Verse wie Blumen – Ritornelle im Wettstreit

 

In einer Nachschrift zu seinem Brief vom 5. Februar 1843 schreibt Theodor Mommsen an Storm in Husum: „Eben werden wir hinuntergerufen, um Gretchen und Anna im Ballstaat (Schifferball!) zu bewundern; sie lassen vielmals grüßen und Gretchen verheißt auch bald zu schreiben.“ Mommsen schließt ohne weiteren Kommentar acht Gedichte an1:

 

Theodor Mommsen

 

Vergissmeinnichte!

Ich steht im Felde wie die andern Blumen;
Doch eigentlich drin bei des Goldes Lichte.

 

Weiße Narzissen!

Wozu euch Gott geschaffen,
Solltet ihr das nun endlich selber wissen?

 

Je länger je lieber!

Als Knabe fand ich dich in jedem Zaune -
Bist Du verblüht oder gehʼ ich dir vorüber?

 

Blaue Winden!

Ihr blühtet sonst in meines Vaters Garten (und wie!)
Wo werdʼ ich eures Gleichen wiederfinden?

 

Silberpappel!

Hast du mir was zu sagen?
Oder istʼs der Elfen Gerappel?

 

Tausendschönchen!

Das nickt gedankenvoll mit seinem Köpfchen,
Es hat wohl auch im Sinn ein feines Plänchen.

 

Die rote Rose,

Sie sehnte sich den ganzen Tag zu träumen,
Da schuf sie sich ihr Bett dazu von Moose.

 

Wer Haselnüsse

Den Mädchen schenkt & fängtʼs dabei nur recht an,
Bekommt für so viel Nüsse so viel Küsse.

 

Das sind elegante Texte, die Mommsen nach dem Vorbild der italienischen Ritornelle gleich in Serie produziert hat, um Storm zu imponieren und zugleich seine Kompetenz bei der Zusammenstellung der Gedichte für das „Liederbuch dreier Freunde“ zu demonstrieren. Ritornelle (von italienisch ritornello, Verkleinerungsform zu ritorno = Wiederkehr) stellen eine alte Form der italienischen Volkspoesie dar; sie bestehen aus beliebig vielen dreizeiligen Strophen mit dem Reimschema axa, aax oder xaa, wobei Assonanzen Reime ersetzen können; ursprünglich bildete ein Ritornell das ganze Gedicht. Die erste Zeile ist oftmals kürzer als die zweite und dritte Zeile und enthält einen kurzen Ausruf oder eine Frage; bei dem Ausruf handelt es sich meist um eine Blume, diese erste Zeile wird auch als Blumenruf bezeichnet. Ritornelle werden in Deutschland im 19. Jh. zusammen mit anderen Gedichtformen romanischer und orientalischer Herkunft durch Friedrich Rückerts Nachdichtungen bekannt.

Storm reagiert prompt und schickt seinerseits drei Ritornelle (Die will ich Ihnen dazu schenken) mit seinem Brief vom 15. Februar2: Die Ritornelle sind ein zierliches Geschlecht; man kann sie nicht lesen, so springen gleich neue hervor, Verse wie Blumen.

 

Maienglocken,

Ich seh euch jetzt verlassen blühn im Garten.
Sonst hieltet ihr euch gern zu braunen Locken.

 

Blaue Veilchen,

Ich kenn euch, ich lieb euch, ich find euch;
Wartet nur ein Weilchen!

 

Braune Myrten,

Euch schaut ich an; doch wisst ihr auch,
Wohin die Gedanken irrten?

 

Aus Mommsens „Blaue Winden“ macht Storm „Maienglocken“ – das hat Heinrich Detering als erster gesehen – und nimmt wenige Monate nach dem endgültigen Zerbrechen der Beziehung zu Bertha von Buchan und nach den ihr gewidmeten Gedichten – die Grundthemen seiner postromantischen Kindheitspoesie noch einmal auf und macht sie in der allein schon durch die exotische Form vorgegebenen Distanz zum Gegenstand kritischer Reflexion.3

Die blühenden Maiglöckchen stehen für jene Geborgenheit, die das lyrische Ich mit Berthas braunen Locken in Verbindung bringt, die es jetzt jedoch verlassen im Garten blühen sieht, wodurch zugleich der Verlust der Kindheit thematisiert wird.

Im Liederbuch druckt Mommsen zehn seiner Ritornelle ab, nimmt Storms „Geschenk“ an und erweitert seine Blumenrufe durch die drei des Husumer Freundes. Als letztes unter diesen Gedichten findet sich im „Liederbuch“ noch ein viertes Ritornell aus der Feder Storms4:

 

Dunkle Zypressen –

Die Welt ist gar zu lustig,
Es wird doch alles vergessen.

 

In diesem Text wird deutlich, dass hier nach dem Vorbild von Friedrich Rückert gearbeitet wurde, dem beide, Mommsen und Storm, die Kenntnis der italienischen Blumenrufe verdanken. Storm besaß eine Ausgabe von Rückerts Gedichten.

 

„Dunkle Zypressen“, Gedichthandschrift Storms (StA, Husum)

 

Bei Rückert fand Storm unter anderen folgende Ritornelle5:

 

Friedrich Rückert

Bescheidenes Veilchen!

Du sagest: „Wann ich gehe, kommt die Rose.“
Schön, dass sie kommt; doch weile noch ein Weilchen.

(S. 357)

 

Blühʼnde Narzisse!

Dein Auge sieht mich an so unbefangen,
Als ob dein Herz von keinem Kummer wisse.

 

O Myrthenkrone!

Dein Looß ist schön; du dienst der Lieb im Leben,
Der Unschuld dienest du im Sarg zum Lohne.

(S. 358)

 

Blüte der Rosen!

So treuen Freund, als ich dir bin gewesen,
Fand selten eine euch treuelosen.

(S. 360)

 

Zweig der Zipressen!

Weil ich solang von mir nichts hören lassen,
So meinst du wol, ich habe dich vergessen.

 

Zweig der Zipressen!

Ich habe, seit dem Tag ich dich verlassen,
Mich selbst vergessen, doch nicht dich vergessen.

 

Zweig der Zipressen!

Nur mit Gedanken darf ich dich umfassen;
Doch jemals dir zu nahn, muß ich vergessen.

 

Zweig der Zipressen!

Wenn es dir macht die Rosenwangʼ erblassen,
An mich zu denken; magst du mein vergessen.

 

Zweig der Zipressen!

Wenn du mich mußt vergessen oder hassen,
O haß mich, um nur nicht mich zu vergessen.

(S. 362)

 

Dass es sich bei Storms Ritornell nicht mehr um eine epigonale Nachdichtung handelt, wie bei den Ritornellen aus der Feder von Theodor Mommsen, zeigt schon der Vergleich mit der Serie von fünf Zypressen-Texten Rückerts. In diesen Ritornellen geht es Rückert um das Vergessen; er variiert das Motiv in immer gleicher Weise, gewinnt damit aber keine neue lyrische Ausdruckskraft, sondern „leiert“ in gewisser Weise sein Thema herunter, wie das Aneinanderfügen der zweiten Zeilen zeigt: Weil ich solang von mir nichts hören lassen,/ Ich habe, seit dem Tag ich dich verlassen,/ Nur mit Gedanken darf ich dich umfassen;/ Wenn es dir macht die Rosenwangʼ erblassen,/ Wenn du mich musst vergessen oder hassen. Anders Storm; in seinen beiden Zeilen, die dem Zypressen-Ruf folgen, wird die Verlusterfahrung und die grenzenlose Enttäuschung in ein so allgemeines Bild eingebunden, dass der empfängliche Leser ohne jede Reflexion allein aus sinnlicher Empfindung – freilich durch die Dichtung nur vermittelt – dieselbe Empfindung der Vergänglichkeit haben kann.

Noch einmal Heinrich Detering6: Diese drei Zeilen kann man wahrhaftig zu jenen Stormʼschen Versen zählen, von denen Thomas Mann gemeint hat, dass sie einem beim Lesen die Kehle zuschnüren können. Mit ihnen ist Storm vollends bei sich angekommen.

 

Anmerkungen


1 Briefe Mommsen, S. 57f.

2 Briefe Mommsen, S. 49.

3 Detering 2011, S. 117.

4 LdF, S. 66.

5 Friedrich Rückert: Gesammelte Gedichte, Zweites Buch. Erlangen 1836.

6 Detering 2011, S. 18f.