohl und Bertha reisen Freitag auf 4 Wochen zu Warnstedts nach Itzehoe“. Der Brief ist in der freundlichsten Absicht so fein und so herzlich abgefasst, und diese Reise fällt ganz in meinen Plan, und doch – in welchen Abgrund von Traurigkeit hat mich der Brief gestürzt. Warum? Ich weiß nicht; ich glaube aber, die Liebe zu diesem Kinde wird mein Leben noch schlimm verwüsten. – Lieber Mommsen, ich habe Sie lange nicht mit diesen Gedanken geplagt, und Sie nehmen doch Teil an meinem Wohl und Weh. Noch einmal – bleiben wir die Alten! Schreiben Sie mir bald!

Ob es Mitte Juli 1843 zu einer Begegnung mit Bertha gekommen ist, wissen wir nicht; jedenfalls hat Theodor längere Zeit bei den Scherffs in Altona gewohnt. Er stattete auch verschiedenen Altonaer und Hamburger Familien Besuche ab, bei denen Theodor Mommsen ihn begleitete.

Heinrich Detering bewertet Storms lyrische Entwicklung der Bertha-Lieder7: Die Eigenständigkeit seiner Anverwandlung romantischer Traditionen, die Storm in den Bertha-Gedichten erreicht hat, gilt sowohl für die aufs äußerste angespannte Widersprüchlichkeit von Verklärung der Kindheits-Unschuld und erotischer Werbung als auch, in formaler Hinsicht, für den souveränen Umgang mit den gebrochenen „Volkslied“-Formen in der Linie von Arnim und Brentano über Eichendorff bis zu Heine. Zumindest diese formale Eigenständigkeit hat Storm nur im Durchgang durch die Abhängigkeit von seinem Mentor und Konkurrenten erreichen können. So führt die produktive Ko-Autorschaft denn über die Grenzen des Liederbuchs schon bald hinaus. Wichtige Teile davon spielen sich nur im begleitenden Briefwechsel ab und treten erst mit Storms erstem eigenständigen Separatdruck seiner Gedichte 1852 an die Öffentlichkeit ‒ die nun mit einem Schlag den gewissermaßen fertigen, den ganz eigenständigen Lyriker erblickt.

Wie diese gemeinsame Arbeit vonstatten ging, zeigt die Entstehung der Ballade „Tannkönig“. Storm hatte Anfang Februar 1843 einen Entwurf an Mommsen geschickt.8 Bei der Zusammenstellung der Texte für das Liederbuch ergänzte Mommsen die Strophen Storms Kraft der mir verliehenen pouvoir discretionnaire habe ich die Ballade geschlossen, natürlich so, dass das Ganze nur Intermezzo in des Bergkönigs Tragödie ist.9

Dazu meint Detering10: Zeitgenössische Leser konnten eben infolge dieser eindeutigen Zuschreibungen kaum wahrnehmen, was erst die spätere philologische Forschung sukzessiv erschlossen hat und was das vielleicht produktivste Ergebnis dieser poetischen Wohngemeinschaft gewesen ist. Bis in die einzelnen Gedichte hinein hatten die drei Freunde dort ja (mit einem schönen Ausdruck Wickerts) ihre romantische „poetische Gütergemeinschaft“ praktiziert, eine Ko-Autorschaft, in deren Untergrund allerdings zunehmende Konkurrenz rumorte. Für das Selbständigwerden des Lyrikers Storm, das sich in den Bertha-Gedichten so überzeugend vollzieht, spielt dieser Versuch die wohl produktivste Rolle.

Storm hat diese Ergänzung akzeptiert und in seine Ballade integriert; die drei Strophen hat er auch später beibehalten, als er das Gedicht 1851 mit der Überschrift „Tannkönig“ in seine „Sommergeschichten und Lieder“ aufnahm.

 

Märchen11

1.

Am Felsenbruch im wilden Tann
Liegt tot und öd ein niedrig Haus;
Der Efeu steigt das Dach hinan,
Waldvöglein fliegen ein und aus.

Und drin am blanken Eichentisch
Verzaubert schläft ein Mägdelein;
Die Wangen blühen ihr rosenfrisch,
Auf den Locken wallt ihr der Sonnenschein.

Die Bäume rauschen im Waldesdicht,
Eintönig fällt der Quelle Schaum;
Es lullt sie ein, es lässt sie nicht,
Sie sinket tief von Traum zu Traum.

Nur wenn im Arm die Zitter klingt,
Da hell der Wind vorüberzieht:
Wenn gar zu laut die Drossel singt,
Zuckt manchesmal ihr Augenlid.

Dann wirft sie das blonde Köpfchen herum,
Dass am Hals das güldene Kettlein klingt;
Auf fliegen die Vögel, der Wald ist stumm,
Und zurück in den Schlummer das Mägdlein sinkt.

                             –

 

 

 

 

 

2.

Hell reißt der Mond die Wolken auf,
Dass durch die Tannen bricht der Strahl;
Im Grunde wachen die Elfen auf,
Die Silberhörnlein rufen durchʼs Tal.

„Zu Tanz, zu Tanz am Felsenhang,
Am hellen Bach im schwarzen Tann!
Schön Jungfräulein, was wird dir bang ‒
Wach auf und schlag die Saiten an!“

Schön Jungfräulein, die sitzt im Traum;
Tannkönig tritt zu ihr herein,
Und küsst ihr leis des Mundes Saum,
Und nimmt vom Hals das Güldkettlein.

Da schlägt sie hell die Augen auf
Was hilft ihr Weinen all und Flehn!
„Tannkönig, lass mich ziehn nach Haus,
Lass mich zu meinen Schwestern gehn!“

„In meinem Walde fing ich dich,“
Tannkönig spricht, „so bist du mein!
Was hattest du die Messʼ versäumt?
Komm mit, komm mit zum Elfenreihn!“ ‒

„Elf! Elf! das klingt so wunderlich,
Elf! Elf! mir graut vor dem Elfenreihn,
Die haben gewiss kein Christentum,
O lass mich zu Vater und Mutter mein!“ ‒

„Und denkst du an Vater und Mutter noch,
Sitz aber hundert Jahr allein!“ ‒
Die Elfen ziehn zum Tanz, zum Tanz,
Er hängt ihr um das Güldkettlein.

Der Inhalt der Ballade bezieht sich allein auf das Mädchen, dass gerne wieder zu seinen Eltern zurück möchte und aus Furcht vor der Macht der männlichen Liebe reagiert; Storm hatte seine Sicht solcher Ängste bereits zwei Jahre zuvor in seinem Brief an Friederike Scherff formuliert, als er die mütterliche Freundin um Unterstützung bei seiner Werbung um Bertha gebeten hatte12: Meine Überzeugung war, […] es müsste aus diesem nahen Verhältnis mit einem jetzt erwachsenen Mädchen notwendig eine Liebe entstehen, und sie hielte mich dessen wert.

Heinrich Detering interpretiert die Ballade aus der Perspektive von Storms damaligen Überzeugungen13: Wo Mommsen tändelnd anakreontische Rollenspiele treibt, wo er, seinem artistischen Programm entsprechend, mit ersichtlich fiktionalen Mustern, Figurenreden und Liebeskonzeptionen spielt, da redet Storm von einer unverkennbar individuellen Liebe, deren Artikulation auch für ganz und gar unbefangene und ahnungslose Leser bis über die Grenze zum autobiographischen Bekenntnis hinaus geht. Und gehen soll. In der Dringlichkeit der Ich-Aussagen vieler dieser Texte liegt ein so unverkennbarer Wille zur Selbstartikulation eines Schreibsubjekts, dass das ‚lyrische Ichʼ und das Ich des realen Autors bedenklich nah aneinander rücken. Und so ungewiss der Status des Leitwortes ‚Kindʼ innerhalb dieses Text-corpus auch weithin bleibt ‒ es gibt in den Gedichten jedenfalls genügend Hinweise darauf, dass dieses Wort nicht bloß zärtlich-metaphorisch, sondern womöglich beunruhigend buchstäblich gemeint sein könnte. Wie wäre der Satz ‚Du bist so jung ‒- sie nennen dich ein Kindʼ sonst zu verstehen?

Es ist nun unübersehbar, dass Storm in eben den Gedichten, die thematisch so deutlich aus den selbstgenügsam-epigonalen Spielen des Bandes herausfallen, auch formal eine ungleich größere Sicherheit und Eigenständigkeit zeigt als dort, wo er nur in Mommsens Fußspur geht. Von diesem Lehrer hat er nun diejenigen lyrischen Ausdrucksformen gelernt, deren er zur Artikulation seiner ganz eigenständigen Auseinandersetzung mit dem romantischen Kindheits-Phantasma bedurfte ‒ also nicht nur eine lyrische Sprache, die nun seine ganz eigene werden kann, sondern ineins damit auch ein sprachliches Medium, das es ihm ermöglicht, die romantischen Traditionen, in denen seine Obsession sich bewegt, jedenfalls sprachlich auf Distanz zu bringen.

 

Mit einer weiteren erotischen Ballade knüpft Storm an „Walpurgisnacht“ und „Goldriepel“ an; diesmal verwendet er nicht Märchen- und Sagenmotive, sondern er orientiert sich an den Traditionen der Minnedichtung und der spanischen Romanze. Er übernimmt den Wechselgesang von Frauen- und Männerstrophe in reimlosen assonierenden Trochäen.

 

Ritter und Dame14

                     1.

 

Zu den Füßen seiner Dame
     Liebestrunken sitzt der Ritter;
     Sprechend blitzen seine Augen,
     Schweigend ruhen seine Lippen.

Am Balkone sitzt die Dame,
     Eine goldne Schärpe wirkt sie;
     Auf den Ritter blickt sie lächelnd,
     Und mit hellem Klange spricht sie:

„Denket Ihr auf Tod und Schlachten,
     Oder sinnt Ihr Minnelieder?
     Wahrlich, Eure stumme Weise
     Bleibt mir unerklärlich, Ritter!

Schwört Ihr erst in tausend Briefen,
     Tausend unerhörte Dinge
     Hättet Ihr für meine Ohren,
     Und das Herz sei voll zum Springen,

Fleht Ihr erst in tausend Briefen
     Um ein heimlich einsam Stündchen!
     Wohl, die Stunde ist gekommen –
     Redet jetzt von tausend Dingen.“

Und der Ritter bricht das Schweigen:
     „Zürnt mir nicht, o Wonnemilde;
     Wisset, dass geheimer Zauber
     Bleiern mir die Zunge bindet!

Nur ein Wink aus Euren Augen,
     Nur ein Wort von Euren Lippen;
     Nur Ihr selbst, o meine Herrin,
     Könnt den argen Bann bezwingen.“
            –

                  2.

 

Und zum Andern sitzt der Ritter
     Seiner Herrin an der Seite;
     Von der Schulter glänzt die Schärpe
     Als ein freundlich Minnezeichen.

Sieghaft schlingt er seine Arme
     Um den Leib des schlanken Weibes;
     Unaufhaltsam süße Worte
     Schwatzt er, und die Dame schweiget.

Will zu einem halben Wörtchen
     Öffnen sie der Lippen Zeile,
     Schließt er ihr den Mund mit Küssen,
     Und die Dame lauscht und schweiget.

„Süße Herrin, unerklärlich
     Bleibt mir Eure stumme Weise –
     Wollen Eure roten Lippen
     Gleiches zahlen mir mit Gleichem?

Oder lernten diese Lippen
     Lieblicher die Zeit vertreiben? –
    Gar behäglich ist das Schwatzen;
    Doch ein Andres ist gescheiter.“ – –

Draußen auf den Mandelblüten
     Ruht die Nacht im Mondenscheine
     Unaufhaltsam schwatzt der Ritter,
     Und die Dame lauscht und schweiget.

Gab sie hin des Blickes Zauber?
     Sprach sie aus die Zauberweise? –
     Doch nicht fürder klagt die Dame
     Über ihres Ritters Schweigen.

 

Winfried Freund urteilt15: Fast anakreontisch, rokokohaft graziös mutet das Spiel mit dem Schweigen, dem Reden und dem Verstummen an. Ist es zunächst der Ritter, der in der lang ersehnten Gegenwart der Dame schweigt, so ist es im zweiten Teil die Dame, die unter dem Redefluss und den Küssen des Ritters verstummt. Aber in einer tieferen Dimension spiegeln sich im wechselseitigen Reden und Verstummen, Erwartung und Erfüllung, Faszination und Hingabe. Redet die Dame in erwartungsvoller Spannung und verstummt in der Hingabe selbst, so versagt dem Ritter, verzaubert von dem Liebreiz der Dame, die Sprache, die er indes wiedergewinnt als Ausdruck tiefen Erfülltseins. Entäußerung und Verinnerlichung, Hingabe und Eroberung sind im weiblichen und männlichen Erleben des Eros unterschiedlich verteilt. Erfährt der Mann in der Erwartung der Erfüllung einen völligen Wandel seiner selbst, die alles zurücktreten und absterben lässt, was sein Leben bisher ausmachte, so löst sich die Frau in der erfüllten Erwartung, im Augenblick der absoluten Hingabe, aus ihrem bewussten Dasein.

Die typographische Gestaltung des Liederbuches überließ Mommsen Storm, der den Umbruch gemeinsam mit dem Verleger Klose im Juli herstellte. Am 23. Juli 1843 schrieb Klose an Mommsen16: Storm, der heute früh abgereist ist, war Freitag Abend bei mir und hat mich mit dem größten Teil Ihrer & seiner Gedichte bekannt gemacht. Hab ich doch gar nicht, gewusst, dass Sie ein solcher Beranger le jeune sind. Storm informierte Mommsen über den Inhalt des Gesprächs:  Der Druck wird in 8 Tagen beginnen, mit neuen Lettern, die Auflage 500 Exemplare. […] Der Preis des Büchleins wird zwischen 40 Schilling und 1 Thaler ausfallen. Freiexemplare will er uns jedem 8 geben. Da Tycho Teil daran hat, so denke ich, nehmen wir jeder 5 und schicken das 16te an Mörike.17 Im August und September redigierte Mommsen die Texte noch einmal und las parallel zu Storm Korrektur.18

Schließlich wurde der Satz nach einigen Auseinandersetzungen zwischen Storm und Mommsen im Oktober fertig und Mommsen konnte am 15. des Monats nach Husum melden19: Unser Liederbuch ist nun fertig, die Freiexemplare liegen hier um mich herum. Eines der Freiexemplare schickte Theodor an Bertha und trug folgende Widmung in das Buch ein20:

 

Du weißt es, Alle, die da sterben,
Und die für immer scheiden gehn,
Die müssen, wärʼs auch zum Verderben,
Die Wahrheit ohne Hehl gestehn.

 

Auch an seinen späteren Schwiegervater Ernst Esmarch schickte er ein Exemplar; im Mai 1844 schrieb er darüber an seine spätere Braut Constanze21: Ernstlich mein süßes Herz, was willst Du in meinem Liederbuch lesen, wie ich früher einmal ein tiefes starkes Gefühl unerwidert verschwendet. Es kann Dir nicht angenehm sein. Denn Du musst fühlen, wäre dies Gefühl mir erwidert worden, es hätte nie in mir erlöschen können; ohne Gegenseitigkeit konnte es nicht bestehen; vielleicht wär ich dadurch zu Grunde gegangen, wenn dies Gefühl mir nicht zum Objekt geworden, was ich künstlerisch zu gestalten suchte. Doch lies immerhin einmal diese Lieder im Zusammenhang (II Buch I. Abteilung), Du wirst es fühlen, dass sie Teile meines Lebens fortgeführt haben. Wenn Du das aber gefühlt und gelesen hast, dann leg das Buch bei Seite, und bring es Dir zum Bewusstsein, dass Du die Erste, Einzige bist, die mich eine glückliche Liebe kennen gelehrt hat, dass ich nie zuvor ein so inniges Verhältnis erlebt habe, dass ich überhaupt nur einmal ein solches erleben kann. Du kennst mich ja hinlänglich; Du weißt was Du mir bist, wie ich Dich liebe, Dich verehre. ‒

Das Liederbuch enthält etwa 40 Gedichte Storms, die meisten sind Liebesgedichte, die er für Bertha von Buchan geschrieben hat; zwei Abteilungen bestehen fast nur aus seinen Texten, die er selber für die Veröffentlichung angeordnet hat.

Darunter befinden sich auch die beiden Gedichte, die Theodor mit einem Brief Anfang April 1842 an Bertha schicken wollte, die sie aber damals nicht erreichten: „Lebwohl!“ sowie „Und blieb dein Augʼ“.

Das erste der beiden Poeme ist ein Abschiedsgedicht; im zweiten appelliert der Sänger an die Geliebte, von der er sich gerade verabschiedet hat, doch wieder zu ihm zurückzukehren.

 

„Lebwohl!“22

Lebwohl, lebwohl! Ich rufʼʼ es in die Leere;
Nicht zögernd sprech ichʼs aus in deinem Arm,
Kein pochend Herz, kein Auge tränenwarm,
Kein bittend Wort, dass ich dir wiederkehre.
Lebwohl, lebwohl! Dem Sturme rufʼʼ ichʼs zu,
Dass er den Gruß verwehe und verschlinge.
Es fände doch das arme Wort nicht Ruh  –
Mir fehlt das Herz, das liebend es empfinge.

Als noch dein Lächeln ging durch meine Stunden,
Da kamʼs mir oft: „Wach auf! es ist ein Traum!“
Nicht fassen konntʼ ichʼs  ‒ jetzo fassʼ ichʼs kaum,
Dass ich erwacht, und dass ein Traum verschwunden.
Lebwohl, lebwohl! es ist ein letztes Wort,
Kein teurer Mund wird mir ein andres geben.
Verweht ist Alles, alle Lust ist fort  ‒
„Die kurze Liebʼ, ach, war das ganze Leben!“

Mögʼ deinen Weg ein milder Gott geleiten!
Fernab von mir ist nah vielleicht dem Glück.
Inʼs volle Leben du  ‒ ich bleibʼ zurück
Und lebe still in den verlassʼnen Zeiten.
Doch schlägt mein Herz so laut, so laut für dich,
Und Sehnsucht misst die Räume der Sekunden –
Lebwohl, lebwohl! An mir erfüllen sich
Die schlimmen Lieder längst vergessner Stunden.

 

Storm bemüht sich, Stimmungen auf den kürzesten, prägnanten Ausdruck zu konzentrieren. In den Bertha-Liedern setzt sich der Emanzipationsprozess von der traditionellen Phrase in der Lyrik fort; es vollzieht sich ein grundlegender Wandel in der Darstellung der Naturwahrnehmung, und Storm findet zu einer eigenständigen neuen lyrischen Ausdrucksform. Er entfaltet zum ersten Mal seine spezifische Konstellation von Subjekt und Welt“, die auch seine weitere Lyrik bestimmen wird23. Dabei knüpft er am „Erlebnisgedicht“ der Goethezeit nur an und macht sichtbar, wie sich das Erleben selber gewandelt hat. Die Gleichstimmung von Außen- und Innenwelt, wie sie für die Lyrik Eichendorffs noch bestimmend war, erscheint bei Storm nicht mehr als harmonische Einheit von Welt und Ich. Das lyrische Ich erfährt die Welt als ein fremdes Gegenüber, das nicht zu ihm spricht und ihm nicht mehr in einem unmittelbaren Erleben einen „Sinn“ offenbart. Dennoch verstummt der Dichter nicht, wird das lyrische Ich nicht sprachlos; allerdings kann es die Naturerfahrung nur als Seelenzustand darstellen, das Erlebte also mit den Mitteln der Poesie nachbilden, immer aber mit einem deutlichen Zeichen der Distanz, die gelegentlich auch den Ansatz einer Reflexion beinhaltet und dann – vor allem in Storms Todesgedichten – verstummt.

Theodor Storm hat Bertha von Buchan nie vergessen können und pflegte den Kontakt zu ihr und zu Therese Rowohl weiter, allerdings mit geringerer Intensität. Im Nachlass von Bertha fanden sich weitere Gedichte, die Storm ihr bis nach seiner Übersiedlung nach Potsdam (1853) zugeschickt hat, darunter „Abschied“, „Schleswig Holsteinische Gräber“ (später: „Gräber an der Küste“), „Und schauen auch von Turm und Tore“ (später: „Im Herbst 1850“), „Neujahrstag 1851“, „Ich hab ein töricht Herze“ (später: „In der Emigration“), „Epilog eines Märchens“ (später: „Ein Epilog“) und „Schlimmes Lieben“.

Später haben sich Theodor und Bertha noch einmal wiedergetroffen und zwar im Hause der Familie Scherff; Storm berichtete darüber am 26. August 1860 an seine Frau Constanze24: Freitag war Friederikes Geburtstag, zu dessen Feier Bertha und Therese anhero gelangten. Meine alte Flamme sah wirklich recht hübsch und interessant aus, und war auch nett und liebenswürdig gegen mich, obgleich ein Etwas in mir in ihr die fromme selbstgerechte alte Jungfer heraus fühlte. Himmel, wenn das meine Frau geworden wäre! Ich muss nun noch einmal zu ihnen, Bertha krakelte mich gestern deshalb brieflich an. Seltsam und vielleicht natürlich, von Dir scheint sie mit mir auch dies Mal nicht reden zu wollen.

 

Bertha von Buchan, Fotografie um 1860

 

Die enge Bindung, mit der Berthas Pflegemutter das Kind an sich gefesselt hatte und die übertriebene Religiosität mögen Ursachen dafür gewesen sein, dass Bertha unverheiratet blieb. Nach dem Tode von Jette Rowohl zogen beide Frauen in das Oberaltenstift, ein Heim für alte Damen in Hamburg; dort starb Therese Rowohl im Jahre 1879. Bertha von Buchan lebte – durch ein Erbe von ihrem Vater abgesichert – bis zu ihrem eigenen Tod am 31. Dezember 1903 mit einer jüngeren Freundin in diesem Heim; diese berichtete 1924 darüber25: Wir nannten das alte Fräulein Therese Rowohl Tante, und sie war die Patin meiner älteren Schwester. Aber niemals ahnten wir, dass Tante Bertha eine Jugendliebe Storms gewesen sei. Und das Schicksal hat es wohlgemeint mit ihm, dass sie nicht seine Frau wurde. Niemals hätten die zwei zusammen gepasst. Ich mochte sie sehr gerne. Sie war ein amüsantes Menschenkind, viel älter ja als wir Schwestern, im Alter unserer Mutter nah, aber ich habe mich schon als Backfisch immer gefreut, wenn sie kam. Denn sie hatte einen Humor, der Gold wert war. Einmal las sie uns Reuter vor, „Ut de Franzosentid!“ ‒ nie habʼ ich das vergessen. Ich seh noch ihr Gesicht dabei. Es war sehr stark, breit und frischfarbig. Und in den Augen saß der Humor. Ihr Körper gab dem Gesicht nichts an Fülle nach. Das ganze Äußere das einer guten, massigen Bürgersfrau. Als Frau Storms, des einfühligen, tiefempfindenden Dichters, hätte ich sie mir unmöglich denken können. Durchaus nicht dumm, aber absolut hausbacken ‒ das war ihre Signatur. In ihren kleinen Stübchen bin ich oft gewesen. Sie waren tatsächlich winzig, dazu voller Vogelkäfige. Aber tadellos gehalten. ‒ Als ihre Mittel selbst bei ihren bescheidenen Ansprüchen und mancherlei Hilfe der Freunde nicht reichen wollten, legte sie sich auf das Backen von braunen Kuchen. Sie waren deliziös. Zergingen auf der Zunge, und man bekam nie genug von ihnen. Aber Seide hat sie bei diesem Geschäft nicht gesponnen. Das Spinnrad einer Großtante, die in unserem Hause lebte, ging auf ihren Wunsch in ihre Hände über. Sie gehörte noch zu den alten Damen, die spinnen konnten. Es war ein ganz entzückendes Rad, als Kind meine höchste Sehnsucht. Aber die Großtante klopfte uns die Hände mit einem Lineal, wenn wir nur daran tippten. Wohin es nach Bertas Tode gekommen, weiß ich nicht. Als sie starb, war ich längst auswärts verheiratet. Ihre Pflegemutter, das alte Fräulein Rowohl, wurde hoch in die neunzig alt. An ihrem Geburtstag versammelte sich unsere ganze Familie, Onkel, Tanten, Vettern und Kusinen in den winzigen Zimmern. Alle brachten Geschenke, meist Lebensmittel. Wurde es zu voll, musste ein Teil gehen. Sie sagte dann: „Das ist nett, Kinder, dass ihr nochmal kommt, es wird nun wohl zum letztenmal sein.“ Als sie aber über neunzig war, meinte sie: „Nun sagʼ ich das nicht mehr vom letztenmal, ich lebʼ ja doch immer weiter.“ Ein Verwandter, ein Hauptmann, pflegte zu sagen: „Tante Rowohl? Ach Tante Rowohl, die wirft noch mit unseren Knochen Äpfel von den Bäumen.“ ‒ Das machte auch auf uns Kinder einen unheimlich interessanten Eindruck. Ich muss sagen, ich rechne es doch Berta von Buchan hoch an, dass sie nie von dieser Liebe Storms gesprochen hat. Kein Wort darüber ist je in der Familie umgegangen. Wieviele Damen können sich in alten Tagen mit den Berichten über einstige Verehrer nicht genug tun, und die Verehrung eines solchen Mannes hätte doch einen Glorienschein um sie gewoben. Ein Zeichen innerer Vornehmheit bei aller äußerlichen Hausbackenheit, dies Stillschweigen.

 

Blumenbild von Bertha von Buchan aus Theodor Storms Besitz (StA)

 

Anmerkungen


1 Theodor Mommsen an Theodor Storm, Brief vom 1.2.1843. Briefe Mommsen, S. 53

2 Theodor Storm an Theodor Mommsen, Brief vom 24.2.1843. Briefe Mommsen, S. 51.

3 Theodor Mommsen an Theodor Storm, Brief vom 7.3.1843.

4 Brief an Mommsen vom 14. Mai 1843. Briefe Mommsen, S. 67.

5 Wir saßen vor der Sonne die Strophen 2, 4 und 5 in MG, S. 116f. mit Datum 15 Mai 43; hier nach einer heute verschollene Handschrift in Privatbesitz, datiert auf den 15.11.1843. Erstdruck: Lerbs 1918; Lerbs teilt einige Varianten mit, darunter zwei Zeilen zur dritten Strophe: Und fort warst du gesprungen ‒/ Wie ist mir doch geschehen? mit einer Korrektur in der letzten Zeile der 5. Strophe, die bei Lerbs lautet: Ich will dich selber (will ich) die Holde.

6 Briefe Mommsen, S. 70.

7 Detering 2011, S. 116.

8 Theodor Mommsen an Theodor Storm; Brief vom 1. Februar 1843: Den Kongreß von Verona habe ich gelesen, der Roman ist gut, ausgezeichnet aber das eingelegte Waldmährchen. Briefe Mommsen, S. 57.

9 Theodor Mommsen an Theodor Storm; Brief vom 5. August 1843. Briefe Mommsen, S. 77.

10 Detering 2011, S. 114.

11 LdF, S. 26-28.

12 Theodor Storm an Friederike Scherff, Brief vom 22.3.1841, StA, Husum. Zitiert nach Eversberg 1995a, S. 127.

13 Detering 2011, S. 111.

14 LdF, S. 121-123.

15 Freund 2000, S. 247.

16 August an Theodor Mommsen, Brief vom 23. Juli 1843, zitiert nach Briefe Mommsen, S. 76.

17 Theodor Storm an Theodor Mommsen, undatierter Brief (Juli1843). Briefe Mommsen, S. 75.

18 Theodor Mommsen an Theodor Storm, Brief vom 5.8.1843. Briefe Mommsen, S. 93.

19 Theodor Mommsen an Theodor Storm, Brief vom 25.11.1843.

20 Nach dem Zeugnis von E. O. Wooley (Wooley 1953, S. 42f.)

21 11.5.1844, Brautbriefe Bd. 1, S. 64.

22 LdF, S. 92f.

23 Das Folgende nach Detering 2004, S. 25-41.

24 Theodor an Constanze Storm, Altona, Sonntag, den 26. 8. 1860; Ehebriefe, S. 91. (Dort falsch datiert.)

25 Sophie Kloerß: Theodor Storms Jugendliebe. In: Der Tag Nr. 190 vom 8. August 1924 (gekürzt).