Ein Mädchen still und hold ‒ Verlobung mit Constanze (1844)

 

Nach der Zurückweisung seines Heiratsantrags durch Bertha von Buchan hat sich der junge Advokat in Husum ein ganzes Jahr unter den Mädchen und jungen Frauen seines Bekanntenkreises nach einem neuen Objekt für seine Begierden umgesehen; man traf sich bei Tanztees, Bällen und anderen gesellschaftlichen Anlässen und natürlich bei den Proben von Storms gemischtem Chor. Dass Theodor Storm in seiner Vaterstadt auf Freiersfüßen unterwegs war, wurde sogar im Kieler Freundeskreis kolportiert, wie Theodor Mommsen in einem Brief nach Husum vermerkt1. Hier in Kiel behauptet man indes, Sie seien in eine Altistin verliebt und wollten deren Herz mit diesem Prellschuss erobern; dazu mag es auch gut genug sein, am passendsten wäre es indes, Sie verlobten sich gleich mit Ihr und trügen dies alsdann öffentlich vor. Mommsens Anspielung auf Storms erotische Aktivitäten könnten einen realen Hintergrund gehabt haben, denn eine der jungen Frauen, die in seinem Chor mitwirkten, war die Altistin Hedwig Auguste von Stemann, genannt Bella, Tochter von Hedwig Auguste, Witwe des Kammerherrn von Stemann und Schwester des Amtmanns von Krogh, die mit ihrer Tochter im Schloss vor Husum wohnte. Mit Bella sang Theodor ein Lied, das der Komponist Carl Felix Grädener auf Storms Bitten hin arrangiert hatte, sein „Duett“.2

Eigentlich war es als Duett für Bertha gedacht, als Storm das Gedicht am 3. Februar 1843 niederschrieb und seinem Freund Mommsen nach Kiel schickte, der ihn gerade wegen seiner Schreibfaulheit getadelt hatte: Ich will indes die Hand küssen, die mich züchtigt, und Ihnen mein erstes Gedicht mittheilen, was mir dieser Winter gegeben. Es ist kaum fünf Minuten fertig!

Storm hatte bei seiner Werbung um Bertha die Erfahrung gemacht, dass sein nun zur Frau herangewachsenes kleines Mädchen seine erotische Zuneigung nicht erwiderte; damit hatte sie den jungen Mann in seinem Selbstwertgefühl verletzt und in eine tiefe Krise gestürzt. Theodor musste einsehen, dass er nicht wiedergeliebt wurde, ja dass Bertha überhaupt nur freundschaftliche Gefühlte zu ihm entwickelt hatte, dass es keine erotische Dimension in ihrer Neigung gegeben hatte und zur Zeit der Zurückweisung des Heiratsantrages auch nicht gab.

Bei Storms Brautschau in Husum wiederholte sich diese Erfahrung nun immer wieder; trotz freundschaftlicher Sympathien, die ihm von Auguste und Charlotte von Krogh, Dorothea und Friederike Jensen, Sophie und Laura Setzer sowie von Bella von Stemann entgegengebracht wurden, „funkte“ es nicht ein einziges Mal, ja Theodor versuchte noch im Herbst 1843 durch die Übersendung von Gedichten und des „Liederbuchs dreier Freunde“ eine Reaktion von Bertha zu provozieren, was ihm offenbar endgültig misslang. Theodor muss außerordentlich enttäuscht gewesen sein und als im Sommer und dann zum Weihnachtsfest 1843 seine Cousine Constanze Esmarch (1825-1865) aus Segeberg für längere Zeit in seinem Elternhause wohnte, scheint er sich entschlossen zu haben, seine erotischen Phantasien von Bertha auf Constanze zu übertragen, obwohl er nicht in die junge Frau verliebt war.

 

Constanze Esmarch, Fotografie nach einer Daguerreotypie, die um 1843 entstanden ist

 

Constanze erwähnt dies später in einem Brief an Theodor3: o ich erinnere den Weihnachtabend noch so deutlich, als ich vor Heimweh weinte. In der Vorstube wurde der Weihnachtsbaum aufgeputzt, wir waren alle in der großen Stube; ich saß an der einen Seite der großen Uhr und Du an der anderen Seite, den Abend kamst Du mir schon ganz süß vor, aber nach der Zeit die Maskerade, wo wir uns wieder so verfeindeten.

Nach Auskunft von Gertrud Storm verlobten sich die beiden auf einem Deichspaziergang im Januar 1844.4 Mitte Januar wurde im Elternhaus Storms anlässlich des 24. Geburtstages von Helene Storm ein Ball veranstaltet, auf dem sie sich der Verwandtschaft als Paar präsentierten; Theodor erinnert sich daran5:

Ich, der ich sonst in meinem Verhältnis zu Frauen bei dem Gedanken an dauer‹n›de Verbindung so tausendfältig bedenklich gewesen bin, ich habe in dieser Beziehung bei Dir auch niemals nicht einmal das leiseste Gefühl von Bedenklichkeit gehabt. Es verstand sich alles von selbst; so muss mein Herz Dich wohl geliebt haben, ehe mein Verstand es noch erkannte. Das alles wird mir jetzt erst recht klar, nun es in weiterer Ferne vor mir liegt. Dir, süßes Herz, mag es wohl eben so ergangen sein; Du setztest Dich lange vorher schon auf meinen Schoß und in meinen Arm, ehe Du Dir noch selbst gestanden, eh Duʼs noch selber wusstest, dass Du mich liebtest – und würdest Du doch sonst so getan haben, wenn Du nicht gefühlt hättest, dass da Dein eigentlicher Platz sei.

Regina Fasold beschreibt in ihrem Vorwort zur Edition der Brautbriefe die weitere Entwicklung der intimen Beziehungen6: Schon bald nach ihrer Verlobung hatten Storm und Constanze auch sexuelle Beziehungen, von ihm wohl als Liebesbeweis gefordert und von ihr auch gewährt, jedoch nicht ohne Anflüge von Beunruhigung, damit letztlich an Wert für den geliebten Mann verloren zu haben. Storm hat seiner Braut diese Ängste auf eine einfühlsame und zärtliche Weise zu nehmen gewusst – gebunden hatte er sie mit ihrer „Hingabe“ allemal. Denn Constanze, von ihrem Naturell her durchaus eine sinnenfrohe junge Frau, stand unter dem moralischen Druck ihrer Zeit und ihres Standes. Die Trennung von einem Mann, mit dem sie geschlafen hatte, wäre für sie wohl kaum in Frage gekommen. Ihre Intimität bot Storm gleichwohl die Gelegenheit für einige seiner bezauberndsten erotischen Liebesbriefe.

Theodor vertraut Constanze seine Liebeswünsche an und verbindet sie mit einem Liebeslied, das er selber zu Müllenhoffs Sammlung beigetragen hat7:

Dabei fällt mir noch ein; ich hab das vierte Heft Sagen von Müllenhof bekommen, darin find ich, dass das Hochdeutsche „Dass Du mein Schätzchen bist“ im Plattdeutschen das niedlichste heimlichste Liebeslied von der Welt ist. Hör nur!

 

1.

Datt du min Leewsten bist,
Dat du wul weetst,
Kumm bi de Nacht, kumm bi de Nacht
Seg mi, wo du heetst.

 

2.

Kahm du um Middernacht.
Kahm du Klock een,
Vader slöpt.
Moder slöpt,
Ick slåp alleen.

 

3.

Klopp an de Kåmerdür
Klopp an de Klink,
Vader meent, Moder meent,
Dat deit de Wind.
8

 

Mit diesem Ständchen gute Nacht; Du schläfst leider nicht allein, auch käm ich wohl nicht mehr zu Dir um Mitternacht, wenn ich nicht wirklich der Wind wäre; leider vermag hier der Storm nicht so viel als sein schwächerer Bruder. Nacht Dange, in Gedanken, die sind doch noch schneller als der Wind, und viel wärmer und treuer, mein süßes süßes Engelsköpfchen. —

 

In einem erotisch aufgeladenen Liebesbrief vertraut Theodor seiner Braut im Sommer 1846 seine geheimsten Fantasien an, die nun nicht mehr eine bloße Imagination seiner Wünsche sind, sondern auf ihren gemeinsamen Erfahrungen miteinander gründen.9

Die Stunden des Mittagzaubers sind noch nicht vorüber; draußen ist es still und glühheiß; hier im Saal ist es lieblich, vor dem einen Fenster sind die Läden geschlossen, das andre ist verhängt, es ist dämmrig und schattig hier – komm, komm Geliebte! Es ist eine Stunde zum Nichtstun der Liebe, ich schmachte nach Dir; es steht ein ganzes Glas mit Rosen auf dem Tisch. Du glaubst nicht, wie es zärtlich macht, in diese halbgeöffneten duftenden Kelche zu sehen. Komm Du süße, reizende Frau! Wir sind allein, ganz allein. Wirf Deinen biegsamen Leib in einer Deiner orientalischen Stellungen aufs Sofa, wie Du es liebst; lass mich zu Deinen Füßen sitzen. Ich will Dir die Strümpfe ausziehn, Du sollst die kleinen Füße nackt in die Sammetschuhe stecken; o wie das kühl und frei ist! Ich bin sehr verliebt in Dich, süße Frau, und, ach, Du weißt es, es gibt für mich nichts gefährlicheres als Deinen kleinen nackten Fuß zu sehn, er hat mir ja sogar oft genug den Kopf verdreht, wenn noch der weiße Strumpf ihn verhüllte. Deshalb will ich jetzt mit Deinem Fuß nichts mehr zu tun haben; er verführt mich. – Nein ich will mich zu Dir in die andre Ecke setzen und Deine frischen roten Lippen küssen – sie sind heiß, Dange, aber sie erquicken doch. Du musst aber nicht ganz einschlafen – Hör Du, Du weißt ich kann die Kleider eigentlich nicht leiden; streif sie ab, die braune Lüge, und lass mich an Deiner braunen kühlen Brust liegen – bin ich nicht gar zu verliebt in Dich? zürnst Du oder darf ich's sein? — Meine süße geliebte reizende Frau, lass mich Dich küssen; aber lange, ganz lange, bis dass auch Dich, geliebtes Herz, der holde Wahnsinn sanft bezwinget und Deines Lebens zarte Flut unhaltbar mir entgegendränget.

Anders als Bertha kann Constanze also die erotischen und sexuellen Bedürfnisse Theodors befriedigen, da sie eine 19 Jahre alte, bereits erwachsene Frau war, die auf sein Eheversprechen vertraute. In der Lyrik dieser Jahre begegnen wir aber trotzdem wieder Kindfrauen, so wie in dem Gedicht, das Theodor seiner Constanze zu deren 19. Geburtstag in alter Manier seiner Briefe an Bertha von Buchan schreibt10:

 

Tu auf, tu auf die Äugelein!
Dein Schatz will schauen mal hinein;
Und durch die lieben Äugelein
Dir rufen tief ins Herze dein:
Ach war ich heute bei der Süßen
Der allererste sie zu grüßen,
Sie tausend tausendmal zu küssen
Und ihr zu sagen unausbleiblich,
Wie ich sie liebe unbeschreiblich;
Ach wär ich heute heute,
Ach heute nur bei Dir!

 

Ja, mein liebes Geburtstagskind, meine unaussprechlich geliebte süße Braut, meine Constanze, wär ich heute, heute, ach heute nur bei Dir! Könnte ich Dich heute fest in meinen Armen halten und es Dir warm und leiblich wieder und wieder ins Herz küssen: ich liebe Dich, gewiss ich liebe Dich; durch Dich will ich gut und glücklich werden!

So erleben beide Verlobte, der erwachsene Mann und sein „Kind“, das er während dieser Zeit körperlich und geistig „zur Frau macht“, die Wonnen der Liebe und die Schmerzen der Trennung, bis sie endlich nach zweijähriger Wartezeit am 15. September 1846 in Segeberg getraut werden. Die 21jährige Constanze zog danach mit dem gerade 29 Jahre alt gewordenen Theodor in das Haus Neustadt 56 in Husum ein.

Wie intensiv Theodor versucht hat, seine Begierde nach Bertha nun auf Constanze zu übertragen, zeigt folgendes Gedicht11, das er am 28. Mai 1844 für seine Braut niederschrieb:

 

Und der er seine junge
Sonnige Liebe gebracht,
Die hat ihn gehen heißen,
Nicht weiter sein gedacht.

Darauf hat er heimgeführet
Ein Mädchen still und hold;
Die hat aus allen Menschen
Nur einzig ihn gewollt.

Und ob sein Herz in Liebe
Niemals für sie gebebt,
Sie hat um ihn gelitten
Und nur für ihn gelebt.

 

In seinem bereits zitierten Brief schreibt er darüber: In dem vierten Vers der ersten Strophe hatt ich erst „und heimlich ihn verlacht.“ Dadurch tritt aber die erste Geliebte gegen die eigentliche Person des Gedichtes zu sehr hervor, und es kommt Bitterkeit, die eigentlich nicht in dies Gedicht hineingehört. Ich meine auch, dass sie jetzt nicht darin ist; schreib mir, wie Du es beim Lesen empfunden hast. ‒ Du bist doch, mein süßes geliebtes Herz, wohl nicht grillenhaft genug, um mein Verhältnis zu Dir in dem Gedicht finden zu wollen; Du müsstest mich ja auch dann für einen wunderlichen Lügner halten. Zugleich aber kannst Du daran sehen, in wiefern lyrische Gedichte meistens etwas Erlebtes mit sich führen; was in dem obigen erlebt ist brauch ich Dir nicht zu sagen, Du weißt ja alles und dann der Eindruck Deiner lieben Seele, der ich die unglücklichen Verhältnisse unterlegte. ‒ Gottlob, ich liebe Dich, ich kann es frei sagen; Du weißt, Du fühlst es ja längst dass Du mein Glück, mein alles bist.

Friederike Jensen, die spätere Frau von Storms Bruder Johannes, zu der Storm im Vorfeld seiner Verlobung mit Constanze ein enges freundschaftliches Verhältnis hatte, schrieb an eine Freundin in Flensburg12: Theodor ist sehr aufrichtig mit mir, und spricht mit mir Manches was er wohl zu Keinem sonst sagt. Sein Verhältnis zu Constanze hat eine ganz andere Wendung genommen, erst war es, nach seiner heiligen Versicherung, nur eine Vernunftpartie. Theodor hat wohl früher ziemlich locker gelebt, hat wohl mit Liebe Scherz getrieben, hat sie wohl zu seinem Spielball gemacht. Er hat wohl um einige junge Mädchen angehalten, aber, o unerhörtes Schicksal, er wurde mit Körben zurück geschickt. Er sah Constanze, ihm war dies Leben hier als Junggesell zu langweilig, sie war schön, worauf er sehr viel sieht, und er glaubte, mit ihr glücklich zu werden. Dies hat er mir selbst gesagt, darum wählte er grade Constanze, nicht aus Liebe. Jetzt ist es aber gottlob anders, jetzt liebt er Constanze wie gewiss der zärtlichste Bräutigam und wird gewiss glücklich.

Gegenüber Constanze behauptete der fesche Bräutigam13: früher konnte ich mich in alle hübschen Mädchen verlieben, die so gütig waren sich in mich zu verlieben; aber jetzt, was hilft mir das alles? ich verstehe nicht mehr solche Güte zu benutzen. Mein Herz und meine Sinne verlangen nur immer und immer nach Dir, Du bist und bleibst mein Ein, mein Alles; das ist nun einmal so; ‒ wie glücklich macht mich dies Gefühl.

Aber das Idyll hat sich im nüchternen Alltag offenbar nicht so entwickelt, wie sich Theodor das vorgestellt hatte. In einem Brief an die Freunde Hartmuth und Laura Brinkmann aus dem Jahr 1866, also ein Jahr nach Constanzes Tod, lesen wir14: Ich heiratete und jenes Mädchen, damals eben aufgeblüht kam oft in unser Haus. In meiner jungen Ehe fehlte Eins, die Leidenschaft; meine und Constanzens Hände waren mehr aus stillem Gefühl der Sympathie in einander liegen geblieben. Die leidenschaftliche Anbetung des Weibes, die ich zuletzt für sie gehabt, gehört ihrer Entstehung nach einer späteren Zeit an. […] Während meines Brautstandes kam meine Schwester Cäcilie mit einem etwa 13jährigen Mädchen, einer feinen zarten Blondine, auf mein Zimmer. Sie hatten sich verkleidet und hielten sich eine Zeit lang bei mir auf. Als sie gegangen sagte ich mir betroffen, dass dieses Kind mich liebe, und erinnere mich dessen noch wohl, dass sie schon damals einen eigentümlichen Reiz für mich hatte. Aber bei jenem Kinde, die wie ich glaube mit der Leidenschaft für mich geboren ist, da war jene berauschende Atmosphäre, der ich nicht widerstehen konnte. Vielleicht mag ich auf sie eine gleiche Wirkung gehabt haben. Gewiss ist, dass ein Verhältnis der erschütterndsten Leidenschaft zwischen uns entstand, das mit seiner Hingebung, seinem Kampf und seinen Rückfällen jahrelang dauerte und viel Leid um sich verbreitete, Constanze und uns.

Dieses Kind war Dorothea Jensen15 (1828-1903), die Tochter des Husumer Kaufmanns Peter Jensen, die ebenfalls zu den Mädchen gehörte, die in Storms Chor mitwirkten. Als Theodor sich in sie verliebte, war sie nicht dreizehn, sondern 16 Jahre alt. In einem Brief an seine Braut Constanze erwähnt er sie sogar16: Denk Dir Dange, ich hab noch eine Erobrung gemacht, eine zarte siebzehnjährige (!), denk Dir, ist das nicht schmeichelhaft; ich dachte wirklich Du wärst meine letzte ‒ freilich bin ich dabei nur schlecht weggekommen, denn ich hab mich wiedererobern lassen ‒ Pfui, wie hässlich diese Wörter klingen man hörtʼs gleich, dass sie auf französisch coquet heißen.

Storms „Beichte“ lässt den Versuch erkennen, das sprachlich zu fassen, was emotional bewältig werden soll und eigentlich tabuisiert ist. Selbst in Storms privater Korrespondenz ist die Selbstzensur wirksam, die alle seine Schreibprozesse im Zusammenhang mit den bürgerlichen Wertvorstellungen seiner Zeit bestimmen. Der Ehebruch darf nur dann zum Thema einer schriftlichen Darstellung werden, wenn dadurch zugleich eine Ent-Schuldigung vollzogen wird. Storm bedient sich in seiner „Beichte“ der damals gängigen Formeln, um Intimes darzustellen, und schreibt: leidenschaftliche Anbetung des Weibes, berauschende Atmosphäre und Verhältnis der erschütterndsten Leidenschaft. Aber wie schon in seiner ersten Erzählung Celeste, in der junge Storm seinen inneren Kampf gegen die Scheu vor dem Liebesakt mit dem Hinweis auf eine als widernatürlich empfundene Selbstbeschränkung zu erklären sucht und die damit verbundenen Schuldgefühle in einen Gegensatz zum natürlichen menschlichen Empfinden stellt, entschuldigt er zwanzig Jahre später seinen damaligen sexuellen Fehltritt mit der Natur des Menschen, denn Dorothea war mit der Leidenschaft für mich geboren, einer sinnlichen Forderung, der ich nicht widerstehen konnte.

Ihre gemeinsame Leidenschaft hat er in Versen beschrieben, die zu den erotischsten Gedichten des 19. Jahrhunderts gehören, und damit ein Tabu gebrochen; zunächst „Weiße Rosen“, das von seinem Verhältnis zu Dorothea handelt.

 

Weiße Rosen17

1

Du bissest die zarten Lippen wund,
Das Blut ist danach geflossen;
Du hast es gewollt, ich weiß es wohl,
Weil einst mein Mund sie verschlossen.

Entfärben ließt du dein blondes Haar
In Sonnenbrand und Regen;
Du hast es gewollt, weil meine Hand
Liebkosend darauf gelegen.

Du stehst am Herd in Flammen und Rauch,
Dass die feinen Hände dir sprangen;
Du hast es gewollt, ich weiß es wohl,
Weil mein Auge daran gehangen.

 

2

Du gehst an meiner Seite hin
Und achtest meiner nicht;
Nun schmerzt mich deine weiße Hand,
Dein süßes Angesicht.

O sprich wie sonst ein liebes Wort,
Ein einzig Wort mir zu!
Die Wunden bluten heimlich fort,
Auch du hast keine Ruh.

Der Mund, der jetzt zu meiner Qual
Sich stumm vor mir verschließt,
Ich hab ihn ja so tausendmal,
Vieltausendmal geküsst.

Was einst so überselig war,
Bricht nun das Herz entzwei;
Das Aug, das meine Seele trank,
Sieht fremd an mir vorbei.

 

3

So dunkel sind die Straßen,
So herbstlich geht der Wind;
Leb wohl, meine weiße Rose,
Mein Herz, mein Weib, mein Kind!

So schweigend steht der Garten,
Ich wandre weit hinaus;
Er wird dir nicht verraten,
Dass ich nimmer kehr nach Haus.

Der Weg ist gar so einsam,
Es reist ja niemand mit;
Die Wolken nur am Himmel
Halten gleichen Schritt.

Ich bin so müd zum Sterben;
Drum bliebʼ ich gern zu Haus
Und schliefe gern das Leben
Und Lust und Leiden aus.

 

Der Dichter verwendet das Symbol der weißen Rose aus der christlichen Tradition als Zeichen der Reinheit; der Schmerz der Liebenden betrifft den Abschied und das Ende der einst so überseligen Liebe. Das rote Blut steht für die Leiden, die in dem dreiteiligen Gedicht aus der Perspektive des Mannes beschrieben werden; das Material seiner Schilderung stammt aus der unmittelbaren Erfahrung seiner Beziehung zu Dorothea Jensen. Mit diesem und den beiden nächsten Gedichten erreicht Storm beim Leser, was er von jedem Kunstwerk fordert18: Er will wie vom Leben, unmittelbar und nicht erst durch die Vermittlung des Denkens berührt werden.

In zwei weiteren Gedichten beschreibt Storm die Wahrnehmungen und Gefühle zweier Liebenden während und nach der körperlichen Vereinigung:

 

Rote Rosen19

Wir haben nicht das Glück genossen
In indischer Gelassenheit;
In Qualen istʼs emporgeschossen,
Wir wussten nichts von Seligkeit.

Verzehrend kamʼs, in Sturm und Drange
Ein Weh nur war es, keine Lust;
Es bleichte deine zarte Wange,
Es brach den Atem meiner Brust;

Es schlang uns ein in wilde Fluten,
Es riss uns in den jähen Schlund;
Zerschmettert fast und im Verbluten
Lag endlich trunken Mund auf Mund.

 

In diesem Gedicht, das zu Lebzeiten Storms nicht veröffentlicht wurde, stellt der Dichter die negative Seite der Sinnlichkeit dar; Glück, Gelassenheit, Seligkeit und Lust werden von den beiden nicht empfunden, ihr Empfinden wird vielmehr mit Begriffen des Leidens wie Qualen, Weh, Fluten, Schlund, Verbluten und Todesmetaphern (bleichen, brechen, zerschmettern) beschrieben.

 

Es entsteht ein weiteres Gedicht, „Mysterium“, „Geheimnis“ (ursprünglich für kultische Feiern mit einem geheim bleibenden Kern). Darin wird das Bedeutungsfeld des Symbols „Rose“ mit der ganzen Person der Geliebten verknüpft, die Partner sehen einander ohne jede Verstellung direkt ins Angesicht, nichts ist mehr zwischen ihnen, es herrscht eine Unmittelbarkeit der gegenseitigen Beziehung, zu der es keine Steigerung mehr gibt.

 

Mysterium20

„Die letzte Nacht, bevor wir scheiden,
Dann, doch nicht eher bin ich dein.
Gib mir die Hand! Du sollst nicht klagen,
Ich will nichts mehr für mich allein.“

Sie sprachʼs. Und endlich kam die Stunde,
Und nur die Sterne hielten Wacht;
Nur zweier Herzen tiefes Schlagen
Und nur der Atemzug der Nacht.

Kein Ungestüm und kein Verzagen;
Sie löste Gürtel und Gewand,
Und gab sich feierlich und schweigend
Und hülflos in der Liebe Hand.

Er hielt berauscht an seinem Herzen
Die Rose ihres Angesichts.
„So lass mich nun die Welt beschließen!
Nach dieser Stunde gibt sie nichts.“

Sie aber weinte, dass in Tränen
Ihr leidenschaftlich Herz zerging;
Sie dachte nichts, als dass zum Scheiden
Sie jetzt in seinen Armen hing.

Sie bebte bei der Glocken Schlagen,
Und schloss sich fest an seine Brust;
Und in den Schmerz der künftʼgen Stunden
Warf sie des Augenblickes Lust.

Sie wusste nicht, es war vergessen,
Dass sie begehrt und hülfelos

Lag mit den jungfräulichen Gliedern
In des geliebten Mannes Schoß.

Als er ein Weib umarmen wollte,
Lag sanft entschlummert, atmend lind,
An seinem tief bewegten Herzen
Ein blasses müdʼ geweintes Kind.

 

Das Gedicht beschreibt in direkter Schilderung eine Liebesnacht; Storm wechselt die Perspektive, indem er zunächst die Gefühle der Frau in wörtlicher Rede wiedergibt, dann die Unmittelbarkeit der Beziehung beschreibt, um schließlich die Empfindungen nach der Vereinigung darzustellen. Nur in einer Strophe erscheint die Rose, so dass der symbolische Gehalt des Begriffs „Rose“ auf die vom lyrischen Ich wahrgenommene Frau im Augenblick der sexuellen Vereinigung beider Liebenden bezogen werden muss, und zwar aus der Perspektive des Mannes.

Beide Gedichte ermöglichen es uns, die Bedeutung der roten Rose zu benennen: Sie ist erotisches Symbol und steht im Kontrast zum weißen Gewand der Jungfrau, bedeutet also nicht nur „Liebe“ im Sinne von Eros, sondern steht für Sexualität, Leidenschaft und Hingabe; dabei wird deutlich, dass Storm dieses Symbol sowohl für die Frau als Partnerin verwendet, als auch für die sexuelle Dimension der Liebesbeziehung.

Das Verhältnis dauerte bis 1848; nach der Heirat von Constanze und Theodor am 15. September 1846 war Dorothea häufig Gast im Hause der jungen Familie in der Neustadt 56. Constanze billigte die Beziehung und blieb eng mit ihrer Rivalin befreundet.

Vor dem Hintergrund dieses Wissens und dieser Haltung seiner jungen Ehefrau wird viel klarer, warum sich Theodor in dieser Zeit wieder so intensiv mit Werk und Biographie Gottfried August Bürgers auseinander gesetzt hat. Am 19. Mai 1846 schrieb er an seine Braut an Constanze21: Ich las gestern, wie das Unglück in Bürgers dritter Ehe mit dem bekannten und nachher so übel berüchtigten Schwabenmädchen Elise damit angefangen, dass er wider seine Neigung habe Bälle besuchen müssen, wo sie denn getanzt, während er im Conversationszimmer gesessen. Du kennst ja zum Überdruss meine hoffentlich grundlose Angst, dass auch mir daraus Unglück entspringen werde, und ich muss Dir gestehen, dass mich diese Angst gestern bis in die Nacht verfolgte, mir war als hätt ich meine eigne Geschichte gelesen. Mein allbereiten Reime flüsterten mir ins Ohr:

 

Wolle außer süßen Worten
Nur nichts mehr zu fodern wagen.
Ewige Liebe wird sie schwören;
Aber keinen Tanz entsagen.

 

Waren das nicht recht schändliche Verse, mein gute Dange? Aber ich wollte Du wärst bei mir; dann glaub ich leichter an Dich, ach ich bin oft  noch recht kleingläubig wenn ich Deine Augen voll Liebe nicht sehe.

Die Quelle für Storms Kenntnis des Bürgerʼschen Ehedramas war ein bereits über 30 Jahre Jahr zuvor erschienenes Buch22, in dem im Jahre 1812 – nur 18 Jahre nach Bürgers Tod – die Details seines Privatlebens veröffentlicht wurden. Im Oktober 1790 verheiratete sich der 43jährige Bürger in dritter Ehe mit der 21jährigen Elise Hahn, aber schon nach wenigen Wochen betrog die junge Frau ihren Mann; die Ehe scheiterte und wurde im März 1792 geschieden. In einem Brief an Elise, in dem Bürger seiner Frau alle Eheverfehlungen systematisch vor Augen führt, schreibt er:23 Abends warest du lustig und fröhlich in großer Teegesellschaft, und nach Tische wälztest du dich beiʼm Blindekuhspiel mit unsern Tischgenossen, die du gleichsam da zu aufzerrtest, bis nach 11 Uhr, da ich mich schon weg und nach Bette geschlichen hatte, herum.

Aus diesen Quellen war Storm bereits während seiner Schulzeit bekannt, dass Bürgers erotische Gedichte nicht als stilisierte Darstellungen fiktiver Wunschvorstellungen gelesen werden mussten, sondern Storm und seinen Schulfreunden durchaus als Ausdruck eines wirklich vollzogenen Lebensprogramms erscheinen konnten24: Ich habe zwei Schwestern zu Weibern gehabt. Auf eine sonderbare Art, zu weitläuftig hier zu erzählen, kam ich dazu, die erste zu heiraten, ohne sie zu lieben. Ja, schon als ich mit ihr vor den Altar trat, trug ich den Zunder zu der glühendsten Leidenschaft für die Zweite, die damals noch ein Kind und kaum vierzehn bis funfzehn Jahr alt war, in meinem Herzen. [...] Die Angetrauete entschloss sich, mein Weib öffentlich und vor der Welt zu heißen, und die Andere, in geheim es wirklich zu sein.

Die Öffentlichkeit zeigte großes Interesse an den Abgründen der Seelen ihrer Zeitgenossen. Im Gefolge von Aufklärung und Empfindsamkeit war es zunächst die Dichtung, in der sich ein Bewusstsein für Subjektivität und ein Erlebnisfeld oft nur geahnter Innerlichkeit entfalten und so die unbefriedigten Wünsche freizügig ausgelebt werden konnten. Da kamen Informationen über das Unglück in Bürgers dritter Ehe gerade recht. Bürgers „Beichte“ wurde ausführlich in Christoph Althofs Biographie zitiert und so wohl schon dem Schüler Storm an der Husumer Gelehrtenschule bekannt.25 Sein öffentliches Bekenntnis zur gleichzeitigen Liebe zweier Schwestern erhielt durch die deutlichen Parallelen zwischen biographischer „Beichte“ und lyrischer Präsentation eine doppelte literarische Weihe.

Die pikanten Details der ménage à trois konnten das interessierte Publikum leicht zwischen den Zeilen lesen. Darüber hinaus fand Storm in der anonym herausgegebenen „Ehestands-Geschichte“ die Beschreibung von Bürgers Traumfrau, die sinnlich und lustbetont sein sollte (er bekannt in einem Brief an seine Schwiegermutter, dass er seiner Frau drei Mal des Tages [...] Stunden lang ohne Ermüdung hat frönen können, S. 247), zugleich aber auch eine perfekte Hausfrau und fürsorgliche Mutter. Das Bild, das so von Bürgers dritter Frau entsteht, entspricht der typischen Männerphantasie um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert; sie soll Geliebte, Haushälterin, Mutter, Putzfrau und auch noch Teilnehmerin an den ästhetischen Vergnügungen des Ehemannes sein.

Genau diese Erwartung entfaltete Storm in den Jahren 1844 bis 1846 in den Briefen an seine Braut Constanze und versuchte, sie durch ein Erziehungskonzept auf die Ehe vorzubereiten. Seine immer wieder aufbrechende Eifersucht, die sich in schweren Vorwürfen gegen die seiner Meinung nach unzulänglichen Briefe Constanzes entladen, hat eine Quelle in seiner Orientierung an literarisierten Beziehung-Modellen. Storm versuchte, seine Braut in seinem Sinne zu bilden und orientierte sich dabei an Bettina von Arnims Buch „Goethes Briefwechsel mit einem Kinde“ oder an Goethes Bildungsroman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ und bezog die in diesen Werken dargestellten Bildungsepisoden auf sein eigenes Leben. Seine ständige Angst, die Liebe Constanzes zu verlieren, zeigt sich in heftigen Eifersuchtsattacken; insofern konnte auch seine Lektüre des zweiten Teils der Ehegeschichte Bürgers in ihm Ängste wecken, die er unmittelbar in seinem Brief an Constanze zum Ausdruck bringt. Bürger entfaltet nämlich das Bild der betrügerischen Ehefrau, die nicht nur den Haushalt vernachlässigt, sondern unverblümt in unzüchtiger Weise Ehebruch begeht. Die literarisierte Ehetragödie der Bürgers bedient zugleich das voyeuristische Interesse der Leser, denn der betrogene Ehemann schämt sich nicht nur nicht, den Ehebruch seiner Frau durch ein extra in die Tür gebohrtes Loch zu betrachten, sondern schildert Vorspiel und Koitus auch noch in genüsslich epischer Breite.

Bürgers Briefe lassen sich ohne großen Aufwand zu einem „Roman“ montieren; die anonyme Textkonstruktion aus dem Jahre 1812 ist Wundergeschichte und Briefroman in einem. Er stilisiert Elise Hahn nicht nur zur Traumfrau, sondern diffamiert sie zugleich als Hure; er selber steht trotz seiner ihm von den Zeitgenossen zugesprochenen Hörner zwischen beiden Extremen in bestem Lichte der Unschuld da. Dies konnte nur gelingen, weil Bürger als Schriftsteller wusste, wie man individuelle Vorgänge ins Allgemeine transponiert, indem er private Erfahrungen in seinen Briefen literarisierte. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Storm ihm auch hierin folgt; bereits im ersten Moment, in dem er seine Angst literarisch durch das vierzeilige Gedicht Wolle außer süßen Worten zu stilisieren versucht, verwendet er dasselbe Metrum, das auch Bürger in seinen Gedichten mehrfach benutzt hat, etwa im Refrain der „Nachtfeier der Venus“:

 

Morgen liebe, was bis heute
Nie der Liebe sich gefreut!
Was sich stets der Liebe freute,
Liebe morgen, wie bis heut!

 

Die „Nachtfeier der Venus“, mit der Bürger seine Gedichtsammlungen eröffnet hat, ist eine Nachdichtung aus dem Lateinischen („Pervigilium Veneris“) und „Ramlers lyrischer Blumenlese“ aus dem Jahre 1774 entnommen. Storm fand in seiner Ausgabe sowohl die Fassung von 178926 als auch die nach der eigenhändigen Umarbeitung Bürgers 1796 posthum im „Göttinger Musenalmanach“ abgedruckte Version.27 Außerdem druckt Bohtz die unter dem Eindruck von Schillers Kritik (1791) entstandene „Rechenschaft über die Veränderungen in der Nachtfeier der Venus“28 ab, in der sich Bürger mit seinem Jugendwerk (entstanden um 1771) auseinandersetzt und es verteidigt. In diesem Aufsatz eröffnet er Einblicke in seine poetische Werkstatt und zeigt, wie er bei seinen Dichtungen aus der genauen Kenntnis antiker Prosodik mit philologischer Genauigkeit gearbeitet hat. Als Storm diesen poetischen Rechenschaftsbericht erstmals 1835/36 las, bewegte er sich noch auf genau denselben Traditionslinien; die meisten seiner Gedichte aus der Schulzeit sind in der Weise der „Imitatio“ geschrieben und zeigen das formale Gerüst der klassischen Vers- und Strophenlehre.

Bürger zitiert als Beispiel die mehrfach umgearbeiteten vier Zeilen des Refrains, der in den Fassungen von 1778 und 1789 lautet:

 

Morgen liebe, wer die Liebe
Schon gekannt!
Morgen liebe, wer die Liebe
Nie empfand!

(1878)

 

Morgen liebe, was auch nimmer
Noch geliebet hat zuvor!
Was geliebt hat längst und immer,
Liebʼ auch morgen nach wie vor!

(1889)

 

Bürger variiert in freier Nachbildung die Stanze, eine Strophenform italienischer Herkunft mit abwechselnd weiblicher und männlicher Kadenz. Die Variationen sind zunächst ein Spiel mit dem Kehrreim, werden dann aber auf die Kadenzen, Tempora und die Wortwahl ausgedehnt; Bürger schließt morphologische und semantische Überlegungen ein und diskutiert neben Aspekten des Klanges auch den des Sprachwandels.

Waren das nicht recht schändliche Verse, mein gute Dange? – Mit dieser rhetorischen Frage bewertet Storm seine formal der Dichtung Bürgers nachgeahmte Strophe Wolle außer süßen Worten. Man ist geneigt, das Attribut schändlich auf den Inhalt der vierzeiligen Strophe und auf den Kontext des Briefes zu beziehen; Storm nimmt im selben Atemzug – wie er es in seinen Brautbriefen oft tut – den Vorwurf gegenüber Constanze zurück, sie habe durch ihr Verhalten einen Anlass für seine hoffentlich grundlose Angst gegeben, dass auch mir daraus Unglück entspringen werde. Die literarische Überhöhung der im Brief geschilderten subjektiven Angsterfahrung gehört zu jenem Komplex Stormʼscher Erziehungsbemühungen, mit denen er seine junge Verlobte über zwei Jahre fast täglich quälte und die Regina Fasold, die Herausgeberin der „Brautbriefe“29, folgendermaßen deutet: Seine Frage zielte darauf, unablässig die Versicherung für eine das menschliche Maß gleichsam übersteigende Zuneigung zu erlangen, weil offenbar erst in der Vorstellung einer solchen grenzenlosen Liebe seine vernichtende Angst partiell und temporär beherrschbar war.30

Das Wort schändlich kann aber auch als Wertung der Verse gelesen werden, die dem Verfasser unmittelbar nachdem der seinen allbereiten Reime(n) gefolgt ist, nun als schlecht erscheinen. Dann handelt es sich zugleich um eine Kritik an der Lyrik, wie sie Bürger mehr als 60 Jahre zuvor geschrieben hat.

 

Anmerkungen


1 Theodor Mommsen an Theodor Storm, Brief vom 7. März 1843. Briefe Mommsen, S. 93.

2 Theodor Storm an Theodor Mommsen, Brief vom 3. Februar 1843. Briefe Mommsen, S. 46.

3 Constanze Esmarch an Theodor Storm, Brief vom 20.8.1845; Brautbriefe 1, S. 220.

4 Gertrud Storm Bd 1, S. 172f.

5 Theodor Storm an Constanze Esmarch, Brief vom 15.8.1845; Brautbriefe 1, S. 201.

6 Regina Fasold im Vorwort zu Brautbriefe 1, S. 19.

7 Brautbrief 1, S. 202.

8 Müllenhoff 1845, S. 490 f.

9 Theodor Storm an Constanze Esmarch, Brief vom 18.6.1845; Brautbriefe 2, S. 325.

10 Theodor Storm an Constanze Esmarch, Brief vom 1.5.1844.

11 im Brief an Constanze vom 28 Mai 1844.

12 Friederike Jensen an Doris Lorenzen, Brief vom 2.5.1844; zitiert nach Brautbriefe 1, S. 381f.

13 Theodor Storm an Constanze Esmarch 23. 7.1844, Brautbriefe 1, S. 148.

14 Briefe Brinkmann, S. 146.

15 Briefe Dorothea Storm, S. 34-97.

16 Theodor Storm an Constanze Esmarch 23. 7.1844, Brautbriefe 1, S. 147.

17 LL 1, S. 19f.

18 In Storms Vorwort zum Hausbuch aus deutschen Dichtern, Braunschweig 1878, S. IX.

19 LL 1, S. 254.

20 LL 1, S. 254f.

21 Brautbriefe Bd. 2, S. 172.

22 Gottfried August Bürger’s Ehestands-Geschichte. Berlin und Leipzig 1812. Ein solches Exemplar stand in Storms Bibliothek.

23 Brautbriefe Bd. 2, S. 102.

24 Im 5. Teil der „Sämtliche(n) Werke“ (Göttingen 1829), ist Bürgers „Beichte eines Mannes, der ein edles Mädchen nicht hintergehen will“ abgedruckt (S. 175ff.); das Zitat stammt von S. 290f. Storm fand denselben Text auch in der Ausgabe Bürger’s sämmtliche Werke (Bürger 1835).

25 Einige Nachrichten von den vornehmsten Lebensumständen Gottfried August Büger’s [...] von Ludwig Christoph Althof. In: Bürger 1928, S. 175ff. Wieder in: Bürger 1835, S. 429ff.

26 Bei Bürger 1835, S. 113-115.

27 Bei Bürger 1835, S. 1-4.

28 Bei Bürger 1835, S. 349-372.

29 Brautbriefe. 2 Bde, Berlin 2002.

30 Theodor Storm- Constanze Esmarch., Brautbriefe 1, S. 16.