Ein Tanz mit Geistern ist kein Spaß ‒ Ostern 1837

 

Mit einer freiwilligen Prüfungsarbeit schloss Storm im Frühjahr 1837 seine Schulzeit ab1. Er hatte als Primaner in Lübeck nicht nur die bedeutenden Werke von Goethe, Bürger, Heine und Eichendorff gelesen, sondern auch am aktuellen literarischen Leben teilgenommen. Er hatte Gedichte geschrieben, über die er sich später in ähnlich negativer Weise wie über seine Schulzeit außerte2: Ich hatte schon in Husum Verse gemacht; dann in etwas andrer Weise in Lübeck, dann auf der Universität; aber alles war ohne tieferen Inhalt; und meine Freunde Ferdinand Röse in Lübeck und Theodor Mommsen auf der Kieler Universität unterzogen sie einer vernichtenden Kritik; sie dachten freilich nicht daran, dass ich ein spät sich entwickelnder Mensch und dass dies alles noch ein Flügelprüfen war. Fertig wurde meine Lyrik erst, als mein Leben einen selbstständigen Inhalt gewonnen hatte, und als ich als junger Advokat überall für mich selber einstehen musste.

In Lübeck entstand ein Gedicht, in dem Storm seinem Heimweh Ausdruck verleiht und sich noch immer der traditionellen Sprache der gängigen Trink- und Wanderlieder bedient, wie bereits bei seinen ersten Dichtversuchen in Husum.

 

Heimwärts?3

Hin zum fernen Nord die Wolke fleucht! ‒
Knabe, sprich, wie ist dein Auge feucht!
Sollst ja mit zur Heimat ziehen,
Wo Becher glühen
An Freundes Brust.
Lass die goldnen Saiten klingen
Sollst jauchzend singen
In selger Lust! ‒

Rasch im Sturm die Wolke fürder zieht ‒
Bleicher Knabe sing dein Wanderlied!
Anders greift der stille Knabe
Zum Wanderstabe
Mit nassem Blick.
Herz und Aug’ sind matt und trübe;
Denn Lied und Liebe
Lässt er zurück.

 

Das Osterfest (der Ostersonntag 1837 fiel auf den 26. März) verlebte Storm in Husum, wo er in ähnlichem Ton ein beschwingtes Gedicht zwischen Liebeserwarten und Vergänglichkeitsgedanken schrieb:

 

Blüten rauschen Lieder klingen,4
Und der Mond im Silberkahn
Zieht beim Schlag der Nachtigallen
Selig seine blaue Bahn.

Schöne Mädchen, lose Knaben
Sammeln sich in lauer Nacht,
Drängen sich in bunten Scharen
Zu des Frühlings Blütenpracht.

Leise tönen Lied und Saiten,
Glühend wechseln Wort und Kuss;
Und dazwischen klingt die Sehne
Von Gott Amors Bogenschuss. -

Durch des Gartens Laubengänge
Schwankt ein müder Greis herein,
Will noch einmal selig träumen
Unterm milden Sternenschein.

Linder Hauch durchströmt die Lüfte,
Blüten rauschen um ihn her;
Doch der Alte sitzt und trauert;
Denn sein Auge sieht nicht mehr.

Rings in Busch und Blütenzweigen
Schlägt der Nachtigallenchor;
Doch der Alte harrt und weinet;
Denn verschlossen ist sein Ohr. –

„Lange ist dein Lied verklungen,
Alter, sprich, was suchst Du hier!
Wo der Mond auf Gräber scheinet,
Ist dein stilles Nachtquartier!“

 

Storm verherrlicht die Jugend, indem er den Motiv-Kontrast von Jüngling und Greis aus der lyrischen Tradition des späten 18. Jahrhunderts aufgreift. Beginn und Ende des Lebens werden durch die liebliche Sommernacht verbunden, in der sich die verspielte galante Liebe entfaltet. Der jugendliche Autor verdrängt die Mahnung der Vergänglichkeit von Jugend und Schönheit, indem er den Greis aus dem Reigen in der nächtlichen Natur ins Grab verweist.

Das Gedicht steht im Zusammenhang mit Gedanken an den Tod, mit dem sich Theodor in der Zeit des Wechsels vom Lübecker Katharineum zum Studium nach Kiel beschäftigt hat. In dem in der Mitte der 1840er Jahre zusammengestellten Konvolut „Neues Gespensterbuch“ ist eine Spukgeschichte enthalten (mit dem fiktiven Vermerk erzählt von H. P. L.) , die er in den Osterferien niedergeschrieben hat, als er sich nach Abschluss seines Schulbesuchs wieder in seinem Elternhaus in Husum aufhielt.5

 

Die Ankunft im Himmel

Als ich noch zu Hause bei meinen Eltern war, hielt ich große Freundschaft mit einem alten Korbmacher, den ich fast täglich in seiner Werkstatt besuchte, wo er mir die herrlichsten Märchen und Geschichten erzählte, mir die Gestelle zu meinen Papierdrachen machen half und sich überhaupt auf die freundlichste Weise meiner Kinderspiele annahm. Die Zuneigung dauerte noch fort, als ich später in einer andern Stadt auf die gelehrte Schule und danach auf die Universität kam. – Eines Nachts – es war in den ersten Tagen des Aprils, und ich beabsichtigte nach acht Tagen zur Genießung der Osterferien nach Hause zu reisen – träumte mir, ich sei im Himmel; der Herr saß milden Angesichts auf seinem leuchtenden Throne, und die Schaaren der Engel waren um ihn her; ich hörte ihre lieblichen Gesänge. Da klopfte mich Jemand von hinten auf die Schulter; ich wandte mich um und sah in das heitere Antlitz meines alten Freundes, des Korbmachers aus meiner Heimat, der mich freundlich begrüßte.

„Wie kommst du hieher?“ fragte ich, ihm die Hand reichend. „Ich bin vor vierzehn Tagen erkrankt“, versetzte er, „und am 23sten April Sonntag Nachmittag um 3½ Uhr gestorben.“ –

Hier erwachte ich, und obgleich ich sonst meine Träume nicht beachtete, so fiel mir dieser doch durch seine große Bestimmtheit als bemerkenswert auf. Als ich nach acht Tagen zu Hause ankam, fand ich meinen alten Korbmacher krank und bettlägerig. Das machte mich stutzen; ich erzählte meinem Vater jenen merkwürdigen Traum, und fragte ihn: „Sollte er wohl sterben?“ Mein Vater wollte in dess nichts darauf geben, zumal da die Krankheit durchaus nicht lebensgefährlich schien; dennoch, genau um jene Stunde und an jenem Tage starb mein Freund.

 

Die Geschichte berichtet von einer Traumvision, in der der Erzähler einem toten Freund im Himmel begegnet. Die Erscheinung des Herrn und der Engel begleiten liebliche Gesänge. Die Erscheinung des Freundes weist ein heiteres Antlitz auf und begrüßt ihn freundlich. Die Vision enthält also nichts Unheimliches; beklemmend wird die Geschichte erst, als sich die Information des Freundes „Ich bin vor vierzehn Tagen erkrankt“, versetzte er, „und am 23sten April Sonntag Nachmittag um 3½ Uhr gestorben“ als wahr erweist. Denn damit gibt die Erzählung ein Rätsel auf. Die Spukgeschichte ist nicht mehr nur eine Geschichte über den Spuk, sondern gewinnt selbst spukhafte Gestalt, mit der sie auf die Leser einzuwirken vermag.

 

Am 20. April immatrikulierte sich Storm an der juristischen Fakultät der Kieler Christian-Albrechts-Universität und begann ein Studium, das man ohne besondere Neigung studieren kann, auch war mein Vater ja Jurist.6 Er wohnte zunächst in der Nähe der Nikolaikirche.

Bertha hatte er natürlich nicht vergessen; nach einem Brief, den sie im März des darauf folgenden Jahre an ihn richtete7, hat es nach Ostern 1837 eine Begegnung in Altona gegeben: Du bist aber doch eigentlich ein schlechtes Stück, mir zuzutrauen Jemanden in einem so kleinen Zeitraum von 365 Tagen vergessen zu können, nein, im Gegenteil, es ist mir als wärest Du erst vor einigen Tagen abgereist; auch erzählen wir uns noch oft von dem merkwürdigen Gespenst, was bei Dir war, Deinem verbrannten Fuß und der Tanzwut die ihm so schlecht bekam, von Gesange und Taschenspieler-Künste.

Storm machte von Husum einen Umweg und reiste über Altona nach Kiel, übernachtet wieder bei den Scherffs und erzählte im Hause der Schwestern Rowohl eine Geschichte von einem merkwürdigen Gespenst und von der Tanzwut, die ihm so schlecht bekam, die er von zuhause  mitgebracht hatte. Im Husumer Wochenblatt Nr. 5 vom 29. Januar 18378 hatte er eine Ballade gelesen, die von dem Husumer Advokaten Christian Ulrich Beccau (1809-1867) stammt.

 

Die Tänzerin

(Eine eiderstädtische Sage.)

Ich war ein junger Sausewind
Ungläubig und voll Zweifel,
Wenn gleich ein glücklich Sonntagskind;
Sah ich doch nie den Teufel;
Von Geister auch und Spuck erfuhr
Ich niemals die geringste Spur.
Auch war es meine Sache nicht
Dass viel ich drüber dachte,
Ein Zechgelach, ein gut Gericht
Weit besser mir behagte;
Bei Ball und Tanz war ich zur Hand
Und zog drum öfter über Land.
Auf solcher Reise weilte ich
Einst Nachts in einem Schlosse;
Der Sage nach war’s sicherlich
Nicht richtig dort – vom Trosse
Der Geister, der darinnen steckt,
Ward Mancher schon gar arg geneckt.
Ich ging zu Bett, das Mondlicht schien
Gar graulich durch die Fester,
Der Herbstwind trieb das letzte Grün
Im Schatten wie Gespenster;
Die Turmuhr fast an’s Ohr mir schlug,
Auch schrie die Eule laut genug.
Nicht kümmert’s mich – ohn’ Sorgen schlief
Ich ein bei allen Schrecken,
Wenn auch der Böse selber rief,
Ich bin nicht leicht zu wecken –
Und träumte von dem nächsten Ball
Und von den schönen Damen all.
Da plötzlich fühlt von kalter Hand
Ich meinen Arm ergriffen,
Und Tags darauf fürwahr, noch fand
den Fleck ich, den’s gekniffen,
Sonst hätt’ ich Zweifler wohl gemeint
Ich hätt’ auch dies vom Ball geträumt.
Ich riss die Augen auf – am Bette sah
Das Mädchen ich, das bleiche –
Ich wusste nicht wie mir geschah –
Es roch nach Gruft und Leiche.
Ihr seid, sprach sie, beim Mondenglanz
Von mir, Freund, engagiert zum Tanz.
Ich dankte fein, doch keinen Spaß
Verstand das blasse Wesen,
Aus ihrem Angriff konnt’ ich bass
Den ernsten Entschluss lesen.
Es ist, schlug’s ängstlich mir zu Sinn,
Die totgetanzte Tänzerin.
Wohl teuer war hier guter Rat
Um Zeit nur zu gewinnen,
Denn wenn’s erst Eins geschlagen hat
Muss jeder Spuck entrinnen;
Drum schlau dacht’ ich und kaltes Blut
Dann geht’s selbst mit dem Teufel gut.
Mein wertes Fräulein, ich begann,
Sie werden’s mir doch glauben,
Dass ich also nicht tanzen kann
Und gütigst mir erlauben,
Dass ich mit Hosen, Schuh und Kleid
Zuvörderst mich zum Tanz bereit’.
Schnell soll’s geschehn und ohne Müh –
Dann können Sie befehlen –
Zum Zeitvertreibe werden Sie
Gewogentlich erzählen,
Was mir in tiefer Mitternacht
Die Ehre des Besuchs gebracht.
Hier sah ich nun, wie Weiber gar
Selbst nach dem Tode plaudern,
Denn als sie erst im Zuge war
Bemerkt’ sie nicht mein Zaudern
Und wie ich langsam und gemach
Die Glieder in die Hülle stach.
Ich galt, begann sie im Diskant
So recht nach Geisterweise,
Die erste Schönheit hier zu Land,
Und Jünglinge und Greise
Die buhlten als ihr höchstes Glück
Bei mir um einen Liebesblick.
Es ziemet Toten Rühmens nicht,
Sonst solltet Ihr erfahren
Wie eifrig mancher junge Wicht, –
Ich zählt’ an achtzehn Jahren –
Um meine Liebe sich bewarb
Und fast an seinen Seufzern starb.
Im Grab sind mir, ich weiß es wohl,
Viel Reize nicht geblieben –
Hier seufzte sie vernehmlich hohl –
Um sich noch zu verlieben;
Der Busen, einst so voll und rund,
Er modert in der Erde Grund.
Doch unbekümmert um den Tross,
Die mir zu Füßen lagen,
Der Liebe ich das Herz verschloss
In meinen Blütentagen.
Ganz And’res füllte meinen Sinn
Als ungestüme Tänzerin.
Der Tanz war mir vor Allem lieb –
Je wilder Flöt’ und Geigen
Je lieber ich mein Wesen trieb
Im stürmisch schnellen Reigen.
Beständig ich beim Tanze war
Das erste und das letzte Paar.
 

Vor hundert Jahren wohl und mehr
kam ich allhie zum Feste,
Wie auch von Nah und Ferne her
Zur Hochzeit viele Gäste.
Was konnte mich der schöne Wein,
Was mich das reiche Mahl erfreun?
Mir wurde Zeit und Weile lang
Beim Trinken und beim Essen,
Doch als die Geige erst erklang,
Da flog ich wie besessen.
Manch flinker Tänzer neben mir,
Der keucht’, als wollt’ er sterben schier.
Die Mutter warnte wohl ihr Kind,
Dass es inzwischen ruhte;
Hohnlachend schlug ich’s in den Wind
Und sprach im Übermute:
Wenn auch der Böse selber käm’
Ich freudig ihn zum Tanze nähm’.
Es knarrt die Thür und tritt herein,
Wohl Allen ward es graulich,
Ein blasses Männchen flink und fein
Und nahet mir vertraulich

Mit kalter Höflichkeit und spricht:
Lieb Mädchen seht, ich zaudre nicht.
Ohn Umständ’ fasst der Wilde mich
Und wirbelt mich im Kreise,
Die Geigen ras’ten fürchterlich
Recht wie zur Höllenreise,
Bis Sinn und Atem mir gebrach,
Ich todesmatt im Sessel lag.
An einem Blutsturz schon ich war
Zur selben Stund verblichen,
Seht hier die Flecke rot und klar
Wie oft sie überstrichen,
Wie oft die weiße Wand getüncht,
Sie glänzen immer wie verjüngt.
Ins dunkle Grab hineingelegt
Mag ich nicht Ruhe haben,
Wenn’s Zwölfe hier vom Turme schlägt
Muss ich zum Tanze traben,
Muss tanzen bis es summet Ein
Bei Dunkel und bei Mondenschein.
Dies ist der Fluch, den er mir sprach:
Allnächtlich eine Stunde
Tanz du, wenn scheiden Nacht und Tag
Allhier die wilde Runde,
Bis dass ein Tänzer unverzagt
Den Tanz mit dir zur Sühne wagt.
Dass Ihr ein kühner Tänzer seid,
Hab ich unlängst vernommen,
Deshalb nicht wenig mich gefreut,
Dass Ihr hierher gekommen.
Ich denke, den Erlösungstanz
Schlagt Ihr nicht ab beim Mondenglanz.
Sie riss mich fort, es brach schon los
Ein Spuck von Flöt’ und Geigen,
Es hüpfte schier das ganze Schloss
Mit zu dem tollen Reigen;
Wohl wunderlich ward mir zu Muth,
Doch hielt ich glücklich kaltes Blut.
Mein wertes Fräulein Sie verzeihn
Mir, dem Gedankenlosen,
Beim tiefen Antheil Ihrer Pein
Vergaß ich ganz die Hosen.
Ein Augenblick Geduld noch nur –
Zum Trost mir schlug indes die Uhr.
Verschwunden war mit einem Mal
Das Geigen und die Dirne,
Mir aber troff vor schwerer Qual
Der Angstschweiß von der Stirne
Und bis zum hellen Morgenlicht
Schloss ich die müden Augen nicht.
Wie war ich froh, den blauen Fleck
Am Arme ausgenommen,
Dass diesmal mit dem bloßen Schreck
Ich so davon gekommen.
Und Jeder, denk ich, glaubt mir das,
Ein Tanz mit Geister ist kein Spaß.
Mag zweifeln noch, wer zweifeln kann,
Ich lass den festen Glauben
An Geisterspuck als irren Wahn
Nunmehr mir nimmer rauben,
Wer je, wie ich, erst engagiert
Zum Zweifeln alle Lust verliert.
Doch nicht allein zum Glauben bin
Ich jene Nacht erzogen,
Die Tanzlust ist aus meinem Sinn
Spurlos seitdem verflogen,
Denn wo nur eine Geige geht,
Der ganze Spuck gleich vor mir steht.
An meinem Arm die schönste Dirn’
Erscheint dann als Gerippe,
Ich sehe nicht die hohe Stirn’
Nicht Augen und nicht Lippe;
Ich zittre gleich und halt nicht Tackt,
Weil mich der alte Schrecken packt.

Storm hat nach Beccaus Ballade eine „Eiderstedter Sage“ niedergeschrieben9 und sie wohl in dieser Fassung Bertha und den Schwestern Rowohl vorgetragen.

Bei einer großen Hochzeit auf dem alten adigen Gute Hoiersworth war unter den Gästen auch eine Dirne, die war die flinkste Tänzerin weit u breit u sie konnte gar vom Tanzen nicht lassen. Da warnte die Mutter sie, aber sie war übermütig u sprach: Und wenn der Teufel selbst mich zum Tanz auffordert, ich schlüg’ es ihm nicht ab! Da kam augenblicklich ein Unbekannter zur Türe herein und forderte sie zum Tanz. Das war aber der Teufel, mit dem sie zu tanzen versprochen; er hat sie so lange herumgeschwenkt bis ihr das Blut aus dem Munde stürzte und sie tot hinfiel. Die Blutspuren in diesem Saal sind bis auf den heutigen Tag unvertilgbar. Der Dirne selbst aber lässt das Tanzen noch keine Ruh, jede Nacht in der Mitternachtsstunde muss sie dazu aus dem Grabe in den Tanzsaal (und wer weiß, mit welchem höllischen Spuk sie sich herumdreht.)

Wenn ein Christenmensch aber ihr den Tanz zusagt, so ist sie erlöst und darum fordert sie Jeden auf, der Nachts in dem alten Saale schläft, mit ihr zu tanzen, aber bis jetzt hat’s noch keiner getan.

 

Für Gespenstergeschichten, die er gerne in geselligem Kreis erzählte, hatte Storm sein Leben lang eine Vorliebe; wie ein solcher Abend ablief, schildert Theodor Fontane in dem Kapitel „Theodor Storm“ seiner autobiographischen Aufzeichnungen Von Zwanzig bis Dreißig10: Denselben Abend erzählte er auch Spukgeschichten, was er ganz vorzüglich verstand, weil es immer klang, als würde das, was er vortrug, aus der Ferne von einer leisen Violine begleitet. [...] Er hatte uns nämlich gerade von einem unbewohnten Spukhause erzählt, drin die Nachbarsleute nachts einen Tanz gehört und durch das Schlüsselloch geguckt hatten. Und da hätten sie vier Paar zierliche Füße gesehen mit Schnürstiefeln und nur gerade die Knöchel darüber, und die vier Paar Füße hätten getanzt und mit den Hacken zusammengeschlagen.

Sicherlich hat auch Bertha eine solche Lesung gefallen, denn sie mochte den Zustand zwischen Gruseln und Grauen, in den sie Storms Vortrag versetzte, der seinerseits von der Spannung zwischen Ich und Du, zwischen Leben und Sterben interessiert war.

 

Nach diesem Besuch konzentrierte sich der junge Student auf den neuen Lebensbereich, in den ihn sein Studium nun führte. Im Juni, nach Ende seines ersten Semesters, schrieb er in sein Notizbuch11: Da bin ich nun seit einem Vierteljahre unter deutschen Studenten selbst ein deutscher Student. Ich hätte mir den deutschen Studenten anders gedacht: Ein Gemisch aus ritterlicher Galanterie, traulicher Heiterkeit, Begeisterung für seinen freien Stand; Geist und Herz und Gefühl für Alles Schöne. – Aber was finde ich von alle dem? Mut allerdings, Mut fehlt dem deutschen Studenten noch nicht. Aber wo trifft man die schöne, jugendliche Poesie des Lebens, die noch unverkümmert ist von den beengenden Verhältnissen der spätern Jahre, wo die bescheidne Heiterkeit, die ihn charakterisieren soll und den deutschen Studenten bei allen guten Menschen beliebt macht? Ich möchte sagen, der Kieler, und ich glaube sagen zu können, der deutsche Student ist entweder ein Mensch, der viel kneipt und trinkt, alle Naslang auf der Mensur liegt, sich in Gemeinheiten gefällt, eben von nichts anderm redet, als von Kneipereien und Paukereien, sich irgend ein schmuckes Dienstmädchen an der Hand hält, auch wohl die Farben irgend einer Verbindung und, wenn er ihn hat, einen Schnauzbart trägt und nebenbei etwas ins Kolleg geht, oder er ist arbeitsam, eingezogen, einseitig oder einfältig. So sind, nach meiner Ansicht, die Meisten der Studenten. Ich mag die rechten vielleicht noch nicht haben finden können. – Wie schmerzlich entbehr ich einen Gleichgestimmten, der den Klang und die Dichtung meiner Seele verstehen und erwidern mag. Kiel ist schön, sehr schön, die schönste Stadt im schönen Holstein; aber aller Orten, auf den belebtesten, volkreichsten Spaziergängen wandle ich alleine unter den schönen Holsteinerinnen. Ein ungestilltes, ein nie zu stillendes Sehnen nach einem unbekannten Etwas, dies unglückliche Sehnen hält mich gefesselt. – Was will ich? wohin will ich?– Ich trage in mir ein Streben, aber kein Ziel. Oder ist mir das Ziel wohl bekannt, aber nicht was hinter dem Ziel liegt, das große, schreckliche Ende. – – – Nein, Nein! das wäre zu früh, so jung und so viel frischen Keim im Herzen – – das darf ja noch nicht untergehen, trotz meiner Sünden – –.

Drei Jahre später hat Storm quer über diese Zeilen Dummes Zeug geschrieben; aber in seinen weiteren Notizen spricht er über das, was ihn damals am meisten bewegt hat, seine Sehnsucht nach Berthas Gegenwart: Ach wie bin ich da so windelweich geworden, wie eine zärtliche Jungfer, und bin doch ein Mann! Ich will mein unbestimmtes Sehnen besser erklären: Auf dem Wege nach Düsternbrook an der hohen Allee, liegen viele hübsche Gartenhäuser, ich möchte sagen mit Gemüt und Poesie gebaut und dekoriert, deren Besitz ich mir oft kindisch gewünscht. Unter diesen liegt eins idyllisch verborgen hinter Jasmin und dem blühenden Gesträuch der Heckenkirsche; auf das Dach hinauf rankt sich dichtes Geißblatt und bekränzt auch unten die Fenster des lieblichen Häuschens. Die Hälfte des lauschigen Fensters verhängt eine dunkelrote Gardine, die in das Innere des Stübchens einen gar lieblichen Dämmerschein zurückwirken muss, in welches durch das offene Fenster Blüten und Nachtigallschlag hineinströmen mit dem Hauch der lauen Sommernacht.

 

Hamburg, Dienerreihe; Fotografie um 1860

 

In dieses Häuschen bin ich verliebt, oder eigentlich nicht in dies Häuschen, sondern in das, was darinnen sein könnte, in die zwei blauen Augen die hinter der roten Gardine hervorlauschen könnten; in die braunen Locken, in die süßen Lippen, in das Herz, in die Brust, die nur für mich pocht, mit einem Worte in die schöne, schlanke Jungfrau, die mich aus dem wunderbaren, umlaubten Fenster ansehen könnte. O nur einen Kuss in heimlicher, duftiger Nacht durch dies Fenster, und mein stilles Sehnen – – –

Und er beschließt seine Aufzeichnungen mit den Erinnerungen an das Haus, in der Hamburger Dienerreihe 8, wo die geliebte Bertha wohnte, mit den Versen:

 

Doch halt die Dichtung ist vorüber,
Das Leben trat in seine Rechte.
Was ich geträumt in meinem stillen Sinn,
Begrab ich in des Herzens dunkeln Tiefen,
Und alle Klänge, die nur leise schliefen,
Sie mögen einsam sterben immerhin.

 

Die Vorstellung von einem heimeligen Zimmer mit einem Mädchen darin und seiner unstillbaren Sehnsucht nach einem schönen Mädchen weist Storm in seinen Aufzeichnungen der Dichtung zu: In diesem Häuschen könnte eine schlanke Jungfrau wohnen, deren Herz nur für mich pocht. Er fühlt aber, dass solche Visionen ebenso unrealistisch sind wie die Liebesszene in „Celeste“, die unvermittelt abbricht und sich als bloßer Traum erweist. Der Dichter will das Phantasma der Kindsbraut aus seinem Leben verdrängen, indem er sie in einem Gedicht einsam sterben lässt.

Was er mit seiner Traumerfahrung in den sechs Versen meint, die er in des Herzens dunkeln Tiefen begraben hat, lässt ein weiteres Gedicht erkennen, das er einen Tag später eintrug:

 

Walpurgisnacht12

Am Kreuzweg weint die verlassene Maid
Sie weint um verlassene Liebe;
Sie klaget den fliehenden Wolken ihr Leid
Ruft Himmel und Hölle zur Hilfe.
Da stürmt es heran durch die finstere Nacht,
Die Lüfte rauschen, die Eiche kracht,
Es flattern so krächzend die Raben.

Am Kreuzweg feiert der Böse sein Fest
Mit Sang und Klang und Reigen;
Die Eule rafft sich vom heimlichen Nest
Und lädt viel luftige Gäste.
Die stürzen sich jach durch die Lüfte heran,
Geschmückt mit Distel und Drachenzahn,
Und grüßen den harrenden Meister.

Laut über die Heide, weit und breit
Erschallt es im wilden Getümmel ‒
„Wer bist Du, Du schöne, Du lustige Maid?
Juchheisa, Walpurgis ist kommen!
Was zauderst Du Hexe, springe mit ein!
Sollst heute des Meisters Liebste sein,
Du schöne, Du lustige Dirne.“

Der Nachtwind peitscht die tolle Schaar
Im Kreis um die weinende Dirne;
Da packt sie der Meister am goldenen Haar
Und schwingt sie im sausenden Reigen.
Und als gegen Morgen der Auerhahn schreit,
Da hat der Teufel die Jungfer gefreit,
Und hat sie nimmer gelassen.

 

Wieder wurde die Ballade von Storms Goethe-Lektüre angeregt, diesmal von seiner Beschäftigung mit der Faust-Dichtung. In der Szene „Walpurgisnacht“ lockt Mephisto Faust auf den Blocksberg im Harz. Die Nacht vom 30. April auf den 1. Mai galt im Volksglauben als die Nacht, in der die Hexen den Hexensabbat feiern und dem Satan huldigen. Sie geraten dort in die Windsbraut, ein Gewimmel von unzüchtigen Hexen, die auf Besen und Böcken zur Bergspitze hinauf reiten, wo eine Feier zu Ehren des Teufels stattfindet. Der nach Erkenntnis strebende Faust will zum Gipfel hinaufsteigen: Dort strömt die Menge zu dem Bösen; / Da muss sich manches Rätsel lösen.

Mephisto überredet ihn stattdessen, an der Hexenfeier teilzunehmen. Beide tanzen daraufhin mit zwei lüsternen Hexen, aber Faust bricht den Tanz ab, weil der Hexe ein rotes Mäuschen aus dem Mund springt und ihm ein blasses, schönes Kind erscheint, in dem er Gretchen erkennen will. Ihr rotes Halstuch verweist auf ihre Verführung, Schwangerschaft, Kindstötung und die folgende Hinrichtung. Mephisto will Faust in Erfüllung seiner Wette mit Gott durch reine Sinnlichkeit von seinem Streben abbringen.

Der Text korrespondiert mit einer Gruppe von in Lübeck entstandenen Gedichten, in denen Storm sich mit der Faustdichtung auseinandersetzt; in einem Entwurf für Meine Erinnerungen an Eduard Mörike berichtet13 er später: Durch die Retzschen Umrisse, welche mein Stubengenosse bei einem Schul-Vogelschießen im Sachsenwalde als Preis davon trug, wurde ich zu Göthes Faust geführt; und mir war, als flögen nun erst die Tore der deutschen Dichtung vor mir auf.

Das erstmals 1820 erschienene Mappenwerk enthält die Graphiken des Zeichners, Malers und Radierers Moritz Retzsch (1779–1857), der besonders durch seine einstmals sehr überschätzten Umrissradierungen zu Goethes „Faust“, Schillers „Kampf mit dem Drachen“, „Lied von der Glocke“ und „Gang nach dem Eisenhammer“, eine „Galerie zu Shakespeares dramatischen Werken“ (Leipzig 1827–46) und „Umrisse zu Bürgers Balladen“ (1840) bekannt geworden ist.

 

Moritz Retzsch: Umrisse zu Goethe’s Faust. Der erste Band enthält als 22. Blatt die Zeichnung zur Walpurgisnacht, nach der Storm sein gleichnamiges Gedicht schrieb.

 

Storm hat sich damals die beiden Mappen zu Goethes Faust zugelegt, wie seine Namenseinträge auf den Titelblättern belegen14: Der erste Band enthält als 22. Blatt eine Zeichnung zu folgendem Text15:

 

Faust.

Mephisto, siehst du dort
Ein blasses, schönes Kind allein und ferne stehen?
Sie schiebt sich langsam nur vom Ort,
Sie scheint mit geschlossnen Füßen zu gehen.
Ich muss bekennen, dass mir däucht,
Dass sie dem guten Gretchen gleicht. […]
Fürwahr, es sind die Augen einer Toten,
Die eine liebende Hand nicht schloss.
Das ist die Brust, die Gretchen mir geboten,
Das ist der süße Leib, den ich genoss.

 

Storms Ballade ist eine genaue Beschreibung einzelner Bildelemente in Versen. Dabei interpretiert er die Gretchengestalt neu, indem er sie als Teufelsbraut beschreibt, was Goethes Text nicht aussagt. Die verlassene Braut in Storms Ballade steht am Kreuzweg, dem Ort der Teufelsbeschwörung. In Goethes Faustdichtung feiern Hexen und Teufel an diesem Ort sexuelle Orgien. Kreuzwege, d. h. Wegkreuzungen, werden oft mit Schnittstellen der Straßen der Lebenden und Toten in Verbindung gebracht. In magischen Beschwörungsvorschriften werden solche Wegkreuze wohl deshalb empfohlen, weil sie Geister festbannen, die unschlüssig sind, welchen Weg sie einschlagen könnten. Die Ballade wird aus der Perspektive des Verführers erzählt; wie Bürgers Lenore, die in ihrer Verzweiflung über den Verlust des geliebten Mannes, der nicht aus dem Krieg zurückkehrt, mit Gottes Vorsehung hadert: Ohn' ihn mag ich auf Erden,/ Mag dort nicht selig werden, ruft auch diese Braut in ihrer Verlassenheit Himmel und Hölle an. Die Mutter weiß, dass solch eine Blasphemie in die Hölle führt. Und bald darauf entführt der Geist des toten Wilhelm seine Lenore zu einem Ritt durch die Nacht, auf dem ihnen viele andere Geister begegnen. Der Ritt endet im Totenreich.

In Storms „Walpurgisnacht“ wird das Mädchen von den Hexen zweimal als schöne, lustige Maid bezeichnet; aber dem Kind ist alle Lust vergangen, und der Meister kann nur eine weinende Dirne vergewaltigen.

Vom Geliebten verlassen, vom Teufel missbraucht ‒ eine solche Obsession (aus psychologischer Sicht handelt es sich dabei um einen aggressiven Zwangsgedanken) beherrschte Storm nach der zweiten Trennung von Bertha. Wieder kann die Entstehung einer solchen quälenden Zwangsvorstellung, die über eine bloße Sehnsucht nach dem geliebten Objekt weit hinausgeht, nur auf Storms Wissen um die Unmöglichkeit seiner Liebe zu Bertha begründet sein, denn sie ist nach wie vor ein Kind und er ist darauf angewiesen, zur Befriedigung seiner Leidenschaft das Weiblich-Erotische an ihr zu imaginieren. Der Versuch, seine Obsessionen aus dem Alltagsleben zu verdrängen, ist misslungen und ein destruktiver Zug veranlasst den Sänger diesmal, sein Liebstes zu töten, indem er es buchstäblich zum Teufel schickt.

Wie bei der sagenhaften Tänzerin aus Eiderstedt muss auch das nach Storms Rückkehr von dem Spaziergang an der Kieler Förde beschworene Imago sterben. Das erledigt der Böse, der am Kreuzweg sein Fest feiert, assistiert von vielen „lustigen“ Gästen, den Hexen nämlich, unter denen sich vielleicht auch ein Imago von Berthas Pflegemutter befindet, die ihm den Zugang zur Geliebten nicht nur aus Schicklichkeit verbieten muss.

Das Verhältnis des Sängers zu seiner verlassenen Braut ist gewaltsam; möglicherweise lastet in diesem Falle der Täter die Schuld sogar dem Opfer auf. Denn im Zusammenhang mit der Sage von der Tänzerin auf Eiderstedt ist folgende Variante belegt16: Das Volk glaubte, das Mädchen sei schon als Kind für schwer Geld von ihrer Mutter dem Teufel verschrieben. Theodor muss die Ungeheuerlichkeit seines Gedichts gespürt haben; an Bertha hat er den Text jedenfalls nicht weitergegeben; die Ballade wurde zu Lebzeiten des Dichters auch nicht veröffentlicht.

 

Anmerkungen


1 „Quibus causis Philippo II. regnante dilapsae sint Hispaniae opes auctoritasque“ (Weshalb sank unter der Regierung Philipp II. Spaniens Macht und Ansehen?)

2 Theodor Storm: Entwürfe einer Tischrede (1); LL 4, S. 489.

3 MG, S. 75. (Nr. 91) mit der Datierung Lübeck. Ost<ern> 37.

4 MG, S. 73f. (Nr. 90) mit der Datierung Husum Ost<er>ferien 1837.

5 „Neues Gespensterbuch. Beiträge zur Geschichte des Spucks“. (StA), Blattnummer 117. Vergl. Eversberg 2017a, S. 69f. Die Erzählung enthält autobiographische Elemente aus Storms Schulzeit in Husum und Lübeck. Wenn die Zeitangabe 23sten April Sonntag stimmt, handelt es sich um das Jahr 1837, in dem Storm seine Schulzeit in Lübeck beendete, über die Ostertage nach Husum fuhr und sich am 20. April in Kiel an der Universität zu Kiel immatrikulierte.

6 Theodor Storm an Emil Kuh, Brief vom 21. August 1873.

7 Bertha von Buchan an Th. Storm, Hamburg, den 15.03.1838; Umschlag: Sr Wohlgeboren/ Herrn Theodor Storm/ Stud: Jur:/ Ad: Herrn Kupprasch/ Kettenstraße/ Kiel/ frei. StA, Husum. Dieses Treffen wird auch durch Storms Brief an Therese Rowohl Vom März 1838 bestätigt, in dem Storm schreibt: Doch ich spreche immer von einem Kinde und am Ende ist gar kein’s mehr vorhanden. Meine gute Bertha muss es mir nun einmal verzeihen, dass ich das Jahr nicht rechne, worin ich sie nicht gesehen habe. Eversberg 1995, S. 103.

8 „Die Tänzerin. (Eine eiderstädtische Sage.)“ [in Versform] mit dem Hinweis C. B. in: Husumer Wochenblatt Nr. 5 vom 29.1.1837.

9 Der Text ist durch eine Abschrift Theodor Mommsens in seinem Sagenheft erhalten (Mommsen-Nachlass im Archiv der Humboldt-Universität, Berlin). Bei Müllenhoff 1845 als erster Text von Nr. 201 mit einem Hinweis auf die Quelle gedruckt. Zur Überlieferung vergl. Eversberg 1995, S. 298.

10 Theodor Fontane in dem Kapitel „Theodor Storm“. in: Fontane 1982, S. 214f.

11 MG, S. 75-79 mit der Überschrift Kiel, den 18. Juni <1837> Sonntag Abend.

12 MG, S. 79f. (Nr. 92) mit der Datierung 19 Juni 1837; Erstdruck: Neue Pariser Modeblätter 12.1838, Nr. 20, Sp. 305f. Hier nach der Handschrift.

13 nach der Handschrift im StA, LL 4, S. 964

14 Retzsch 1834. – Retzsch 1836. Exemplare in Storms Bibliothek, StA.

15 Hier zitiert nach der Ausgabe von 1834, S. 274.

16 aus der Gegend zwischen Schleswig und Eckernförde; Mensing 1923, S. 265.