Warum nur meine Schwester? ‒ „Celeste“, eine erotische Knabenfantasie

 

Noch vor der Begegnung mit Bertha, also im Sommer oder Herbst 1836, entstand Storms erste längere Erzählung Celeste. Diese frühe Prosaarbeit ist eine Liebesgeschichte, die durch einen Erzählrahmen als bloßer Traum erkennbar wird. Die Erzählsituation entspringt der damaligen Seelenverfassung des Primaners in Lübeck, der sich nach Zuneigung und Liebe sehnte.

 

Celeste, eine Phantasie1

                                                      Ich überlasse mich, o Feder deinen Grillen!
                                                      Bürger

 

Weit hinaus auf dem Meere schwammen die dunkeln Trümmer unseres Schiffes, im rötlichen Abendscheine, den die purpurne Sonne scheidend ausgoss über die beruhigten Wogen. Fabelhafte Blumen streckten ihre Blätter und Blüten aus der Tiefe des Meeres und hauchten süße Wohlgerüche gegen die Küste, gewiegt auf den kristallnen Wassern, die über bunte Muscheln und funkelnde Steine murmelnd an den goldfarbigen Sand heraufrauschten.

Immer abendlicher ward es; ein lauer, leichter Hauch kräuselte die Fluten des Meers, und Phöbus sank in die weichen Arme der Thetis. –

Ich stand am Meere und schaute ernst hinaus; neben mir stand Celeste, und ihre rosigen Wangen waren bleich geworden wie die Blätter der Lilie. Denn jenseit des dunkeln, unermesslichen Meeres lag unsre Heimat, unsre freundliche Heimat; aber die treulosen Wellen hatten die schwankende Brücke zerschellt und führten die Trümmer weit und weiter hinweg in verschwimmende Ferne, wo sie unsern Augen entschwanden, wie die süßgehegten Hoffnungen unsrer Seele. – Und wie wir so standen und schauten, flossen die blauen Abendnebel um uns her und legten sich über die schläfrigen Wasser; langsamer rieselten die Wellen herauf, und wenn sie züchtig Celestens zarten Fuß geküsst, rollten sie träumend, wie berauscht in ihr weites Bette zurück. –

Celeste und ich: wir waren allein auf dieser blühenden Insel, abgeschlossen von allen übrigen Menschen der Erde durch die weiten Arme des ewigen Meers. „Celeste“, sprach ich, und erfasste ihre Hand, „weit hinter den grauen Rätseln dieses Meeres, weit, weit, liegt unsre Heimat. Willst du mir ganz vertrauen, Celeste? – Celeste, willst du meine Schwester sein?“ So sprach mein Mund; aber mein Herz sprach: „Celeste, Celeste, sei mein Weib!“ Das schöne Mädchen strich sich die braunen Flechten von der verengten Stirne, und die blauen Sterne ihrer Augen ruhten forschend in meinen Blicken. „Deine Schwester sein?“ sprach sie; und eine Träne stahl sich durch die dunkle Wimper. Dann mit ihrer kleinen Hand die hervorquellenden Tränen zerdrückend, legte sie ihren Arm in den meinigen; und sprach mit dem Ausdrucke des heiligsten Vertrauens: „Lass uns zurückgehn; es wird schon spät, mein guter Bruder!“ –

Schweigend gingen wir nach der Grotte zurück. Um uns her schwirrten die bunten Dämmerungsfalter, schwärmend von Blume zu Blume, und berauschten sich im süßen Duft der Blütenkelche; goldbeschwingte Vögel rauschten heimlich durch die blühenden Büsche und suchten ihr süßverstecktes Nest; durch die Wipfel der hohen Platanen flüsterte der leichte Abendwind, und märchenhaft im Lichte des Mondes bewegten sich die zitternden Blätter. –

In der engen Mündung der Grotte hatte ich das Ende einer Schiffsplanke eingepresst, so dass sie beinahe die Öffnung verschloss; weiches Moos hatte ich reichlich über den kühlen Felsen gebreitet. Ich bat Celeste: „Lege dich schlafen; gewiss, du bist müde, meine gute Schwester!“ Celeste schwieg; aber ich fühlte die Tränen auf meine Hand herabfallen. – Wer war die Mutter dieser Tränen? – – Celeste war allein, ganz allein mit mir; um uns her war dunkle Nacht. Mich entzückten diese jungfräulichen Tränen; und ich bat dringender: „Celeste, lege dich schlafen; dein Bruder wird für dich wachen!“ Und das schüchterne Mädchen reichte mir die Hand, und legte sich schweigend auf die weiche Moosdecke. Ich setzte mich zu ihren Füßen, und von außen herein nickten duftende Geißblattranken ein träumerisches Gute Nacht. – „Gute Nacht“ sprach Celeste, und schlief ein. –

Ich vermochte es nicht; ich wachte über meine Schwester, und horchte den leisen Atemzügen ihres Mundes. – „Meine Schwester?“ dachte ich, „ach Celeste, warum nur meine Schwester? Aber, bin ich ihrer zarten Jungfräulichkeit diesen Namen nicht schuldig, so lange wir dies einsame Eiland bewohnen? Doch Celeste liebt dich! – Liebt sie dich nicht? – Was bedeutete denn ihr tränenfeuchtes Auge, als du sie Schwester nanntest! – Ach Celeste, wenn du mich liebtest!“ – – Da hörte ich meinen Namen stammeln. – Sie träumte von mir. –

Da rauschte es außen durch die Büsche. Was war das? – Mein Blut erstarrte. Das war das eintönige Geheul der Hyänen; und immer näher kam es der kleinen Grotte, die mich und meinen Himmel umschloss. Ich setzte mich näher an Celestens Seite und beugte mich schützend über sie. Immer lauter schlug das fürchterliche Geheul an mein entsetztes Ohr, meine Pulse stockten vor unnennbarer Angst. Da fuhr Celeste empor aus dem süßen Schlummer; und horchte lautlos mit verhaltenem Atem. „Was ist das? Das sind reißende Tiere!“ flüsterte sie in entsetzlicher Angst, und umklammerte mich mit beiden Armen, dass ich den Schlag ihres Herzens an meiner Brust fühlte. Ich überwand meine eigne Besorgnis, und suchte das zitternde Mädchen zu beruhigen. „Fürchte nichts, Celeste“, sprach ich, „die Grotte ist sicher für die Nacht, und sobald der Tag anbricht, nehme ich meine Büchse und ziehe aus gegen diese Unholde. – Hörst du, mein süßes Mädchen! Sie sollen dich gewiss nicht wieder in deinen Träumen stören.“ Aber Celeste schloss mich heftiger in die Arme: „Nein, nein!“ rief sie und ihre Tränen brachen aufs neue hervor, „du darfst nicht weg von mir. Die schrecklichen Tiere würden dich zerreißen, und deine arme Celeste stürbe vor Angst und Gram!“ –

Das Geschrei der Hyänen hatte sich nach und nach verloren – Celeste hielt mich noch immer so fest in ihren Armen, dass der Hauch ihres Mundes über meine glühenden Wangen strömte. Ich hatte die Hyänen schon lange vergessen, und fing auch an, meine Schwester zu vergessen. – Meine Brust empörte sich, mein Blut stürmte durch die Adern; ich kämpfte zwischen Himmel und Hölle. „Celeste, Celeste!“ rief ich und – erwachte.

–––

Ich war in meinem Lehnstuhl eingeschlafen; das Licht war tief herunter gebrannt, und vor meinem Fenster tobten Nacht und Sturm. – Ich hatte wieder einmal geträumt. –

–––

 

Storm gibt selbst durch das Motto einen Hinweis auf seine Quelle, Bürgers Versepos „Die Königin von Golkonde“, dessen erste Zeile er seiner Erzählung voranstellt. Bürger dichtete seine Verse nach der Prosaerzählung: „Aline, reine de Golkonde“ (1761) des französischen Dichters Stanislas Chevalier de Boufflers (1738-1815) und erzählt in Ich-Form von den galanten Erlebnissen eines jungen Edelmannes, der bei einer Jagd in einer abgelegenen Gegend Halt macht und dort einem Bauernmädchen namens Aline begegnet. In einer spontanen Liebessituation verführt und schwängert der Jüngling das Mädchen, verlässt und vergisst es schon bald, wird aber nach einigen Jahren an das Erlebnis erinnert, als er Aline als reiche Kurtisane in Paris wiedersieht. Weitere fünfzehn Jahre später treffen die beiden erneut zusammen, diesmal in Ostindien, wo der nunmehr zum General der französischen Kolonialarmee aufgestiegene Erzähler Aline noch einmal begegnet, die nach dem Tod ihres Mannes bei einer Reise zunächst in Sklaverei geraten, dann aber vom König von Golkonde zur Geliebten erkoren wurde. In einer von ihr nachgebauten dörflichen Landschaft erleben beide die Begegnung ihrer Jugend noch einmal. Der Erzähler muss nach dem zweiten Schäferstündchen fliehen, verliert, nach Paris zurückgekehrt, sein Vermögen und trifft im Alter erneut mit Aline zusammen, die in einer Wüstenoase beider Alterswohnsitz vorbereitet hat. Das Epos endet mit der Einsicht des Erzählers, dass er sein Glück bisher vergebens gesucht hat: Ich fand es erst am Abend meines Lebens.

 

Gottfried August Bürger, Kupferstich von Georg Franz Jaquemot

 

Diese späte Nachdichtung gehört nicht zu den bedeutenden Werken Bürgers; August Wilhelm Schlegel hat sie als witzig bezeichnet und als Versuch gelesen, Wielands Manier mit der seinigen zu vereinbaren (S. 524); sie hat jedenfalls auf den jungen Storm wegen der unverschlüsselten Darstellung von Liebe und Sexualität eine große Wirkung gehabt. Bürger gestaltet das Liebeserlebnis in einem Rokokogarten, in dem das unverbindliche erotische Spiel in einer verniedlichten Umgebung stattfindet; dieser Garten wird sogar Jahre später in Indien nachgebaut. Und die Kopie erfüllt ihre Funktion wie das Original beim ersten Mal. Das folgende Zitat gibt nur einen kleinen Ausschnitt des ausufernden Epos wieder.2

 

Gottfried August Bürger: Die Königin von Golkonde. Nach Boufflers Prose.

 

Ich überlasse mich, o Feder, deinen Grillen.
Mein Genius hat sonst wohl dich regiert;
Heut sei von dir mein Genius geführt.
Gebiete deinem Herrn! Er fügt sich deinem Willen.

 

[...]

Ich trat das Lebensalter an,
In welchem die Natur den Jüngling ausgestaltet,
Worin dem kaum vollendeten Organ
Sich eine neue Welt entfaltet:
Das Alter, da des Erdenpilgers Bahn
Allmählich sich zu einer Höh’ erhebet,
Auf welcher, frei von seiner Kindheit Star,
Das Auge voll Begier hinaus in’s Weite strebet,
Und was es nicht erreicht, die Phantasie erschwebet!
Mit einem Wort, ich zählte sechzehn Jahr.
Ich saß, entfernt von meines Mentors Blicken,
Auf eines raschen Kleppers Rücken,
Und kommandiert’ als Feld- – nein! Waldherr – eine Schaar
Von zwanzig wohlgeübten Hunden,
Auf einen Keiler losgebunden.
Man denke sich, wie hochbeglückt ich war!
Nach einem Kampfe von drei Stunden
War uns das Wild, ich weiß nicht wie, verschwunden.
Die Jagd war aus; ich sprengte hin und her;
Umsonst! Da war kein Keiler mehr.
Ich überließ hierauf das Weitre meinen Hunden,
Und, wie mein Klepper, endlich lass,
Stieg ich herab; wir wälzten uns im Gras;
Das Klepperchen fing an zu grasen,
Und ich entschlief auf einem weichen Rasen.

Der Hunger weckte mich; ich aß,
Bedacht auf neue Jägertaten,
Ein Stückchen Brot und kalten Rebhuhn-Braten.
Das holde Plätzchen, wo ich saß,
War ein geheimes Thal, gebildet von zwei Höhen,
Bekränzt mit Birken und mit Schlehen.
Durch eine Lücke stellte sich,
An eines Hügels sanftem Hange,
Ein Dörfchen dar. Von diesem trennte mich,
Weit ausgedehnt in’s Breite wie in’s Lange,
Ein anmutsvoller Landesstrich,
Bedeckt mit Gärten und mit Saaten,
Die freundlich meinen Blick sie zu bemerken baten.

Die Luft war rein, der Himmel blau;
Die Bächlein flossen still und heiter;
Es glänzten Blumen, Gras und Kräuter
Noch von Aurorens Perlentau.
Die Sonne, kaum ein wenig weiter,
Als durch ein Viertel ihrer Bahn,
Ließ auch auf schattenlosem Plan
Ihr Strahlenlicht, gemildert von Zephyren,
Die lebende Natur nur noch zur Wollust spüren. –

Wo sind denn nun die Freunde der Natur,
Die einen Frühlingstag, ein Paradies zu sehen,
Und Sinn und Herz daran zu laben recht verstehen?
Denn ihretwegen mahl’ ich nur.
Mich selber reizte diese Scene
Weit weniger, als eine Bauerschöne,
In weißem Wams und Rock; ein allerliebstes Ding,
Das muntern Schrittes dort, mit einem blanken Topfe
Voll frischer Mild auf seinem Kopfe,
Vermutlich seinen Weg zum nächsten Städtchen ging.
„Ach, falle nicht! – war plötzlich mein Gedanke,
Als sie, bestimmt durch ihren Pfad,
 

Die allzu schmale Brückenplanke
Quer über einen Bach betrat; –
Und wenn du musst, so falle lieber,
Wann du erst unversehrt herüber
Und hier auf meinem Rasen bist,
Der trockner und auch weicher ist.“
Der Schritt gelang. Bald sah ich mit Entzücken,
Dass sie den Weg nach meiner Gegend nahm.
Je näher sie herangeschritten kam,
Je näher schien sie mir an’s Herz zu rücken.
Unkundig dass, was mir geschehn,
Sprang ich empor, entgegen ihr zu gehn;
Und immer reizender erschien sie meinen Blicken.
So zart, so wohlgebaut, so frisch, so rosenschön
Hat Zeus auf Erden Nichts, im Himmel Nichts gesehn.
Um ein Gespräch mit ihr nach Würden zu beginnen,
Wusst’ ich sogleich auf Nichts mich zu besinnen.
So voll das Herz mir war, so leer fühlt’ ich den Kopf.
Jen’s glich dem Trunkenbold, und dieser war ein Tropf;
Und beide wissen nicht besonders viel zu sagen.
Ins Mittel trat da noch Freund Magen;
Doch adressierte der sich nur an ihren Topf,
Und bat, ihm einen Trunk daraus nicht abzuschlagen.
Sie bot ihn mir mit einer Anmut dar,
Der sie allein nur fähig war.
Dann fuhr ich fort, sie noch mit zwei, drei Fragen
Nach Namen, Alter, Dorf, und solcherlei, zu plagen;
Und jedes Wort, das ich darauf vernahm,
War wert, dass es aus ihrem Munde kam.

Sie war vom nächsten Dorf; ihr Name hieß Aline.
„Ach! sprach ich, liebe süße Line,
Ich möchte wohl dein Bruder sein!“ –
Nicht dies gerade wollt’ ich sagen. –
„Und Ihre Schwester ich!“ fiel sie mit Wohlbehagen
Voll allerliebster Unschuld drein. –
„Doch lieb’ ich dich, bei meiner Ehre,
Nicht weniger, als ob ich’s wirklich wäre“,
Erwidert’ ich, indem ich sie umschlang.
Alinchen setzte sich zur Wehre,
Und als sie mir entgegen rang,
Fiel ach! ihr Topf; – die Milch floss auf die Erde.
Welch Missgeschick! – Sie weinte bitterlich;
Riss dann, mit zürnender Gebärde,
Voll Ungestüm, aus meinen Armen sich;
Rafft’ ihren Topf auf von der Erde,
Und wollte fliehn. „Ach, wär’ ich erst zu Haus!“
Rief sie voll Angst, glitt auf der Milchstraß’ aus,
Und fiel, so lang sie war, zu Boden auf den Rücken.
Ich flog, ihr beizustehn, doch wollte mir’s nicht glücken.
Denn einer stärkern Macht, als ich,
Gelang es bald, sogar auch mich
In ihren Fall mit zu verstricken. –
Man weiß, ich zählte sechzehn Jahr,
Und funfzehn Jahre war Aline.
Die Alter und dies Plätzchen war
Das rechte, wo am liebsten seine Mine
Der Gott der Liebe springen lässt. –
Aline trübte zwar durch Tränen erst sein Fest;
Bald aber wich der Schmerz der Wonne,
Und lieblich durch’s Gewölk der Tränen brach die Sonne. –

Storm übernimmt das Motiv der beiden Liebenden, die sich bei Bürger vor der Vereinigung ebenfalls mit Bruder und Schwester anreden, verändert es aber grundlegend, indem er aus der spielerisch-galanten erotischen Episode ein ernst gemeintes Spannungsgefüge zwischen Seelenliebe und Sexualität konstruiert, das ähnlich wie später in seiner Novelle „Immensee“ zu keiner Erfüllung gelangt. Das Geschehen wird auf eine einsame exotische Insel verlegt, auf der der Erzähler mit seiner Celeste ganz allein ist und zu ihrem Schutz eine Grotte zu einem Liebesnest ausgestaltet hat. Ihn hindern aber moralische Bedenken und die Scheu vor der Jungfräulichkeit des Mädchens, den Liebesakt zu vollziehen.

Storm übernimmt nicht die ironische Distanz, mit der Bürger das äußerst unwahrscheinliche Geschehen in seinem Versepos schildert und die das Unglaubwürdige des Erzählten als deutlich erkennbare Erzählerfiktion erst erträglich macht. Das unaufhebbare Spannungsgefüge zwischen Hölle und Seligkeit, um das es Storm geht, hat Bürger in seiner volkstümlichen Wiedergänger-Ballade „Lenore“ gestaltet, die Storm bereits als Schüler in Husum gelesen hat. In seiner Erzählung wird es aus seinem christlichen Kontext herausgenommen und in einen Seelenzustand transformiert; der Kampf zwischen Gut und Böse, der sich in der abendländischen Tradition als Überwindung des Todes durch Christi Auferstehung manifestiert, wird zur bloßen menschlichen Kategorie, zur intimen Angelegenheit zweier Liebender.

Im Gegensatz zu Bürgers Behandlung des Stoffs, die auch den Schmerz des Mädchens vor dem Verlust des Geliebten andeutet, steht beim jungen Storm die Angst vor der Gewalt der Sinnlichkeit im Mittelpunkt der Erzählung. Sie bestimmt das Verhalten des Ich-Erzählers und wird in dem Bild der wilden Hyänen gespiegelt, die das Leben des hilflosen Mädchens gefährden, so wie sich der Erzähler als derjenige erfährt, der die Unschuld des Mädchens bedroht. In einer indirekten Kommunikation wird dieses Spannungsgefüge durch die Begriffe Bruder und Schwester ausgesprochen; die inneren Vorgänge des Mädchens werden durch ihre Tränen und ihre körperliche Nähe erkennbar, während der Erzähler die Gefühle des jungen Mannes in einem inneren Monolog thematisiert. Die Darstellung des Mädchens entspricht den späteren Frauengestalten Storms, die sich in ihrer ganzen Unschuld völlig dem geliebten Mann ergeben. Sie ist unrealistisch, weil sie nicht auf einer eigenen Lebenserfahrung Storms beruht, sondern nur erotischen Wünschen Ausdruck gibt. Als das Mädchen sich aus Angst vor der drohenden Gefahr durch die wilden Tiere ganz in seinen Schutz ergibt, beginnt er seine Scheu in einem Kampf zwischen Himmel und Hölle zu überwinden. Der junge Mann entspricht in seiner zögerlichen Haltung Reinhardt in „Immensee“; im Gegensatz zu dieser späteren Novelle überwindet er seine Scheu, aber gerade als er zur Tat schreiten will, bricht der Erzähler die Szene ab und desillusioniert den Leser durch die Eröffnung, dass es sich nur um einen Traum gehandelt hat. 

Die Motive des Schiffbruchs und der schützenden Höhle, die durch eine Schiffsplanke gesichert wird, hat Storm aus der Tradition der Robinsonaden entnommen. Die Einsamkeit des Helden, der sich von allen Menschen verlassen fühlt und vergeblich gegen seine Isolierung ankämpft, hat ihn damals sehr bewegt. Offenbar begleitete ihn dieses Gefühl nach dem Weggang aus dem Elternhaus. Gut zwei Jahrzehnte später wird Storm diesen Gedanken in seiner Erzählung Am Kamin aussprechen: Wenn wir uns recht besinnen, so lebt doch die Menschenkreatur, jede für sich, in fürchterlicher Einsamkeit; ein verlorener Punkt in dem unermessenen und unverstandenen Raum. Wir vergessen es; aber mitunter dem Unbegreiflichen und Ungeheuren gegenüber befällt uns plötzlich das Gefühl davon; und das, dächte ich, wäre etwas von dem, was wir Grauen zu nennen pflegen.3

Dem Grauen entkommen kann Storms jugendlicher Held aber nur, indem er zu einem anderen Menschen findet, den er begehrt und von dem er wiedergeliebt wird. Genau das thematisiert er in seiner Erzählung „Celeste“.

Die Naturbilder zeigen den poetischen Gestaltungswillen ihres Verfassers, dem es aber noch nicht gelingt, ein harmonisches Maß in seiner übertriebenen Schilderung zu finden. Die üppige Natur wird mit derselben Emphase beschrieben wie der Seelenzustand der beiden Liebenden. Der Erzähler bindet das Begehren des jungen Mannes in einen natürlichen Kontext ein, in dem goldbeschwingte Vögel heimlich durch die blühenden Büsche rauschen und ihr süßverstecktes Nest suchen; die ganze Umwelt ist ein großer Liebesgarten, in dem sogar aus dem Wasser Blumen emporsteigen, nachdem sich Sonne und Meer symbolisch vermählt haben. Durch diese Einbettung der beiden Menschenkinder in einen überaus fruchtbaren Kosmos erscheint die Aussage des Jünglings mein Blut stürmte durch die Adern als Empörung gegen eine als widernatürlich empfundene Selbstbeschränkung, die in seinem inneren Kampf gegen die Scheu vor dem Liebesakt gipfelt. Die bürgerlichen Moralvorstellungen stehen im Widerspruch zum natürlichen menschlichen Empfinden. Aber Storm vermag es noch nicht, den Konflikt mit literarischen Mitteln zu lösen; dies passt zu seiner eigenen seelischen Verfassung in dieser Zeit. Sein unstillbares Liebessehnen schreckt vor der Überschreitung der Grenze des Schicklichen zurück; die Achtung vor der Jungfräulichkeit des Mädchens kann aber auch als Furcht vor der Sinnlichkeit Celestes gedeutet werden, die den Ich-Erzähler zugleich anzieht und als lebensbedrohende Gefahr erscheint, eine Situation, die für beide in der Angst vor den wilden Tieren sinnlich erfahrbar wird.

Storms erster Prosatext ist im poetisch gehobenen Stil des Biedermeier verfasst und reiht sich in die Nachahmung von lyrischen Vorbildern des späten 18. Jahrhunderts ein. Aber der Text zeigt, dass der junge Dichter die erotische Konvention des Rokoko durchbricht, indem er nach ihrer Verwirklichung verlangt und damit das nachvollzieht, was die Autoren des Sturm und Drang in den 1770er Jahren vorbereitet haben. Genau wie den Gedichten Träumerei und Geistesgruß fehlt es dem Autor zu diesem Zeitpunkt aber noch an eigener Liebeserfahrung.

 

 

Kolorierter Kupferstich nach Claude J. Vernet (1714 - 1789), Storm-Haus, Husum

 

Zur Schilderung des Schiffsbruchs am Anfang der Skizze hat sich Storm durch einen Kupferstich anregen lassen, den Großvater Simon Woldsen von einer Frankreichreise mitgebracht hatte; er hing mit einem zweiten im Elternhaus Storms, Hohle Gasse 3 in der oberen Etage.

 

 

 Anmerkungen


1 Handschrift in der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek Kiel; hier nach LL 4, S. 266-268.

2 Nach dem Abdruck bei Bürger 1835, S. 104f.

3 „Am Kamin“, LL 4, S. 77.