Eine übermäßige Koketterie ‒ Verlobung mit Emma Kühl

 

Die Herbstferien um den Michaelis-Tag (29. September) 1837 verbrachte Storm in seinem Elternhaus. In einem Brief an seine spätere Braut Constanze Esmarch berichtete er fünfeinhalb Jahre später aus Husum über diese Tage1: Als ich in den Michaelisferien 1837 als junger Student – ich wurde grade zwanzig – hier zu Hause war, hatte meine Schwester Helene gleichzeitig einen Besuch von ihrer damals siebzehnjährigen sehr liebenswürdigen und interessanten Freundin Emma Kühl von Föhr. Diese Bekanntschaft hatte ich schon vor Jahren zu Stande gebracht; ich kannte sie zuerst.

 

Storms Elternhaus in der Hohlen Gasse

 

Storms Schwester Helene (1820-1847) war ebenfalls siebzehn Jahre alt und lud häufig Freundinnen aus dem Verwandten- und Bekanntenkreis zu sich nach Hause ein. Zu den weitläufigen Verwandten gehörten die in Wyk auf der Insel Föhr ansässige Apotheker Christoph Friedrich Becker, dessen Ehefrau Agatha Catharina eine geborene Woldsen war, eine Schwester des Husumer Kaufmanns Ingwer Woldsen und damit auch mit den Storms verwandt. Theodors Vater Johann Casimir Storm hatte als Advokat beruflich auf Föhr zu tun, da zu seinen Tätigkeiten die Verpachtung landwirtschaftlicher Flächen zählte. Zu den Bekannten der Familie Becker gehörte der Zollverwalter Detlef Nicolaus Friedrich Kühl und seine Ehefrau Anna. Ihre Tochter Heinke Kerstina Emma wurde am 18. August 1819 geboren und am 23. Februar 1834 konfirmiert.

Im Brief an Constanze schreibt Storm weiter: Als vielleicht zwölfjähriger Knabe war ich einmal einige Tage bei einer Schwester von Woldsen auf Föhr, wo Emma damals als kleines Mädchen täglich ins Haus kam; wir spielten zusammen, fuhren zusammen aus und waren ganz verliebt in einander; ich erinnere deutlich, dass wir uns mehrfach hinter der Küchentür heimlich geküsst haben beide damals Kinder. In Folge dessen vermittelte ich die Bekanntschaft mit Helene.

Wenn wir Storms Zeitangaben folgen, muss dieser Besuch im Jahre 1830 stattgefunden haben, da war Emma gerade zehn Jahre alt, Theodor besuchte die Tertia der Husumer Gelehrtenschule und feierte im September seinen 13. Geburtstag. Ein Jahr zuvor war seine Schwester Lucie (1822–1829) im Alter von sechs Jahren gestorben; in einem Brief an seine Eltern2 erinnert er sich im Jahre 1862 an dieses Ereignis: Ihr Tod gab mir Veranlassung zu meinem ersten Gedicht. Ich lief weinend in der Gegend des Mühlenteichs umher, da ich es machte, und erinnere davon noch die beiden kindlichen Verse: „Und der Totenkranz umwindet/ Jetzt ihr engelgleiches Haar.“

Dies kann aber nicht die einzige Begegnung geblieben sein, denn am 17. Juli 1833 trug der nun 15jährige Sekundaner sein erstes Gedicht in das Notizbuch „Meine Gedichte“ ein.

 

An Emma3

Willst mich meiden,
Grausam scheiden;
Nun Ade!
Ach kein Scherzen
Heilt die Schmerzen
Meines Weh’!

Doch was sag’ ich,
Doch was klag’ ich,
Denn um mich.
Gibts nicht Rosen
Gnug zum Kosen
Ohne dich!

Heut führ Miene,
Morgen Tine
Ich zum Tanz;
Flatterrose
Reich dir Lose
Ich zum Kranz!

Willst mich meiden,
Grausam scheiden,
Nun Ade!
Andrer Scherzen
Heil die Schmerzen
Meines Weh!

 

Storm erstes Gedicht in seiner Sammelhandschrift „Meine Gedichte“

 

Die als Flatterrose Bezeichnete muss Storms Annäherung zurückgewiesen haben; der jugendliche Poet vergleicht sie deshalb mit dem Klatschmohn, dem die Blütenblätter schnell abfallen und spielt damit auf ihre Flatterhaftigkeit an.

Wenn man bedenkt, dass Storm dieses Gedicht genau einen Monat vor Emmas 14. Geburtstag niederschrieb, so könnte es sein, dass das Mädchen aus Wyk auf Föhr Storms Liebeswerben noch nicht verstanden hat. Theodor Storm schrieb in seiner „Beichte“ an Constanze weiter: Constanze, wenn Du mich jetzt nachdem Du dies gelesen so verabscheutest, wie ich selbst, nachdem ich es geschrieben, so würdest Du mir vergelten, was ich an ihr getan; — indes sie ist hinlänglich gerächt worden — und dass ich dennoch jetzt in Dir alles überschwängliche Glück der Liebe gefunden habe, das ist mir ein Zeichen, dass auch bei ihr sich alles wieder ausgeglichen, und dass die Wirkungen dieser bösen Tat zu Ende sind. Wie ich je so habe handeln können, das kann ich mir jetzt nur daraus erklären, dass ich gar nicht gewusst, welche Qual verschmähte Liebe sei, denn ich wusste damals noch nichts von Liebe, es war alles damals nur heißes Blut. — Was hab ich seitdem alles erlebt! Wie anders bin ich selbst geworden! —

 

Darauf antwortete Constanze einige Tage später4: Die Geschichte von Emma Kühl, mein Theodor, hab’ ich schon gewusst, jedoch nicht so ausführlich, ob ich Dir verzeihen kann? Was hab ich Dir dabei zu verzeihen? wenn Emma es kann und tut, ich weiß nicht ob ich es könnte, ich hab es ja Gott Lob nicht erfahren aber es muss schrecklich sein, hoffentlich hat sie es überwunden, und wird vielleicht noch ein Mal Ersatz finden. Ich kann es mir sehr wohl denken, dass Du nicht mit ihr zusammentreffen möchtest, es wäre sowohl für sie wie für Dich höchst peinlich gewesen — die Arme. Ob ich Dich dennoch lieben kann? Ich kann Dich nicht allein lieben, nein ich muss Dich ewig lieben und will es auch ewig. —

Und dann folgen einige Hinweise, die erklären, warum Emma in den Jahren zwischen 1833 und 1835 auf Storms Werben so ablehnend reagierte. Ach! warum müssen doch die Männer unser Geschlecht so oft und viel betrüben. Ob ich mich früher allein gefühlt? nein Theodor, das tat ich nicht, ich war vorher noch ein Kind und lebte sorglos in den Tag hinein nur für die Gegenwart, nur für die mir bevorstehende Freude. — Ja jetzt, ich fühle mich glücklich und selig und recht sicher, wenn ich an Dich denke oder mich in Deine Arme schmiegen darf, aber das Kind kennt nicht solche Gefühle, Du, Theodor hast mich dieses Glück kennen lernen.

 

Die erhaltenen Gedichte aus dieser Zeit zeigen, dass Storm mit Formen und Vermaßen experimentierte; so enthält seine Sammelhandschrift „Meine Gedichte“ Paraphrasen von antiken Texten, in denen er verschiedene klassische Versmaße nachahmte, sowie Rätselgedichte und Liebeständeleien, die Einflüsse des Unterrichts an der Husumer Gelehrtenschule erkennen lassen. Natürlich schrieb Storm auch eine Reihe von Liebesgedichten, darunter mehrere, die vielleicht fiktiven, vielleicht auch wirklichen Geliebten gewidmet waren. Dass der junge Dichter zu diesem Zeitpunkt bereits versuchte, seine Verliebtheit in konventionellen literarischen Gesellschaftsspielen zu überhöhen, zeigen einige Spuren im Husumer Wochenblatt. Im „Briefkasten“, einer das Heft mit dem Impressum abschließenden Spalte mit oft nur für den entsprechenden Einsender von Gedichten und Erzählungen verständlichen Nachrichten, findet sich am 3. Mai 1835 folgender Hinweis: Der Entfernten soll nächstens das volle Herz des Sängers zu Füßen gelegt werden. Das Gedicht selber hat der Buchdrucker Heinrich August Meyler, der das „Königlich privilegirte Wochenblatt“ seit 1813 herausgab, aber erst im November 1836 veröffentlicht. Da befand sich Storm bereits in Lübeck und besuchte dort das Katharineum.

 

An die Entfernte M. …5

Eilende Winde
Wieget euch linde
Säuselt mein Liedchen der Lieblichen vor;
Vögelein singet,
Vögelein bringet
Töne der Lust an ihr lauschendes Ohr!

Öffne dich, Rose,
Schwellet, ihr Moose,
Reiht euch ihr Blumen zum duftigen Kranz;
Weilt ihr am Herzen,
Horcht ihren Schmerzen,
Bannet den trübenden Kummer hinaus.

Schimmernde Sterne,
Strahlt aus der Ferne
Himmlischer Höhen ihr Freude und Lust,
Freundliche Sterne,

Wärt ihr nicht ferne,
Leuchtet ihr tröstend liebender Brust.

 

Es handelt sich um das dritte der bisher ermittelten Gedichte Storms, das er am 6. November 1836 im Husumer Wochenblatt veröffentlich hat. Das erste gedruckte Gedicht, „Sängers Abendlied“, erschien bereits im Juli 1834. Und am 26. Juli 1835 folgte ein anonymes Silbenrätsel, das ebenfalls von Storm stammt.

 

Charade6

An Auguste
Wie mancher fühlt' als Dich er sah
Das Erste schon dem Zweiten nah',
So sehr bei minderer Gefahr
Er von Natur das Ganze war.

 

Die Lösung der Charade wird eine Woche später veröffentlich: „Herzhaft.“ Dass Storm der Verfasser dieses Rätselgedichts ist, liegt nahe, da es üblich war, derartige spielerische Tändeleien mit den Vornamen der beteiligten Personen zu zeichnen, um eine gewisse Pikanterie im Freundes- und Bekanntenkreis zu erzeugen. Charaden sind Rätsel in Gedichtform; gesucht ist ein Wort, das aus mehreren Silben besteht. Das Gesuchte ist derart verschlüsselt, dass die Auflösung zwar Scharfsinn und ein gewisses Sachwissen erfordert, aber grundsätzlich möglich ist. Die Verschlüsselungen beruhen oft auf einer semantischen Mehrdeutigkeit oder einer Paradoxie. Im 18. Jahrhundert wurde das Rätsel vor allem Gegenstand der Kinderliteratur, hatte aber dann noch einmal im frühen 19. Jh. eine gesellschaftliche Funktion wie in unserem Beispiel aus Husum.

 

Storms „Charade“ im Husumer Wochenblatt

 

Da weder im Freundeskreis noch im Husumer Wochenblatt der Name Theodor noch einmal vorkommt, ist die Autorschaft Storms sehr wahrscheinlich. Wer mit „Auguste“ gemeint war, wussten nur Eingeweihte. Vermutlich handelte es sich um Auguste von Krogh, die Tochter des Husumer Amtmanns, zu deren Familie die Storms eine sehr herzliche Beziehung hatte. Hans Ernst Godsche von Krogh (1778-1852) war seit 1826 Amtmann der Ämter Husum und Bredstedt mit Sitz in Husum sowie Oberstaller von Eiderstedt. Aus seiner Ehe mit Agnes von Warnstedt – sie starb 1829 – waren vier Kinder hervorgegangen. Ferdinand Christian Hermann von Krogh (geboren 1815) war Mitschüler Storms an der Gelehrtenschule; Auguste (geboren 1811) war die älteste von drei Schwestern (Louise, geb. 1819 und Charlotte, geb. 1827). Zu Auguste muss der junge Storm eine tiefe Zuneigung gehabt haben. Die Freundschaft mit den Kindern der Familie von Krogh setzte Storm auch nach seinem Studium in Kiel fort; in der 1840er Jahren organisierte die Jugend der beiden Familien gesellige Veranstaltungen, und man traf sich in Storms Gesangverein.

Ob Storm sich später, als er 1870 seine autobiographische Skizze „Der Amtschirurgus – Heimkehr“ für die „Zerstreuten Kapitel“ konzipierte, an diese Auguste erinnert hat, muss Vermutung bleiben, jedenfalls beschreibt er seinen eigenen Auftritt bei den alljährlich Ende September zu Michaelis stattfindenden Redefeierlichkeiten der Husumer Lateinschüler7: Was blieb endlich mir übrig, der ich schon damals in einigen Versen gesündigt hatte? Ich, selbstverständlich: „besang“. –“Mattathias, der Befreier der Juden“, so hieß meine Dichtung, welche der Rektor mir ohne Korrektur und mit den lächelnd beigefügten Worten zurück gab, er sei kein Dichter. Dann aber erwähnt er eine ganz persönliche Wahrnehmung: unter den Zuhörerinnen hatte ich ein Paar wohlbekannte vergissmeinnichtblaue Augen entdeckt, die mit dem Ausdruck zarter Fürsorge auf mich gerichtet waren.

 

Auguste von Krogh, geboren 1812

 

Neun Jahre später, am 5. Mai 1844, heiratete „Guste“, wie sie im Freundeskreis genannt wurde, den zweiten Stadtsekretär von Altona, Johann Christian Hilmers. Anlässlich dieser Hochzeit widmete Storm, der zu diesem Zeitpunkt bereits mit Constanze Esmarch verlobt war, ihr ein Gedicht.

 

An Auguste von Krogh8

zu ihrem Hochzeitstage

So löst du denn, was früher du verbunden,
Und schließt auf’s Neu den innigsten Verein  –
Nimm dies zum Abschied: alle guten Stunden,
Die ich dir danke, sollen mit dir sein!
Doch darfst du nicht so leicht von hinnen gehen,
So leicht erwerben nicht dein neues Glück;
Den Himmel musst du erst durch Tränen sehen;
denn viele Liebe lässt du hier zurück. –
O dass dir stets ein solcher Wechsel bliebe:
Von Liebe scheide, gehen zu der Liebe.

 

Allerdings war Auguste von Krogh sechs Jahre älter als Theodor Storm und wird im Jahre 1835 die Zuneigung des noch nicht achtzehnjährigen Primaners kaum erwidert haben. Denkbar als Adressantin ist deshalb auch Auguste Hedwig Rehder, die Tochter des Kaufmanns, Ratsherren und Abgeordneten der Schleswigschen Ständeversammlung Peter Heinrich Rehder. Auch dieses Mädchen gehörte zu seinem Bekanntenkreis, ihr Vater war mit Storms Vater befreundet und ihr Bruder Franz Heinrich Simon (1821-1908) besuchte die Husumer Gelehrtenschule. Wahrscheinlich ist aber mit der öffentlichen Ansprache im Wochenblatt eine reife Frau gemeint.

Noch einmal, am 28. September 1835, beschwert sich Storm über die Freundin aus Kindertagen und mahnt sie:

 

In Emmas Stammbuch9

In meines Herzens Tiefe ruht
Ein düster Bild, mein Geist erbebt
Die Zukunft zu durchschauen.
Vielleicht eh’ dreimal sich die Erd’
Verjüngt, zerstört ein eisger Hauch
Der Jugend frische Kränze.
Ein Weilchen fließt
Des Freundes Tränenzähre.
Die Zeit verharscht
Den Schmerz ich bin vergessen
Wenn dann die leichte Barke dich
Durch dunkle Flut
Zu nahem Freundes Strand geführt,
Wenn dann mein Name längst verhallt,
Und wenn der Esche schattig Laub,
Dann meine ganze Welt verbirgt,
So fleuch dein Geist
Zurück zu frohen Stunden
Dann blick dein Aug
Durch eine Trauerzähre,
Und leichter wird
Auf mich der Felsen ruhen.

 

Offenbar änderte Emma ihr Verhalten gegenüber Theodor während ihres Aufenthalts im Herbst 1837; denn nun wurde der Garten seines Elternhauses zum Schauplatz einer Liebschaft. Sechs Jahre später erinnerte sich der junge Advokat in einem Brief an seinen Studienfreund Theodor Mommsen10: Wenn Sie in Bummelsehnsuchtsstillung/ Sich wärmen nicht im Sonnenlicht,/ So schaun Sie als Berufserfüllung/ Den schmucken Dirnen ins Gesicht./ So schrieb ich heut morgen; aber ich hab's nachgeholt; nach Tisch trank ich im elterlichen Garten auf dem Bleichplatz Kaffee; der Kaffeetisch stand freilich unterm großen Fliederbusch; aber ich setzte mich so recht in vollen Sonnenschein, und es war alles, dass der Gartenstuhl meine breite Behaglichkeit aushielt. Was hatte der gute Bleichplatz nicht schon von mir gesehn! Als Knabe meine Räuberspiele, meine Hütten von Laub, die ich im Herbst aus den abgehauenen Zweigen baute, als Primaner machte ich auf dem Platz, wo heut Nachmittag der Kaffeetisch stand, meine Abschiedsrede in freien Jamben ‒ damals fühlte ich mich recht  ‒ dann später auch einmal eine Liebschaft, und jetzt?  ‒ Nun eine Tasse Kaffee ist auch nicht zu verachten. –

 

Der Hof von Storms Elternhaus in Husum; rechts der Bleichplatz

 

Emma war nun 17 Jahre alt und konnte Storms Absichten sehr wohl verstehen. In Storms „Beichte“ gegenüber seiner Braut Constanze heißt es weiter: Dieses Mädchen besaß neben einer guten Bildung einem geistreichen Wesen und einer natürlichen fast unwiderstehlichen Liebenswürdigkeit eine übermäßige Koquetterie. Dabei war sie schön und von gutem Herzen. Wir nannten uns Du; trotz dem ging die Galanterie herüber hinüber; gleicherweise die Eifersucht; Verdruss, Tränen fehlten bei ihrem Charakter natürlich zwischen uns nicht; war ich schon als Junge in sie verliebt gewesen, so wurde es jetzt alle Tage toller – mein Tagebuch, was ich damals geführt liegt vor mir: morgens am dritten Oktober [1837] versprach ich mich förmlich mit ihr – schon denselben Nachmittag fühlte ich heftige Reue über diesen Schritt und beschloss alles wieder aufzuheben; der Grund, den ich jetzt klar sehe, war allein der, ich war zu jung; ein Mann wenn er leben soll, kann so früh überhaupt noch nicht lieben. Das Gefühl selbst war gewiss ein richtiges gesundes; in dem, was mich zu ihr geführt, lag der Irrtum. Ich wagte nicht, das Verhältnis ohne Weitres zu zerreißen, weil ich Eclat fürchtete; die Sache selbst blieb geheim. Als ich nach Kiel sie nach Föhr reiste, schrieb ich ihr nicht; sie hatte mich vor der Abreise auch nicht darum gebeten, sie merkte wohl, wie die Sache stand. Sie wurde sehr krank; danach erhielt ich unterm 28 Februar [1838] in Kiel den ersten einzigen Brief von ihr, worin sie, wie sie schrieb und wie es wahr ist, mit dem Rechte einer Schwergekränkten ihr Wort zurücknahm.

Storm scheint gar nicht gemerkt zu haben, dass man ein Mädchen nicht innerhalb so kurzer Zeit gleichsam im Sturm erobern kann, denn er wirft ihr eine übermäßige Koketterie vor; damit meint er ein auffallendes oder gefallsüchtiges Verhalten; die „Kokette“ meint es nicht ernst, sie will nur erotisches Interesse erregen, um mit ihm zu spielen. In einem wohl in den Weihnachtstagen 1837 entstandenem Gedicht rächt er sich gleichsam an der spröden Geliebten.

 

An eine Koquette11

Schwäne kommen, Schwäne ziehen
Zu der schönen Blum hinan,
Blume lächelt allen freundlich,
Schmieget keinem ganz sich an.

Als der Blume Duft verhauchet,
Zogen alle Schwäne fort.
Denke an die schwarze Maske,
Blume blieb allein am Ort.

 

Wie negativ der Begriff der Koketterie damals konnotiert wurde, lässt sich im „Damen Conversations Lexikon“ aus dem Jahre 1836 nachlesen12: Koketterie ist falsche Grazie [...]. Sie ist für die Seele, was die Schminke für das Gesicht, eine Lüge; beide ziehen nur ein blödes Auge an. Koketterie ist ein Polyp des Herzens; zerschnitten, scheinbar vernichtet tausendmal, wächst er wieder an, bis er es zerstört. Koketterie ist ein kleiner Selbstmord. Das Gift der Heuchelei wirkt rückwärts; seine unausweichliche Folge ist Selbstvernichtung. In kleineren Dosen – wirkt es wie Opium; es regt auf, erhitzt, entflammt, begeistert zum Kampfe gegen alles Feindliche, aber – ihm folgen Erschlaffung, Leere des Gemühtes, Ekel.

Die „Beichte“ an seine Braut ist daher auch von Schuldgefühlen bestimmt. Ich wollte beichten über alte Dinge, die Du wohl schon weißt die mich aber wieder berührt haben. Wende Dein mildes Herz nicht von mir beim Lesen. Theodor erklärt nun Constanze, warum ihn sein schlechtes Gewissen so plagt, und berichtet über seine Teilnahme am ersten Volksfest der Nordfriesen am 10. Juni 1844 in Bredstedt: In diesen sieben Jahren hatte ich Emma nicht gesehn, kaum von ihr gehört. ‒ Zum Volksfest hatte Freund Krebs, der bei Verschwägerten logiert, mir in deren Hause gastliche Aufnahme besorgt. Als ich nun in Bredstedt ankam, so stiegen wir im Wirtshaus ab und gingen sofort auf die zum Fest bestimmte Wiese. Kaum bin ich da, als Otto [Theodors Bruder] mir erzählt, Emma Kühl sei auch da und logierte in einem Hause mit mir. Meine Effekten waren auch schon da. Krebs, den ich fragte, musste eingestehen; er habe es mir verschwiegen, obgleich er jede Zeile der Geschichte kennt und selbst noch immer behauptet, sie sei das einzige Mädchen, das er lieben könnte, wenn nicht ‒ ‒ Trotz seinen Einreden quartierte ich mich gleich um; allein hätte ich sie wohl treffen wollen, ja ich wünschte es sogar, denn schwerer hab ich niemals je einem Menschen weh getan — es war mir aber unmöglich sie in Gesellschaft zu sehen und alles zu ignorieren. Ich war den Abend fast in Verzweiflung nicht an Dich schreiben zu können, um diese größte Schuld meines Lebens mit auf Dein junges Herz zu legen. Gut machen lässt sich so etwas nicht; die Reue muss ewig sein; ich will Dich immer treu und innig lieben. —

Wie erschüttert Theodor in diesem Moment gewesen sein muss, geht allein schon aus seiner verwirrten Zuschreibung der Goethe‘schen Faust-Verse zu Shakespeare hervor.

Constanze Du musst es deutlich fühlen, dass sie mir niemals vergeben kann, nie — Schackesspear sagt eine Stelle „Bei allen Qualen verschmähter Liebe! — Ich weiß nichts schlimmeres, wobei ich fluchen könnte.“ ich frage Dich jetzt, und schreib es mir, kannst Du mir dies in Deinem Herzen verzeihen, kannst Du mich dennoch lieben? Ich habe Emma nur von Fern gesehen; Helene hat mehrfach mit ihr gesprochen.

In den Herbsttagen des Jahres 1837 trug Storm trotz der wieder aufgeflammten Begierde nach Emma Kühl die Bilder noch in sich, die er sich von der sechseinhalb Jahre jüngeren Bertha von Buchan gemacht hatte. In den nächsten Wochen muss er sich Bertha wieder in Erinnerung gerufen und sich ein positives Imago vorgestellt haben, denn als es auf Weihnachten zugeht, nimmt er die Verteufelung der Geliebten zurück, die er in seiner Ballade Walpurgisnacht so exzessiv herausgeschrieben hatte. Nun tritt Theodor wieder als der Sänger in Erscheinung, der das geliebte Mädchen beschützt, indem er ihm Mut und Trost zuspricht.

 

Ein Schutzengel13

„Horch, wie heulet der Sturm, wie prasseln am Fenster die Schloßen!
Heut ist der erste Mai, die Nacht der Gespenster und Hexen.
Ist Dir nicht bange, Geliebter, durch Nacht und Wetter zu reiten? -
Bleib! ich wache bei Dir; ich kann Dich heute nicht lassen.“
Also sagte mein Lieb; doch mahnte die Mutter zum Scheiden;
Und dem vernünftigen Wort der ernsten Mutter gehorchend,
Nahm ich den Abschiedskuss, und tröstend das zärtliche Mädchen
Sprach ich: „Was sorgst Du mein Lieb! Lass toben Gespenster und Hexen;
Wem ein Engel im Herzen wohnt, den fürchten die Teufel.“

 

Anmerkungen


1 Theodor Storm an  Constanze Esmarch, Brief vom 11. Juni 1844 (Briefe Constanze, Bd. 1, S. 106).

2 Gertrud Storm 1907, S. 191 (Brief vom 7.12.1862). In einem vermutlich 1887 entstandenen autobiographischen Text „Wie wird man Schriftsteller von Beruf?“ bestätigt Storm dies: Mit 10 oder 12 Jahren, als eine sehr geliebte Schwester mir gestorben war, machte ich meine ersten Verse, in einer Umgebung, wo an dergleichen niemand dachte. (LL 4, S. 470).

3 MG, S. 1 als Nr. 1 mit dem Datum d. 17. July. 1833. eingetragen.

4 Brief vom 15. Juni 1844, Brautbriefe, Band 1, S. 117.

5 MG, S. 28 als Nr. 40 1835 eingetragen.

6 Husumer Königlich privilegirtes Wochenblatt, 20. Jg. 1835, vom 26. Juli, S. 238.

7 „Der Amtschirurgus – Heimkehr“; zit. nach LL4, S. 165 und 166.

8 Handschrift in Storms Exemplar des „Liederbuch(s) dreier Freunde.“

9 MG, S. 36 f. als Nr. 51 mit der Notiz 28 Sept. 35 eingetragen.

10 Theodor Storm an Theodor Mommsen, Brief vom 14. Mai 1843; Briefe Mommsen, S. 69f.

11 MG, S. 83; in der zweiten Dezemberhälfte eingetragen.

12 Damen Conversations Lexikon, Band 6. [o.O.] 1836, S. 178-179.

13 „Ein Schutzengel“ (später „Mein Talismann“) MG, S. 82. (Nr. 94) mit dem Hinweis 16 Dec 1837. umgearbeitet 31 May 39. Hier nach der Handschrift in MG.