Dein Herz ist meines Lebens Quell ‒ Epilog

 

Hast du mein herbes Wort vergeben?
O schaue wieder lieb und hell!
An deinem Lächeln hängt mein Leben;
Du kannst mir Wohl und Wehe geben,
Dein Herz ist meines Lebens Quell. — —

 

Dieses Gedicht schrieb Theodor Storm am 16. Januar 1846 um 8 Uhr abends in einen Brief an seine Braut Constanze Esmarch, nachdem er sich zuvor bei ihr dafür entschuldigt hatte, dass er sie so häufig in seinen letzten Briefen durch seine herrische Art, an ihrer Liebe zu zweifeln, verletzt habe. Er begründet seine augenblickliche Stimmung folgendermaßen1: Wie abhängig sind wir doch in der Liebe! Das ist ihre süße schauerliche Tiefe; nicht einmal unser innrer Frieden; den wir uns sonst doch unter allen Verhältnissen zu schaffen vermögen, hängt in der Liebe von uns ab; und tu ich auch Alles, was Liebe verlangen und Liebe ersinnen kann; — der Frieden meines Herzens bleibt abhängig von der Laune des Geliebten.

Wenige Wochen später sollte die Silberhochzeit von Constanzes Eltern in Segeberg gefeiert werden. Theodor bereitete die Aufführung eines kleinen Stückes von Georg Nikolaus Bärmann (1785-1850) vor und wollte mit Familienangehörigen und Freunden der Jubilare die Komödie in 10 Szenen mit dem Motto „Hochmut kommt vor dem Fall“ aufführen. Die Rollen hatte er schon verteilt und Constanze gebeten, sich um die Vermittlung der Rollentexte an die Amateurschauspieler zu kümmern.

Die Handlung des in plattdeutscher Mundart verfassten kleinen Stückes von 10 Szenen ist so simpel wie der Moralsatz, den es versinnbildlichen soll, „Hochmut kommt vor dem Fall“: Hans Peter, der Sohn der verarmten und sich durch Spinnen ernährenden Bäuerin Trinilʼs Rohrs, liebt Anngretjen, die Tochter des reichen Pachtbauern Harm Joost, der seine Tochter jedoch nur mit einem reichen Bürger aus der Stadt verheiraten will. Im Handlungsverlauf verarmt Harm Joost, da er all sein Geld einem betrügerischen Wechsler in der Stadt überlassen hatte; Hans Peter und seine Mutter dagegen gewinnen durch ein Lotterielos, das ihnen Anngretjen geschenkt hatte, unverhofften Reichtum. Der Eheschließung des ursprünglich ungleichen Paares steht damit nichts mehr im Wege. Vielleicht hat Storm das Stück, dessen soziale Konstellationen <uns> beim Eltern- und Liebespaar in Storms „Die Regentrude“ (1864) wiederbegegnen, vor allem deshalb ausgewählt, weil in der 2. Szene Hans Peter und Anngretjen, die er und Constanze spielen wollten, in einem treuherzigen und innigen Ton von ihrer Liebe sprechen: „Anngretjen: O weh, o weh! dar wysen de Buren/ Heel annʼre Leev un bätern Verdrag. Hans Peter: Uns schall de Ehdüwel nich beluren;/ By Nacht nich, Gretj, un nich by Dag. Anngretjen: Wy hoolden tohoop in Freud un Nöden – Hans Peter: Wat dʼEen nich mag, de Anner nich will – Anngretjen: Uns schall de Dood vaneen eerst scheden – Hans Peter (dee sick höögt äs Pümmelken): Anngretjen, küß my un swyg still!“.2

Als die Vorbereitungen zur silbernen Hochzeit begannen, waren Constanze und Theodor seit fast zwei Jahren einander versprochen und hatten für ihre Hochzeit den 14. September 1846 bestimmt, den 29. Geburtstag Theodors. Was anfangs dem jungen Mädchen als die einfachste Sache von der Welt erschien, ihrem Verlobten zu versichern, dass sie ihm herzlich, innig, ewig zugetan sei, erwies sich im Verlaufe der Beziehung als so kompliziert, so von Enttäuschungen und Missverständnissen belastet, dass die beiden wiederholt verzweifelten und der Beziehungsabbruch drohte. Klar war sich Storm darüber, „dass ich ein ganz ungewöhnlich liebebedürftiger Mensch bin und gewiss nicht aufhören werde, viele und große Liebe von Dir zu verlangen“3. Dass hinter diesem eminenten Liebesverlangen, das er sich als Vorzug anrechnete, die tiefe Angst lauerte, Constanze zu verlieren, hat er sich selbst nach seinen häufigen und grundlosen Eifersuchtsattacken in den Briefen nie eingestanden. Stattdessen beschäftigte er sich bereits als junger Mann beständig mit dem eigenen Ende. Denn Storm, so wirkt es, fürchtete auf pathologische Weise den Zuwendungsverlust wie eine Vernichtungsbedrohung. Das Maß dieser Angst erkennt man an seiner Dauer-Frage, ob Constanze sich vorstellen könne, dass ihre Liebe zu ihm ewig währen würde, auch über seinen, als nicht allzu fern gedachten Tod hinaus, eine Frage, die sie ihm ungezählte Male mit Ja beantwortet hatte und die er doch immer wieder neu stellen musste.4

Einen Höhepunkt erreichten die Auseinandersetzungen in den Briefen, die beide zwischen Weihnachten 1845 und Februar 1846 wechselten; diese Zeit war geprägt von der Erfahrung ihrer mehr als vier Monate andauernden Trennung, die bei Theodor ein Übermaß an Sehnsucht und Begehren ausgelöst hatte.

 

Friedrich Feddersen: Constanze Esmarch; Silberstiftzeichnung

 

Constanze fragte bei Theodor an, ob er nicht ein Gedicht schreiben könne, das bei einem Festaufzug vor dem Jubelpaar und der Festgemeinde rezitiert werden sollte. Der sagte sofort zu und schrieb einen dialogisierten Text. Polterabend gehört sich so, dass das Festpaar in zwei Lehnstühlen sitzt, um sie her die Verwandten und Freunde und nun eins nach dem andern Aufzüge, Tänze, einzelne Masken, Darstellungen, Schauspiele vor ihnen erscheinen. Wenn das vorbei ist, wird an kleinen Tischen serviert, und das Geschaute beplaudert.5

Diese Aufführung fand am 13. Februar 1846 im Rathaussaal der Stadt Segeberg statt; der folgende Text stellt eine Rekonstruktion des Festzuges zur silbernen Hochzeit dar:

 

Mondesdämmerung.6

Er. Sie. (wir beide)

Sie.         Hörst du es jetzt? ‒ Ganz deutlich scholl es wieder!
              ‒ Du kennst doch sonst den Schlag der Nachtigall! ‒
              Noch immer nicht? ‒ Halt nur den Atem an;
              Denn fernher kommt es aus den stillen Gärten,
              Die unten dort im Mondenlichte liegen;
              streifend über tausend Blumenkelche
              Zu uns herüber weht der süße Laut.
              ‒ Ich schließ den Mund dir! ‒ Sag, hörst du es jetzt?

Er.         Wenn du mit solchem Druck die Lippen fesselst,
              So liegen alle Sinne mir geschlossen,
              Bis du das Zaubersiegel wieder lösest.

Sie.         Du arger Schelm! Du sollst die Hand nicht küssen,
              Und schwatzen sollst du auch nicht! Hören sollst du!
              Es ist Bulbul, die für die Rose singt.

Er.         Einfältig Kind! Das ist nicht Hafis Vogel;
              Die Elfen sindʼs, die ihre Hörnlein blasen!
              Sie wollen tanzen in der Sommernacht.
              Sieh nur hinunter zu den Wiesenplanen,
              Wo sich der weiße Mondesnebel ballt!
              Siehst du die Blume aus dem Duste ragen?
              Die Kaiserlilie istʼs! Um ihren Stängel
              Siehst hastig quirlend du den Nebel kreisen!
              Behüt dich Gott! das ist der Elfenreigen!
              Es lullt mich ein ‒ wie süß die Hörnlein klingen!

Sie.         Ich bitte, sprich: es ist die Nachtigall!
              Die Nachtigall! Mir graut vor deinen Elfen.
              Du böser Mann, ach zum Verzweifeln ist es,
              Dass du und ich so zweier Meinung sind!
              Sprich, bitte, sprich: es ist die Nachtigall!

Er.         Es ist die Nachtigall ‒ es sind die Elfen!
              Sie sind es beide ‒ oder sind es nicht.
              Weiß ich doch kaum, sind es im Tal die Quellen,
              Ist es die Nacht, die so melodisch rinnt.
              Musik ist alles, alles um mich her!
              Tautropfen schlüpfen leis von Blatt zu Blatt,
              Und durch die Gräser streift ein zarter Laut,
              Wie Harfensäuseln träumerisch und weich.
              Durch jeden Strauch, durch alle Wipfel rieseln
              Ungreifbar leise, halberwachte Stimmen,
              Und schwinden hin, und tauchen wieder auf.
              In tiefem Zauber sind wir rings befangen,
              In Liebesträumen schauert die Natur,
              Die Zeit steht still ‒

Sie.         O wie du träumst, mein Freund!
              Ich fühl den Nachtwind meine Locken streifen,
              Und Rosendüfte schwimmen rasch vorüber;
              Die Nachtigall verstummt, die Sterne wandeln,
              Der Morgen dämmert ‒ ‒

Er.         O wie schön du bist!
              Der Nachttau hängt in deinen braunen Locken,
              Dein Auge leuchtet gleich dem Stern der Nacht!
              Wie schön du bist! Kaum wag ich zu erkennen,
              Ist es dein Antlitz, das so lieblich schaut,
              Ist es die Seele ‒ Beide sind so gleich,
              Dass Eines nur das Spiegelbild des Andern.
              So bist du ewig!

Sie.        Ewig bin ich dein!
                             ‒‒‒‒‒

 

Du Heißersehnte, gute Nacht!
Der Mond allein hält draußen Wacht;
Sonst schlummert Alles in den ewgen Räumen.
Mein einsam Bette ist gemacht ‒
u heißersehnte, gute Nach!
Wann kommt die Zeit, um Brust an Brust zu träumen?

 

Zur silbernen Hochzeit7

 

Gott Amor

Wieder führʼ ich heut den Zug
Wie beim ersten Feste;
Amor bleibt die Hauptperson
In der Zahl der Gäste.

In mein Antlitz bringt die Zeit
Fältchen nicht noch Falte;
Doch wie jung ich immer bin,
Bin ich doch der Alte.

 

Zwei Kinder

Erstes

Wir sind zwei Kinder hier vom Haus
Und folgen mit Bedachte
Dem kleinen Gotte, der Mama
So unendlich glücklich machte.

Zweites

Ja, lachet nur! Wir kommen auch
In seinen Rosentempel.
Die ältste Schwester hat schon gezeigt,
Die Kinder nehmen Exempel.

Ein Bettelkind

Zürnt mir nicht, verehrte Frau,
Dass auch ich Euch gratuliere!
Armut ist ein schlechter Gast,
Furchtsam tretʼ ich in die Türe.

Draußen stand ich, und ich sah
Alle Fenster hell erleuchtet;
Und ich dachte, wie so oft
Ihr mir milde Gabe reichtet.

Gönnt nur einen Augenblick,
Mich an Eurem Glück zu weiden!
Schwester weint zu Haus nach Brot
Ach, wir haben wenig Freuden.

Der Bettelvogt
zum Jubilar:

Verzeihen Sie, Herr Bürgermeister!
So sehr man seine Pflichten kennt,
Das Bettelvolk wird immer dreister,
So sehr man visitiert und rennt.

So eben sah ich solchen Rangen
Verdächtig schleichen an den Treppen;
Wenn es vergönnt ihn einzufangen,
Werdʼ ich ihn sacht zu Loche schleppen.

Der Narr

Der Narr macht seine Reverenz,
Der gute derbe Geselle!
Ihr hörtet wohl von Weitem schon
Das Rauschen seiner Schelle.

Als alter Hausfreund bin ich ja
Notwendig bei dem Feste;
Denn hörtet ihr die Klapper nicht,
Euch fehlte doch das Beste.

Ein tüchtʼger Kerl hat seinen Sparrn!
Das ist unwiderleglich;
Und hat das Haus nicht seinen Narrn,
So wird es ödʼ und kläglich.

Hier war ich manchen guten Tag
Gastfreundlich aufgenommen;
Heil diesem vielbeglückten Haus,
Wo auch der Narr willkommen!

 

Zunächst war Theodor über dieses Ansinnen seiner Braut nicht begeistert; am 15. Januar schrieb er ihr8: Wie ein Zug bei einer silbernen Hochzeit aussehen soll, wenn nicht dumm und langweilig, davon hab ich keine Idee; müsst selbst machen hab keine Zeit auch; ich glaube Ernst Esmarch hat Geschmacklosigkeit genug dazu. Dann aber begann er sich für die Aufgabe zu interessieren9: Ich wollte Dir noch erzählen, dass ich heut auf meinem Spaziergange daran gedacht habe, was für die Kinder zu machen wäre, und mir ist eingefallen, dass wir ihnen am besten die lebenden Bilder überlassen; etwa Darstellungen aus dem Liebes-, Ehe- und Familienleben; Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (goldne Hochzeit etwa), vorne die Menschenszenen, im Hintergrunde der Genius dieser Zeitabschnitte, der der Vergangenheit alt, der der Gegenwart im blühenden Alter, Zukunft ein Kind; dadurch gewinnt man den schönen Kontrast mit den Menschen, die ja umgekehrt in der Vergangenheit jung, in der Zukunft alt erscheinen müssen. Die Menschen wären jedesmal von Kindern darzustellen, auch die alten, wir wollen sie schon schminken, Lucian Esmarch muss natürlich mit. Die Gegenwart Du oder Angelica Henning, die Vergangenheit Ernst Esmarch oder ich, Zukunft Sophie Esmarch. Die Auswahl und Anordnung der Szenen besprich nun einmal mit Sommers; Du kannst mir auch darüber schreiben, so will ich ferner meinen Rath abgeben. Vielleicht könnte der Genius (Der Genius der Vergangenheit mit grünem, der der Gegenwart mit silbernem, der der Zukunft mit goldnem Kranze.) den Prolog halten, der dann in drei Abschnitte zerfiele es würde dann ein doppelter Vorhang nötig sein, das Aufrollen des ersten zeigt den Genius, der den Prolog hält, hinter dem zweiten Vorhang ist die Darstellung arrangiert. Vielleicht könnte auch alles von Großen dargestellt werden und die Kinder dabei doch zu ihrer Zufriedenheit Platz finden. Der Prolog, den ich dann zu dichten übernehme müsste an das Sentimentale streifen, die Darstellungen aber möglichst humoristisch gehalten sein.

 

Constanze Esmarch, Daguerreotypie von Carl Ferdinand Stelzner, Hamburg um 1846

 

Mit einem nicht erhaltenen Brief vom 22. Januar schickte Theodor die Polterabendszene an Constanze, die ihm ein Küsschen im Voraus für Deine hübsche Dichtung übermittelte, was Theodor zutiefst beleidigte, wie er zu Anfang seines Briefes vom 30. Januar vermerkte10: Ich bin so erzürnt auf Dich gewesen, Du kleiner geliebter Schlingel, dass meine Polterabendarbeiten, denen ich so viel Zeit und Mühe widme, bei Dir so wenig Intresse und Vertretung finden, dass ich Dir, was ich heut und gestern geschrieben, gar nicht schicken kann. Handelst Du nicht recht mit mir, dass bei der Aufführung wenigstens keine Leute zugegen sein sollen! — Glaub mir sicher, meine kleine kluge Frau, es wird für uns ein geniertes Spielen und für die Zuschauer ein geniertes Sehen, wenn nicht ein kleiner voller Kreis Befreundeter vor der Scene sitzt. Daher müssen wenigstens Sommers und Rosens, wenn auch nicht grade eingeladen, so doch zu kommen veranlasst werden. Überdies sind ja doch auch unsre Polterabendscherze bei einem Familienfeste fast die Hauptfeierlichkeit, und dürfen nicht mit so beiläufigen Augen angesehn werden, wie ihr schlechten Segeberger das tut. O Du glaubst gar nicht, wie bös ich jetzt noch bin; und dabei soll ich unter drängenden andern Arbeiten noch dichten! Wenn Dein nächster Brief mich nicht sehr aufmuntert, so stürzt mein Pegasus.

 

Der erste Teil der Szene, den Storm später als Gedicht unter dem Titel „Sommernacht“ veröffentlichte, ist noch einmal Goethe verpflichtet. Storm übernimmt Motive aus der orientalisierenden Dichtung und setzt ein Zwiegespräch zweier Liebenden in Verse11; die Mondnacht, Nachtigall und Rose als Repräsentanten des Liebespaares, die braunen Locken und die leuchtenden Augen als Spiegel der Seele haben ihre Entsprechungen im „Buch Suleika“ des „West-östlichen Divan“, z. B. aus dem „Schenkenbuch“ und dem Buch „Suleika“.12 „Schon mit dem Titel seines Gedichts bezieht Storm sich auf Goethes Gedicht Sommernacht im ‚Westöstlichen Diwan‘, außerdem wird Goethe angesprochen mit den Motiven ‚Rose‘ und ‚Nachtigall‘ (in Goethes Gedicht Dichter), ‚braune Locken‘ (im Gedicht Schenke) und mit ‚Bulbul‘, der persischen Bezeichnung von Nachtigall (in den Gedichten Schenke und Dichter). Eine Bestätigung dafür, dass diese Anklänge gewollt sind, findet sich ebenfalls in Storms Gedicht: Er nennt ‚Bulbul‘, die Nachtigall, ‚Hafis Vogel‘, den Vogel des persischen Dichters Hafis (1327-1390), dem Goethe ein ganzes ‚Buch‘ gewidmet hat.“13

Auch Zitate aus Gedichten von Eichendorff und Mörike lassen sich erkennen. So beginnt die erste Strophe von Eichendorff Lockung14 mit den Versen: Hörst du nicht die Bäume rauschen/ Draußen durch die stille Rund'? und die zweite mit: Kennst du noch die irren Lieder/ Aus der alten schönen Zeit?

Noch deutlicher sind die Anklänge an Mörikes Gesang zu Zweien in der Nacht, einem Dialog zwischen dem König Ulmon und der Fee Thereile im Schattenspiel Der letzte König von Orplid. Mörike hat die beiden Strophen von Thereile unter dem Titel Nachts in die Separatausgabe seiner Gedichte (Stuttgart und Tübingen 1838, S. 69) aufgenommen. Die Wechselrede zwischen „Sie“ und „Er“ kennzeichnet er erst in der zweiten Auflage der Gedichte von 1848. Erst dort wird das Gedicht als Liebesduett erkennbar, in dem die beiden Liebenden gemeinsam die Nacht intensiv wahrnehmen und eine Übereinstimmung ihrer Empfindungen als Einheit mit der Natur erfahren.

 

Eduard Mörike

Gesang zu Zweien in der Nacht

 

Thereile.15

(noch immer in einiger Entfernung).

Wie süß der Nachtwind nun die Wiese streift,
Und klingend jetzt den jungen Hain durchläuft!
Da noch der freche Tag verstummt,
Hört man der Erdenkräfte flüsterndes Gedränge,
Das aufwärts in die zärtlichen Gesänge
Der reingestimmten Lüfte summt.

König.

Vernehm’ ich doch die wunderbarsten Stimmen
Vom lauen Wind wollüstig hingeschleift,
Indes mit ungewissem Licht gestreift
Der Himmel selber scheinet hinzuschwimmen.

Thereile.

Wie ein Gewebe zuckt die Luft manchmal,
Durchsichtiger und heller aufzuwehen,
Dazwischen hört man weiche Töne gehen
Von sel’gen Elfen, die im blauen Saal
Zum Sphärenklang,
Und fleißig mit Gesang,
Silberne Spindeln hin und wieder drehen.

König.

O holde Nacht, du gehst mit leisem Tritt
Auf schwarzem Samt, der nur am Tage grünet,
Und luftig schwirrender Musik bedienet
Sich nun dein Fuß zum leichten Schritt,

Womit du Stund’ um Stunde missest,
Dich lieblich in dir selbst vergissest –
Du schwärmst, es schwärmt der Schöpfung Seele mit!

(Thereile legt sich auf einen Rasen, das Auge sehn-
süchtig nach dem Könige gerichtet. Er fährt fort, mit
sich selbst zu reden.)

Im Schoß der Erd’, im Hain und auf der Flur
Wie wühlt es jetzo rings in der Natur
Von nimmersatter Kräfte Gährung!
Und welche Ruhe doch, und welch’ ein Wohlbedacht!
Dadurch in unsrer eignen Brust erwacht
Ein gleiches Widerspiel von Fülle und Entbehrung.
In meiner Brust, die kämpft und ruht,
Welch’ eine Ebbe, welche Flut!

 

Karl Ernst Laage betont in seiner Interpretation das Neue in diesem Gedicht: ei Storm lösen sich die Dissonanzen erst im Schlussteil auf. Aber es geht bei Storm nicht (wie im Mörike'schen Gedicht: Du schwärmst, es schwärmt der Schöpfung Seele mit!) um romantisches Aufgehen des Individuellen im Unendlichen und um Aufhebung der Spannung zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen. Zwar ist die Welt, mit der Storm die beiden Liebenden umgibt, ganz und gar ‚romantisch‘ und die Atmosphäre ist ganz dazu angetan, sich aus der endlichen Welt zu lösen und aufzugehen im Unendlichen (Storm: In tiefem Zauber sind wir rings befangen,/In Liebesträumen schauert die Natur./Die Zeit steht still). Aber dieser Zauber führt die Liebenden in Storms Sommernacht nicht zum Vergessen ihrer Endlichkeit, im Gegenteil, führt sie wieder auf die Erde zurück (O, wie du träumst, mein Freund) und gipfelt ganz realistisch, ganz banal in einer Liebeserklärung: Er schwärmt von der ‚ewigen‘ Schönheit der Geliebten, und sie schwört ihm ewige Liebe. Man kann sagen: Storm führt die Leser, die Liebenden, aus der romantischen in die realistische Welt.

Die abschließenden Verse der Szene Zur silbernen Hochzeit und ein Hinweis in einem seiner Briefe16 (das Festgedicht ist leider wieder nicht weiter gekommen; aber ich hab doch so allerlei Gedanken gehabt, die zu etwas führen können) belegen, wie sehr Theodor während er an den Versen schrieb, an Constanze gedacht hat.17 Beide waren nunmehr ein Vierteljahr voneinander getrennt und Theodor gab Constanze genaue Hinweise, wie sie sich bei seiner Ankunft in Segeberg verhalten soll: Aber ich muss doch der Erste sein, und da wollt ich Dich bitten, dass Du so wie Du uns aussteigen siehst, wegläufst, sag nur wohin? Nach meinem Zimmer! und lass es warm sein, wenn der Schwiegersohn Deiner Mutter das bei ihr prätendieren kann. Du bist doch gar zu reizend, Dange; Du verdrehst mir in dieser Zeit so den Kopf, dass nur strenge Verstandesarbeiten mich fesseln können; Arbeiten der Phantasie gehen alle auf im Deingedenken; das Festgedicht ist bis jetzt nur noch eine große Liebesszene.

In den einleitenden Versen glaubt Sie die Nachtigall schlagen zu hören und verschließt ihm den Mund durch einen Kuss, so dass er zunächst nicht antworten kann, dann aber befreit er sich und widerspricht ihr vehement. Er besteht darauf, dass nicht die Nachtigall (persisch Bulbul) singt, sondern dass die Hörner zu hören sind, die zum Elfenreigen klingen. Die beiden streiten, die Frage bleibt offen, er aber lässt sich von den Hörnlein der Elfen einlullen. Er blickt ihr schönes Antlitz und schaut ihre Seele: Beide sind so gleich,/ Dass Eines nur das Spiegelbild des Andern./ So bist du ewig!

So scheint das Duett der Liebenden in einer Einheit mit der Natur und in Harmonie zu enden. Zuvor aber hatte sie ihn dringend gebeten: Die Nachtigall! Mir graut vor deinen Elfen./ Du böser Mann, ach zum Verzweifeln ist es,/ Dass du und ich so zweier Meinung sind!/ Sprich, bitte, sprich: es ist die Nachtigall!

Das Grauen vor den Elfen verweist auf die Ballade Tannkönig, die Storm Anfang August 1843 Theodor Mommsen in einem Brief mitgeteilt hatte, und in der die Angst eines Mädchens, das sich im Wald verlaufen hat, vor dem König der Elfen ausgesprochen wird, der sie mit den Worten zur Geliebten begehrt: In meinem Walde fing ich dich, Tannkönig spricht, so bist du mein. In ihrer Not antwortet sie ihm: Elf! Elf! mir graut vor dem Elfenreihn,/ Die haben gewiss kein Christentum,/ O lass mich zu Vater und Mutter mein! ‒ Der Tannkönig aber antwortet: Und denkst du an Vater und Mutter noch, Sitz aber hundert Jahr allein!“ ‒/ Die Elfen ziehn zum Tanz, zum Tanz,/ Er hängt ihr um das Güldkettlein.

Ähnlich wie in der Ballade „Walpurgisnacht“, in der der Teufel die weinende Dirne vergewaltigt, tut auch in „Tannkönig“ der Mann dem Mädchen Gewalt an. Als Theodor die Verse für die „Polterabendszene“ dichtete, führte er ein mit Aggressionen aufgeladenes weltanschauliches Gespräch mit Constanze, indem er sie immer wieder drängte, seinen ausführlich dargelegten Vorstellungen zu Liebe und Unsterblichkeit zuzustimmen. Theodor wirft ihr vor, ihn aus einer Stimmung heraus zu lieben, nicht aber aus tatkräftiger Gesinnung, die seiner Meinung nach für ein Zusammenleben mit ihm unabdingbare Voraussetzung ist. Unter Stimmung versteht er die augenblickliche Liebe zu einem anderen Menschen; mit Gesinnung meint Theodor die Überzeugung, die von den Eindrücken des Augenblicks unabhängig ist. Er wirft ihr Trotz und Egoismus vor, mit denen sie auf seine Heftigkeit und Launen reagiert.

Storm setzt hier die Überlegungen fort, die er bereits um 1840 in Kiel in den Entwurf seines Briefes an die Sängerin Zerline Kirchheim notiert hat, in dem er ihr den Unterschied zwischen Verliebtsein und Liebe erläutern wollte. Hinter diesen Äußerungen, die Constanze überhaupt nicht verstehen konnte, verbirgt sich eine tiefe Angst Theodors, ihre Zuneigung zu verlieren. Regina Fasold hat diese geistige Haltung des jungen Storm während seiner Brautzeit analysiert und kommt zu dem Schluss: Storm, so wirkt es, fürchtete auf pathologische Weise den Zuwendungsverlust wie eine Vernichtungsbedrohung. […] Im Grunde benötigte er dauernde Spiegelungen durch ein empathisches Gegenüber. Es ist das, was er „die ahnende Vorsorge der Liebe“ (Brief 78, S. IV) nennt, die er nur zu häufig bei seiner Braut vermisste. Mehr noch, das Ziel seines Begehrens war eine symbiotische Beziehung, die psychische Inkorporierung des Partners, um letztlich über ihn verfügen zu können wie über einen eigenen, lebensnotwendigen Körperteil. Um dieses Ziel zu erreichen, drängte Theodor direkt nach ihrer heimlichen Verlobung darauf, sofort mit Constanze zu schlafen; ganz gewaltfrei geschah dies nach einer Äußerung Constanzes aber nicht.18

Im Liebesdialog der „Polterabendszene“ taucht diese Gewaltphantasie noch einmal auf: Sprich, bitte, sprich: es ist die Nachtigall! Die Geliebte will ihre Angst vor der gewalttätigen Elfenwelt durch beider Gleichklang der Seelen überwinden. In den gleichzeitig geschriebenen Briefen Storms spiegelt sich aber eine andere Erfahrung. So klagt er einmal: Dass wir doch in Allem, woran die Sinne Teil haben, so einer tierischen Notwendigkeit unterworfen bleiben! Dass sich unsre Leiber nicht in Liebe vereinigen können, ohne dadurch zugleich ein neues Wesen ins Leben zu rufen! ohne dass weder ich noch Du es wollen, ohne einen andern Gedanken zu haben, als uns selbst in Liebe vereinigen zu wollen. In allem, woran die Sinne Teil haben, sind wir unfrei, gefesselt, von etwas Anderm außer uns, — von den Naturgesetzen abhängig.

Diese Worte schrieb er nieder, als er in Husum viel Zeit mit den Töchtern der Familie Jensen verbrachte und mit Dorothea gemeinsam sang und lange Spaziergänge unternahm. Als Constanze während der langen Trennung von Theodor einmal von einem Traum erzählte, in dem sie Liebesgefühle empfunden hatte, plagten Theodor Alpträume, die von schlimmen Emotionen wie Angst und Panik begleitet waren.19 Wenige Tage, nachdem er ihr vorgeworfen hatte, einen ihrer Briefe nicht ordentlich mit der Papierschere beschnitten zuhaben, worin er ein äußerliches Zeichen einer inneren Nachlässigkeit seiner Braut ihm gegenüber erblicken wollte, schrieb er: Mir träumte, Du säßest hier an meinem kleinen Pult und beschnittst einen Brief an mich mit einer spitzen Nähschere. Ich trat hinter Dich und nahm Dir die Schere aus der Hand, mit der Frage, ob das die Papierschere sei, die Du Dir gekauft habest. Du fingst an zu weinen und sagtest, Du habest mir das gar nicht geschrieben. Ich brach die Schere in meiner Erbitterung auseinander und warf die beiden Stücke vor Dir auf den Tisch; dann kniete ich an den kleinen Schrank, um den Brief aufzusuchen, worin Du mir es geschrieben. Du aber schriest immer lauter und, was das merkwürdigste war, Dein Gesicht wurde dabei Helene Storm [Theodors Schwester] immer ähnlicher und mir immer unangenehmer, bis endlich, als Du am stärksten schriest und logst, vollkommen Helenens Kopf auf Deinem Rumpfe saß. — Hernach warst Du gestorben; aber ich hatte noch einen Jungen von Dir. Nun war es Weihnachten; ich schenkte ihm allerlei Spielwerk; aber der Junge hatte mir die Unwahrheit gesagt und wollte sie nicht eingestehn. Ich bot alle meine Liebe auf; aber der Junge schrie und heulte und blieb verstockt und trotzig, wie zu vor. Da kam das Weinen über mich, dass ich nun auf der Welt nichts mehr hätte, was mich liebte.

Der Zusammenhang dieser Traumerinnerung mit seinem Liebesleben und seinen Liebeserwartungen blieb Theodor offenbar verborgen. Seine Ängste wurden durch seine gleichzeitigen Beziehung zu Dorothea Jensen ausgelöst, denn er brach damit ja das Verlobungsversprechen, das er Constanze gegeben und auf das sie sich verlassen hatte, als sie zum ersten Mal miteinander schliefen. Was er nun seiner Braut etwas vorwarf, belastete  eigentlich nur ihn selber20: Ich komme eben von der hohlen Gasse; Jensen mit Frau und Töchtern haben dort mit gegessen; […] nun will ich Dir zur guten Nacht sagen, wie es mit einer Liebe beschaffen ist, welche nicht in der Überzeugung, sondern nur in der Stimmung beruht, eine solche Liebe sagt in der einen Stunde dem Geliebten mit dem reinsten echtesten Gefühle: ich bitte Dir allen Kummer ab, den ich Dir verursacht, ich will mich gern vor Dir demütigen, nur liebe mich! und in der andern Stunde verhärtet sie sich gegen den Geliebten um ein armes Wort, warum er mit allen Bitten seiner Liebe gebettelt hat, und obgleich sie weiß dass sie ihn in Kummer und Schmerz bringt, von Demuth ist nicht mehr die Rede; denn sie hat in einem vorübergehenden Augenblick wohl erkannt, dass die innige Liebe nicht ohne Demut bestehen könne; aber wenn es in der Tat gilt sie auszuüben, so hat sie nicht den Mut dazu. Das ist die Liebe die auf Stimmung beruht; sie ist heute aufopfernd, morgen egoistisch; heute demütig morgen hart und trotzig. Du batest mich neulich, meine Constanze, ich solle Dich zum Bessern führen; Du wollest mir willig folgen. Wenn Dein Herz nicht so kindlich rein wäre, so würde ich Deine Flecken nicht so sehr empfinden; aber ich liebe Dich so unbeschreiblich, dass ich solche Fehler an Dir als Schmerz, als eignen Schmerz fühle; glaub mir doch, meine Constanze, was mich unaufhörlich treibt zu sprechen und Dich zu bitten, sind nicht die kleinen reellen Unannehmlichkeiten, die ich dadurch empfinde; nein, das glaubst Du ja auch gewiss nicht; es ist weil es mein höchstes Glück ist, Dich gut und vollkommen zu wissen. Suche mein Gefühl nur ganz nachzuempfinden, so wirst Du gewiss milder und weicher gegen mich sein. Wenn aber auch nicht jetzt, so wirst Duʼs mit der Zeit doch werden; denn einmal musst Du es doch einsehen, dass ich nur zu Dir gesprochen, weil ich Dich so sehr geliebt. — Gute Nacht, meine geliebte Constanze.

 

In zeitlich engem Zusammenhang schrieb Storm ein Gedicht, mit dem er seine eigne Geschichte, also die aus der Eifersucht geborene Vision, Constanze könne sich ohne ihn auf einer Tanzveranstaltung vergnügen, poetisch gestaltet:

 

Hyazinthen21

Fern hallt Musik; doch hier ist stille Nacht,
Mit Schlummerduft anhauchen mich die Pflanzen.
Ich habe immer, immer dein gedacht;
Ich möchte schlafen, aber du musst tanzen.

Es hört nicht auf, es rast ohn Unterlass;
Die Kerzen brennen und die Geigen schreien,
Es teilen und es schließen sich die Reihen,
Und alle glühen; aber du bist blass.

Und du musst tanzen; fremde Arme schmiegen
Sich an dein Herz; o leide nicht Gewalt!
Ich seh dein weißes Kleid vorüberfliegen
Und deine leichte, zärtliche Gestalt. – –

Und süßer strömend quillt der Duft der Nacht
Und träumerischer aus dem Kelch der Pflanzen.
Ich habe immer, immer dein gedacht;
Ich möchte schlafen, aber du musst tanzen.

 

„Hyazinthen“ gilt als eines der besten Gedichte Storms;22 Thomas Mann lässt es Tonio Kröger als ein wunderschönes Gedicht empfinden und ordnet es in seinem Storm-Essay23 mit seiner vornehmen Zärtlichkeit, seiner cellomäßig gezogenen Fülle von Empfindung, Schwermut, Liebesmüdigkeit“ dem „Höchsten und Reinsten“ zu, was Gefühl und Sprache hervorgebracht haben, und vollkommenen Unsterblichkeitscharakter besitzt. Erlebtes, Erinnertes, Gegenwart und Vergangenheit werden miteinander zu einem vollkommenen Gebilde verwoben. Die Stimmung einer eifersüchtigen Melancholie entfaltet sich getrennt vom Ort des Tanzes, beachtet man den biographischen Hintergrund, in verdichteter Weise: die räumliche Entfernung (Husum – Segeberg) ist so weit reduziert, dass das lyrische Ich die Musik tatsächlich wahrnehmen kann, und von der Geliebten wird jeder Vorwurf ferngehalten.24 Der Vorgang wird nicht eigentlich erzählt; die Gefühle des lyrischen Ichs, das schlafen möchte, stehen im Vordergrund. Die Hyazinthen des Titels werden im Gedicht nicht mehr erwähnt, aber ihr betörender Duft wird durch die heftigen Verben rasen, brennen, schreien und glühen in der zweiten Strophe in einen auffälligen Kontrast zur Weichheit des Sentiments gesetzt.

Storm orientiert sich formal an klassischen Prinzipien, indem er vierzeilige Strophen aus fünfhebigen Jamben bildet, aber der eigentliche Kunstcharakter zeigt sich erst beim wiederholten Lesen der Verse, deren Liedcharakter und hohe Musikalität bereits Thomas Mann aufgefallen sind. Das konventionelle metrische Bauschema, das der Klanggestalt des Gedichts zugrunde liegt, wird mit einer großen Souveränität ausgeführt. Aber die Tradition des antiken Verses allein ist es nicht, die diesen Text aus der großen Zahl ähnlicher Gebilde der Storm-Zeit heraushebt.

Die Eigenheit des metrischen Systems der deutschen Sprache wird von der Prosodie bestimmt, d. h. von den Betonungsregeln und insbesondere der Klassifizierung von Silben; im Unterschied zur quantitierenden Metrik der Antike, die zwischen langen und kurzen Silben unterscheidet, akzentuiert die deutsche Sprache und unterscheidet zwischen betonten und unbetonten Silben. Die von Storm noch häufig verwendeten festen Versmaße und traditionellen Formen werden im gesprochenen Text vom Rhythmus überlagert, der auch die Rede in der Zeit gliedert. In der Lyrik, vor allem im liedhaften Gedicht, wird eine Sprachbewegung erzeugt, die aus der Spannung zwischen den vorgegebenen metrischen Schemata und ihrer sprachlichen Erfüllung entsteht. Texte, bei denen das Metrum den Rhythmus dominiert, wirken spannungslos, was sich bei vielen epigonalen Gedichten der Storm-Zeit beobachten lässt.

Da die antiken Silben-Maß-Grundlagen von Quantität und Zahl in der deutschen Sprache gar nicht nachgeahmt werden können, muss Storm eine davon abweichende Akzentuierung vornehmen, und dies gelingt ihm durch eine besondere rhythmische Struktur: Alles, was da bewegend hörbar wird, entfaltet sich eigengesetzlich oberhalb des metrischen Grundrisses, ohne dass sich uns einstweilen ein tieferer Zusammenhang als der äußerliche der Rahmung zeigt. Es ist, als ob der junge Dichter, indem er sein leidenschaftliches Gebilde dem überkommenen Formgut entwachsen ließ, damit vor seinem Bewusstsein genug getan hätte: nun konnte es sich um so ungestörter in nach innen gewendeter Musikalität und Traumvollkommenheit ausformen.25

Storm ermöglicht uns einen dreifachen Zugang zu seinem Text. Auf der syntaktisch-semantischen Ebene wird uns der Gehalt des Gedichts bewusst, wenn wir die Worte wie eine bloße Mitteilungsprosa lesen. Ergänzt durch biographische Daten, die uns die Storm-Forschung liefert, erlaubt dies Einblicke in die seelische Verfassung Storms und in den Stimmungskontext, der für ihn bei der Niederschrift des Gedichts bedeutsam war. Die Vermittlung eines solchen Wissens kann aber nicht der eigentliche Zweck der Dichtung sein. Storm hat dies in seinem Vorwort zu seinem „Hausbuch aus deutschen Dichter seit Claudius“ folgendermaßen ausgedrückt:26 Der bedeutendste Gedankengehalt aber, und sei er in den wohlgebautesten Versen eingeschlossen, hat in der Poesie keine Berechtigung und wird als toter Schatz am Wege liegen bleiben, wenn er nicht zuvor durch das Gemüt und die Phantasie des Dichters seinen Weg genommen und dort Wärme und Farbe und wo möglich körperliche Gestalt gewonnen hat. – An solchen toten Schätzen sind wir überreich. Diese Wirkung wird durch die Poesie, genauer durch das Künstlerische an einem Gedicht ermöglicht; Storm führt weiter aus: Von einem Kunstwerk will ich, wie vom Leben, unmittelbar und nicht erst durch die Vermittlung des Denkens berührt werden […].

Die Empfindung muss die Grundlage des künstlerischen Erlebens bilden und die geistige Wirkung darf nicht auf eine bloße Erkenntnis reduziert werden. Storm weist der Poesie eine besondere Stellung in der Kunst zu: Musik kann man hören und empfinden, Werke der bildenden Kunst laden zum Schauen und Empfinden ein; die Poesie soll alles Drei zugleich. Wie wird dies möglich? Die metrische Struktur, die dem syntaktischen Gefüge im Gedicht eine neue Prägung aufzwingt, bildet nur die Form, deren Gehalt sich erst im Lesen des Gedichts enthüllt. So wie das Lied gesungen werden muss, um das ihm Eigentümliche seiner Musikalität in Erscheinung zu bringen, so verlangt das liedhafte Gedicht nach einem Vortrag, damit es seine poetische Wirkung auf den Hörer entfalten kann. Im Akt des Sprechens werden die Worte vom konventionellen syntaktischen und vom starren metrischen Gefüge losgelöst und in gewisser Weise in die Schwebe gebracht; der Text berührt uns unmittelbar sinnlich, kann uns atemlos, ja sprachlos machen; danach kann er uns in besonderer Weise auch geistig ansprechen.

Auf das erstere kam es Storm an; in seinem Vorwort zum „Hausbuch“ schreibt er (LL 4, S. 394): die Worte müssen auch durch die rhythmische Bewegung und die Klangfarbe des Verses gleichsam in Musik gesetzt und solcherweise wieder in die Empfindung aufgelöst sein, aus der sie entsprungen sind; in seiner Wirkung soll das lyrische Gedicht dem Leser ‒ man gestatte den Ausdruck ‒ zugleich eine Offenbarung und Erlösung, oder mindestens eine Genugtuung gewähren, die er sich selbst nicht hätte geben können, sei es nun, dass es unsre Anschauung und Empfindung in ungeahnter Weise erweitert und in die Tiefe führt, oder, was halb bewusst in Duft und Dämmer in uns lag, in überraschender Klarheit erscheinen lässt.

Genau diesen Forderungen entspricht Hyazinthen in besonderer Weise; es ist nicht nur aus einer kritischen Wendung gegen die formal korrekte konventionelle Lyrik Bürgers entstanden, die es mit angeregt hat. Es ist zugleich auch eines der vollendeten lyrischen Gedichte Storms und erfüllt in musterhafter Weise die erst später vom Dichter allmählich formulierten dichtungstheoretischen Ansprüche. Storm hat seine Verse meisterhaft durchgeformt und so die einförmige Konventionalität des Versbaus durch vielfältige klangliche Modifikationen der Akzentuierung variiert.27 Die eigentümliche Faszination, die es ausstrahlt weist aber auch, seiner geheimnisvollen Instrumentation wegen, voraus auf Gedichte, die drei, vier Jahrzehnte später geschrieben wurden: von den symbolischen Lyrikern des Fin de siècle.28

 

Constanze Esmarch, Daguerreotypie von 1854

  

Anmerkungen


1 Brautbriefe Bd. 2, S, 167; dieses und die folgenden Zitate aus dem Briefwechsel mit Band und Seitenangaben.

2Jürgen Niklaas Bärmann: Dat grote Höög- un Häwel-Book. Dat sünd Dichteis, Rymels un Burenspillen in hamborger plattdüüdscher Mundart, Hamborg: Hoffmann un Campe 1827, S. 235; zit. nach dem Kommentar von Regina Falsold zu den Brautbriefen, Bd. 2, Anm. S. 478f.

3 Regina Fasold im Kommentar der Brautbriefe 1, S, 257.

4 Regina Fasold im Vorwort der Brautbriefe 1, S. 15f.

5 Brautbriefe Bd. 2, S. 186

6 Handschrift in Storms Handexemplar von LdF; hier nach LL1, 245-247.

7 Keine Handschrift bekannt; Erstdruck mit der Überschrift „Zur silbernen Hochzeit. Aus einem Festzuge“ in „Gedichte“, Berlin 2. Auflage 1856, S. 165-168; LL1, 120-121. Im Brief an seine Braut hat Storm die Szenenfolge skizziert: Nach dieser Scene erscheint: Genius der Zeit (Helene ‹Esmarch›)/ (Der Hintergrund schließt sich)/ Darauf erscheint der Festzug geführt von Amor. (Wille Sommer)/ Danach kommen:/ Zwei Kinder vom Haus (Lolo ‹Esmarch›, Sophie ‹Esmarch›)/ Asmodi der Ehteufel. (weiß noch nicht)/ Ein Bettelkind (Lotte ‹Esmarch›)/ Der Bettelvogt (Herrmann ‹Esmarch›)/ Der Narr (Ernst ‹Esmarch›)/ Dann noch einige noch nicht erfundne; zuletzt/ Die Hexe. (weiß noch nicht)/ Die Verse für den Amor, der wie die Hexe, von keinem Hauskinde gemacht werden darf, bringst […]. Brief vom 1. Februar 1846 ohne Schluss; Band 2, S. 189.

8 Brautbriefe 2, S. 162.

9 Brautbriefe 2, S. 168.

10 Brautbriefe 2, S. 187f.

11 Dieter Lohmeier im Kommentar, LL1, S. 965.

12 West-östlicher Divan. Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand. Fünfter Band. Stuttgart 1827.

13 Karl Ernst Laage: „Sommernacht“ – ein frühes Gedicht Theodor Storms. In: Laage 2017, S. 29-35; hier S. 32.

14 Gedichte von Joseph Freiherrn von Eichendorff. Berlin 1837, S. 109.

15 Maler Nolten. Novelle in zwei Theilen. Band I. Stuttgart 1832, S. 148ff; hier S. 166f.

16 Brautbriefe 2, S. 183.

17 Brautbriefe 2, S. 182.

18 Brautbriefe 2, S. 157.

19 Brautbriefe 2, S. 178

20 Brautbriefe 2, S. 161

21 Entstanden 1846; hier nach LL 1, S. 23.

22 Ackermann 1965, S. 26-39.

23 Mann 1996, S. 17ff.

24 Dieter Lohmeier in seinem Kommentar in LL 1, S. 776.

25 Ackermann 1965, S. 31.

26 Theodor Strom: Vorwort zum Hausbuch aus deutschen Dichtern, S. IX. Vergleiche die detaillierte Analyse von Storms Lyrikkonzept bei Petersen 2015.

27 Eine Analyse der metrischen und rhythmischen Struktur entfaltet Friedrich Ackermann.

28 Hans Bender: Liebesmüdigkeit. In: Frankfurter Anthologie (FAZ vom 12.4.1980).