Der die Königstochter freite ‒ „Hans Bär“. Ein Märchen für Bertha

 

Das Weihnachtsfest 1837 verlebte Theodor in seinem Elternhaus in Husum. Bertha sah er in diesem Jahr nicht wieder, aber er schickte ihr einen Brief, in dem ein Manuskript steckte, und das eine persönliche Widmung des Verfassers enthält.

 

Hans Bär

Ein Märlein erzählt von H. Th. W. Storm1
Seiner jungen Freundin Bertha von Buchan gewidmet vom Verfasser

In einem alten Fichtenwalde wohnte einmal vor vielen, vielen Jahren ein armer Köhler mit seiner Frau, die ihm erst vor kurzem ein gesundes Knäblein geschenkt hatte, das in der Taufe den Namen Hans empfing. Dieser entwickelte bald nach seiner Geburt eine solche Körperstärke, dass er drei kleine Hündchen, die die Eltern ihm als Spielkameraden beigegeben hatten, der Reihe nach mit seinen Händchen zu Tode drückte. Darüber schalten sie nun wohl den Knaben; in ihrem Herzen aber freuten sie sich über die so wunderbaren Anlagen ihres Söhnleins, und gedachten noch einmal etwas Großes aus ihm zu ziehen. Doch nicht lange sollten sie solcher Freude genießen, wie ich dir sogleich erzählen werde. ‒ Es hauste nämlich in diesem selbigen Walde ein ungeheurer Bär; dem hatten die Jäger seine beiden Jungen genommen, worüber er sehr betrübt war, und Tag und Nacht vor Schmerz im Walde umherheulte. So kam er auch einst vor das Haus des Köhlers, wo der kleine Hans an der Erde saß uns spielte. Als der Bär ihn gewahrte, ward er noch lebhafter gemahnt an seine eignen Kindlein zu denken, und, um Rache zu nehmen an den bösen Menschen, die sie ihm geraubt hatten, fuhr er auf den kleinen Hans zu, um ihn zu fressen; Hans aber riss ein Bäumchen aus der Erde, und schlug so tapfer auf den großen Bären los, dass dieser, erstaunt über die Kraft und den Mut des Kindes, bald ganz andern Sinnes ward und bei sich selber dachte: „Den Jungen sollst du mit in deine Höhle nehmen, und ihn säugen mit deiner Milch, und ihn so stark machen, wie es wohl sonst deine eignen Bärlein geworden wären, damit er dich wieder pflegen und schützen kann, wenn du einmal alt und schwach geworden bist.“ Solches dachte die alte Bärenmutter in ihrem Sinn, nahm dann trotz seines Schreiens und Sträubens den kleinen Hans gar sanft zwischen ihre Vordertatzen und trabte mit ihm waldeinwärts ihrer Höhle zu.

Kaum war sie daselbst angekommen, so legte sie auch sogleich ihr neues Pflegesöhnlein auf das weiche Lager, das sie vorher ihren eignen Kindern bereitet hatte, schüttelte ihm die Streu zu rechte und brummte ihn gar freundlich an, dass Hänschen sich allmählich beruhigte und endlich vor Ermattung und Müdigkeit einschlief.

Als er am andern Morgen die Augen aufschlug, sah er den alten Bären vor seinem Lager sitzen, der ihm mit seinen Tatzen eine Menge schöner, roter Erdbeeren darreichte, die er in der Frühstunde für ihn im Walde gepflückt hatte; dann bot er ihm seine Brust und säugte ihn mit seiner Milch, so dass Hänschen gar vergnügt ward, und den alten Bär bald auf dem breiten Rücken klopfte, ihn bald in seinem zottigen Pelz zauste, dass es eine Lust war. ‒ Als sie es so eine Weile getrieben hatten, ging der Bär wieder aus der Höhle, wälzte aber, bevor er wegging, einen ungeheuren Stein vor die Öffnung, dass unserem Hänschen rein Tor und Tür versperrt war, so gerne er auch hintendrein gewesen wäre.

So ging's eine Zeitlang fort; morgens ging der Bär aus, und mittags kam er wieder nach Hause, wo er denn immer eine schöne Beere oder Blume für sein Pflegesöhnlein mitbrachte, und nachdem er eine Weile mit ihm gespielt hatte, trabte er wieder bis gegen Abend im Walde umher; wälzte aber zu Hänschens großem Verdrusse stets den bösen Stein vor die Öffnung der Höhle. ‒

Nach und nach war Hänschen nun immer stärker und größer geworden, wozu der Genuss der kräftigen Bärenmilch wahrlich nicht wenig beigetragen hatte; und je stärker und größer er ward, desto verdrießlicher ward ihm der große Stein, der ihm den Weg zu dem schönen, grünen Wald versperrte; und als eines Morgens der alte Bär, wie gewöhnlich waldeinwärts getrabt war, um sich eine süße Portion Honig oder ein fettes Häschen zur Frühkost zu suchen, da setzte Hänschen mit aller seiner Macht den Rücken gegen den Stein, brachte ihn aber trotz seines Stampfens und Keichens nur ein Kleines von der Stelle; und als nun der alte Bär nach Hause kam, und es gewahrte, dass der Stein verschoben war, da sah er Hänschen gar grimmig an und legte nur noch mehr Steine vor die Tür, als er das nächste Mal die Höhle verließ. So musste Hänschen sich denn fürs erste in Geduld fassen; denn teils reichten seine Kräfte noch nicht hin, die Steine gänzlich von der Öffnung hinwegzuschieben, teils fürchtete er sich gar sehr vor dem Zorne des Bären, wenn dieser sähe, dass Hänschen trotz aller seiner Pflege einen zweiten Versuch zum Entfliehen machte. Als er aber endlich merkte, dass er groß und stark genug sei, um die Steine alle hinwegstoßen zu können, da hielt er's nicht länger aus: mit aller Macht stemmte er sich, als der Bär seine gewöhnliche Nachmittagsreise angetreten hatte, wieder einmal gegen die Steine ‒ ‒ ‒ und wer beschreibt die Freude! Knicks, Knacks! ging es, und rechts und links fielen und brachen die großen Steine auseinander. Da stand er nun in Gottes freier Natur, in die er sich so lange hinausgesehnt hatte, und um ihn rauschten die hohen, grünen Bäume und über ihm sangen die muntern Waldvögelein ihre hellen Lieder, dass ihm wohl gar froh und leicht ums Herz gewesen wäre, wenn er sich nicht gefürchtet hätte, der Bär möchte ihn wieder in die Höhle zurückbringen. Deshalb lief er, so schnell ihn die Füße nur tragen wollten, immer der Nase nach vorwärts, bis er endlich an eine Köhlerhütte kam. ‒

Indessen war es Abend geworden, und der Köhler ruhte mit seiner Frau schon aus nach der Arbeit des Tages; deshalb klopfte Hans, da er noch immer eine große Furcht vor dem Bären hatte, gar gewaltig an die Haustür, und als die guten Leute ihm endlich aufgemacht hatten und nach seinem Begehr fragten, bat er sie inständigst, ihn doch als Knecht in ihre Dienste zu nehmen, und erzählte ihnen seine ganze Geschichte, so weit er selber darum wusste. Der Köhler und seine Frau aber betrachteten ihn mit scharfen Augen, und erkannten gar bald an einem schwarzen Wärzchen, das Hänschen an der linken Schulter hatte, dass der Schutzflehende niemand anders sei, als ihr eignes Söhnlein, das sie vor vielen Jahren auf so wunderbare Weise verloren hatten. ‒ Wer war vergnügter, als Hans, dass er so unvermutet seine lieben Eltern wiedergefunden hatte! Wer war vergnügter, als der Köhler und seine Frau, als sie so unvermutet ihren lieben Sohn wiederfanden, der noch dazu aus einem kleinen Hänschen jetzt ein großer Hans geworden war. ‒

Als er nun eine geraume Zeit bei ihnen verweilt, und ihnen oft genug seine wunderbare Geschichte vorerzählt hatte, so sehnte er sich endlich in die Fremde, und kündigte eines Tages seinen Eltern an, dass er große Lust hege, sich einmal auf die Wanderschaft zu begeben; und da diese nichts dawider hatten, so schnürte er eines Morgens sein Bündel und ging davon.

Da er sich nun genugsam im Lande umgetan hatte, so ward er des längern Wanderns müde; und als er einst einen großen, stattlichen Bauernhof sahe, so bedachte er sich nicht lange, sondern kehrte alsobald ein und bot dem Hofherrn seine Dienste an. Dieser aber, als er sahe, dass es ein großer und starker Bursche war, fragte ihn nach seinem Namen und nahm ihn als Knecht in sein Haus. Zu derselbigen Zeit waren die Früchte gereift in den Obstgärten; daher ward Hans am andern Morgen in den Garten geschickt, um seines Herrn Obstbäume zu schütteln. Als er aber sein Schütteln anfing, da brach er von den Bäumen die Zweige samt den Früchten herunter, und als sein Herr bald nachher in den Garten trat, um die Arbeit seines neuen Knechtes nachzusehen, da sprach Hans gar treuherzig zu ihm: „Herr, eure Obstbäume müssen wohl gar alt und spröde sein, denn da ich die Früchte schütteln wollte, brachen die Zweige mit herunter!“ Der Herr aber gab ihm böse Worte, dass er ihm seine schönen Bäume verdorben habe; dann schickte er ihn in den Wald, um Holz zu fällen und gab ihm eine blanke Axt mit auf den Weg. Hans aber warf die Axt bei Seite und suchte sich eine starke eiserne Kette. Als er diese gefunden hatte, ging er, wie ihm befohlen war, in den Wald, befestigte bald an diesen, bald an jenen Baum seine Kette, und riss so einen nach dem andern mit der Wurzel aus, bis gegen Abend sein Herr mit den andern Knechten zu Wagen angefahren kamen, um das gefällte Holz nach Hause zu holen. ‒

Als sie aber sahen, dass der halbe Wald mit der Wurzel aus der Erde gerissen sei, wollten sie schier nicht ihren Augen trauen und fragten einer um den andern: „So sprich uns doch, Hans; wer hat dir solche Leibeskraft gegeben, dass du an einem Tage schaffest, was unsrer zehn nicht in hundert Tagen zu tun vermöchten!“

Hans, der bei aller seiner Stärke doch sehr gutherzig und gefällig von Natur war, befriedigte allen ihre Neugier, und erzählte seine Geschichte der Wahrheit gemäß; dann lud er zwei der dicksten Eichbäume auf seine Schultern, und ging gemächlich damit nach Hause. Die andern aber standen noch lange im Walde und suchten vergeblich die ausgerissnen Bäume auf ihre Karren zu laden.

Bald ward die Geschichte weit und breit bekannt, und weil Hans von einem Bären gesäugt und gezogen und dadurch auch die Stärke eines Bären erhalten hatte, so ward er allenthalben nur Hans Bär genannt.

Den Hofherrn und seine Knechte war über eine so unmäßige Leibesstärke ein gewaltiges Fürchten angekommen, weshalb sie den starken Hans auf alle mögliche Weise loszuwerden suchten, was ihnen aber durchaus nicht gelingen wollte. ‒ Da hielten sie heimlich einen bösen Rat und besprachen sich, wie sie den guten Hans Bär ums Leben bringen wollten, damit er ihnen durch seine Stärke nicht noch einmal groß Leids zufüge. ‒

Nachdem sie sich also beraten, trat eines Tags der Herr auf Hansen zu und sprach: „Siehe, meine Muhme hat mir vertraut, dass ihr Vater in dem Brunnen auf meinem Hofe einen Schatz vergraben habe, und da durch die Hitze das Wasser ausgetrocknet ist, so steige du hinab und grabe danach, ob du ihn finden mögest!“ Hans tat, wie ihm befohlen.

Kaum aber war er hinabgestiegen, so kam der Herr mit seinen andern Knechten, und warfen Steine in den Brunnen hinab, indem sie glaubten, ihn so leichtiglich aus dem Wege zu räumen. Hans merkte nun freilich ihre böse Absicht gar wohl, da ihm ihre Steinwürfe aber keine Schmerzen verursachten, so ließ er sie ruhig gewähren. Doch als sie nach und nach wohl einige hundert Steine hinabgeworfen hatten, da riss ihm endlich die Geduld. „So jagt mir doch die Hühner vom Brunnen“, rief er ihnen von unten zu, „dass sie mir nicht also den Sand in die Augen streuen, oder ich werde euch nie und nimmer den Schatz aus dem Brunnen herausgraben!“

Als der Herr und seine Knechte solche Reden hörten, erschraken sie sehr; nachdem sie sich aber etwas von ihrem Schrecken erholt hatten, wälzten sie einen großen Mühlenstein zum Brunnen und stürzten ihn hinab. ‒ Nun glaubten sie doch sicher, sich den gefährlichen Hans Bär vom Leibe geschafft zu haben. Aber Hans Bär fing den Mühlstein auf und steckte seinen Kopf durch das Loch, dass ihm der Stein wie ein Kragen um den Hals hing, und als sie in den Brunnen hinabsahen, um sich seines Todes zu versichern, da rief er ihnen lachend zu: „Was, wollt ihr mich noch gar zum Pfaffen machen, dass ihr mir einen so gewaltigen Priesterkragen um den Hals hänget! Doch jetzt lasst's zu Ende sein mit der Narretei, und zieht mich heraus!“ Und somit schleuderte er den Mühlenstein aus dem Brunnen hervor, dass einer der bösen Knechte darunter begraben wurde. Die andern aber fürchteten sich heftig, und zogen ihn alsobald heraus. Der Herr aber sahe, dass sie viel zu schwach seien, um einem so starken Manne das Leben zu nehmen, und bot ihm schweres Gold, wenn er sich wegen ihres bösen Willens nicht an ihnen rächen, sondern sein Bündel schnüren und das Haus verlassen wolle. ‒ Und Hans, der sich noch weiter in der Welt umsehen wollte, nahm das Gold, schnürte sein Bündel und ging davon.

 

Titel und Widmung in Storms Handschrift

 

Als er nun einige Tage marschiert hatte, so hörte er weit und breit gar viel Geredes von der großen Schönheit der Königstochter; zugleich aber vernahm er, wie ein ungeschlachter Riese sie zu seinem Ehgemahl begehre, und wie darüber der König, ihr Vater, gar sehr in Angst und Nöten sei, so dass er jedem, der den Riesen erlege, die Hälfte seines Reichs und seine Tochter zur Gemahlin versprochen habe.

Hans wurde immer neugieriger, die schöne Prinzessin zu sehen. Denn je näher er der Königsstadt kam, desto mehr hörte er von ihrer unvergleichlichen Schönheit und Herzensgüte reden. Endlich war die Stadt erreicht. ‒ Da saß die schöne Königstochter, und schaute aus dem Erkerfenster ihres Schlosses, und weinte gar bittere Tränen, dass ein so abscheulicher Riese sie als sein Ehgemahl hinwegführen sollte. ‒

Hans war so von ihrem Anblick bezaubert, dass er sogleich bei sich beschloss, den Kampf mit dem Riesen zu bestehn, der schon drei schöne und tapfre Ritter erschlagen hatte, die um die Königsbraut mit ihm zu fechten wagten. Daher ging er alsobald zu einem Waffenschmied, und kaufte sich für das Gold, das er von seinem frühern Herrn empfangen hatte, einen schönen Helm, einen blanken Eisenrock, vor allen Dingen aber ein scharfes, starkes Schwert. So ausgerüstet trat er vor den König, und bat ihn um die Erlaubnis, mit dem Riesen zu kämpfen. Dieser aber gab ihm seinen Segen und versprach ihm seine Tochter und sein halbes Reich, falls er den Riesen erlegen sollte. Als Hans aber hinweggegangen war, da warf sich der gute König auf seine Knie' und betete für seine Seele, denn er glaubte sicherlich, dass auch er, wie die andern drei, seinen Todesstreich empfangen würde. ‒

Hans suchte indessen den Riesen auf, um ihn zum Zweikampf herauszufordern. Als der ihn kommen sahe, glaubte er wieder gar leichtes Spiel zu haben. Deshalb lehnte er sich gemächlich an einen Baumstamm und höhnte ihm entgegen: „Männlein, bist du vielleicht auch kommen, mir den Hals zu brechen! so versuche doch einmal, bevor du deinen schrecklichen Sarras gegen mich ziehest, wie hoch du mein Schwertlein da von der Erde heben mögest!“ Und somit schnallte er sich sein ungeheures Schlachtschwert von der Hüfte und warf es auf den Grund. Als der Riese solches tat, vermeinte er aber, dass Hans, wie die drei andern, es gar nicht vom Boden würde aufheben können. Hans aber hub mit einer Hand das furchtbare Schwert hoch über seinen Kopf, und schleuderte es weit von sich weg, dass es bis an den Griff in die harte Erde hinabfuhr. ‒ Da dachte der Riese bei sich selber: Der ist wohl noch stärker, als du und redete ihm zu und sprach: „Ich sehe nun gar wohl, dass ich dir Unrecht getan habe, und dass du ein nicht gemeiner Kämpfer bist; deshalb lasst uns Frieden schließen mit einander; denn zwei so wackre Streiter sollten billig als Freunde auseinander scheiden. Siehe, ich gebe dir so viel Gold und Goldeswert, als du nur immer auf drei Wagen hinwegzuführen vermagst. Du aber ziehe deine Wege, und lass mir die schöne Königstochter; denn ich liebe sie mehr, als alles Gold und Edelstein der Erde.“

Hans aber liebte die schöne Königstochter selber mehr, denn alles Gold und Edelstein der Erde, ja mehr, denn sein eignes Leben, und hörte nicht darauf, was der Riese sprach, sondern zog alsobald sein Schwert, und der Riese musste nun das Seinige aus der Erde herausziehn, wohin Hans es so eben geschleudert hatte, Hu, wie da die Schwerter an einander schmetterten, dass die hellen Funken heraussprangen! Doch nicht lange, da trennte Hans mit einem gewaltigen Hiebe den Kopf des Riesen vom Rumpfe, dass von seinem schwarzen Blute rings die grüne Erde bespritzt ward. Darauf nahm er das abgeschlagene Haupt des Riesen als Zeichen seines Sieges mit sich und ging wieder auf das Schloss des Königs, um ihm die frohe Botschaft von dem Tode seines Feindes zu melden und ihn an sein gegebnes Versprechen zu erinnern.

Als der König ihn so in sein Gemach treten sah, so ging er ihm entgegen und umarmte ihn und freute sich mit ihm seines Sieges. Dann sprach er zu ihm: „Komm mit mir mein Sohn, dass ich dich zu der Prinzessin, meiner Tochter, führe und dir die Hälfte meines Reiches abtrete.“ Und als sie nun zu der schönen Königstochter kamen, da freute auch sie sich über den Tod des bösen Riesen und über den schönen Mann, den ihr der König als künftigen Gemahl zuführte. Denn obgleich Hans Bär von großer Leibesstärke war, so war seine Schönheit doch nicht geringer, denn seine Stärke. Daher freute sich die Prinzessin gar sehr eines so schönen Bräutigams, und reichte ihm bald vor dem Altare Herz und Hand. ‒

Kurz nachher starb der alte König, und nachdem sie ihn feierlich begraben, und Hans nun auch die andre Hälfte des Reichs von seinem Schwiegervater ererbt hatte, fuhr er alsbald mit seiner Gemahlin nach seiner Heimat, um seine Eltern und Geschwister mit sich nach seiner Residenz zu nehmen. ‒

Wie diese erstaunten, als die große goldne Kutsche vor die niedrige Tür der Köhlerhütte rollte und stille hielt, brauche ich dir wohl nicht erst zu beschreiben! Und als sie nun vollends in dem Könige ihren lieben Sohn Hans erkannten, der ihnen die schöne Prinzessin als ihre Schwiegertochter zuführte, da war gar des Staunens und der Freude kein Ende! Hans aber fuhr mit Eltern und Geschwistern und seinem ganzen Gefolge nach der Bärenhöhle, zu seiner alten Pflegemutter. Und als sie nun nicht weit mehr davon waren, da fingen sie alle an, sich zu fürchten und baten den König umzukehren. Doch er beruhigte sie, und ging, da sie alsbald bei der Höhle angekommen waren, ohne alle Begleitung hinein. ‒ Doch wie erschrak er! ‒ Da lag der gute Bär gar kümmerlich auf seinem Lager hingestreckt und wollte sterben. Denn da er so krank und schwach war, dass er sich selbst keine Speise mehr aus dem Walde holen konnte, so wäre er beinahe den Hungertod gestorben, wenn König Hans nicht noch zur rechten Zeit darüber zugekommen wäre.

Als der Bär seinen Pflegesohn erkannte, wollte er sich aufrichten, um ihm entgegen zu kriechen; doch seine Kräfte versagten ihm und er fiel wieder auf sein Lager zurück. Hans aber rief seinen Dienern zu, ihm Speise und Trank zu bringen; dann setzte er sich zu seinem Bären auf die Streu und streichelte ihn mit seinen Händen und pflegte ihn auf alle Weise. ‒ Und der Bär leckte mit seiner rauen Zunge die Hände des Königs, und sahe ihn gar freundlich an, als wollte er sagen: „So kommst du doch endlich noch, um mir den letzten Dienst zu erweisen, und ich habe dich doch nicht umsonst gesäugt und gepflegt.“ ‒

Nach und nach waren alle in die Höhle getreten, und die Königin legte den Kopf des alten Bären auf ihren Schoß, indem sie ihn mit ihren schönen Händen streichelte und sich, wie ihr Gemahl, auf alle mögliche Weise um ihn beschäftigte.

Doch alles umsonst! Der gute Bär war zu alt und zu schwach, um noch länger leben zu können. ‒

Nachdem er noch einen dankbaren Blick auf den König und seine schöne Gemahlin geworfen hatte, streckte er seine Glieder aus und verschied. Der König aber weinte um seine alte Pflegemutter und alle waren gar sehr betrübt über den Tod des guten Tieres und standen noch lange an seinem Lager. ‒

Dann begruben sie ihn unter dem Stamm einer alten Eiche, und fuhren alle nach der Königsstadt zurück, wo Hans Bär, der König, noch viele Jahre mit seiner schönen Gemahlin glücklich und in Frieden regierte. ‒

 

Zu Theodors großer Enttäuschung musste er gut zwei Monate auf eine Antwort Berthas warten. In der zweiten Märzhälfte traf endlich der Dankesbrief in Kiel ein, begleitet von einem Schreiben ihrer Pflegemutter.

Bertha schrieb am 15. März an Theodor2: Lieber Theodor, es tut mir so sehr leid, Dir, wegen meiner langen Augenkrankheit, nun so spät erst, meinen Dank, für die Freundlichkeit, mit welcher Du meiner gedacht hast, aussprechen zu können; aber früh oder spät, kommt er doch immer aus warmem Herzen. Das hübsche Märchen hat Mutter mir gleich vorgelesen, da mir meine Augen nicht erlaubten es selbst zu tun, und ich fand mich ganz in Deine Stelle versetzt, indem ich mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört habe. […]

Es ist doch eigentlich sehr sonderbar, vor Weihnachten war mir immer, als wünschte ich das Fest mit Vater im Hause zu feiern, um mich so recht seiner Gegenwart freuen zu können, und dann dachte ich wieder: wer weiß, ob die gute Madame Alsen das Fest nach einem Jahre noch erlebt, und dann dachte ich daran wie froh wir das Jahr vorher waren und möchte es gerne noch einmal mit ihr zusammen feiern; aber da wollte der liebe Gott es anders, und nahm sie so schnell von uns zu Sich. Wie waren wir doch vergnügt, damals als Du auch da warest! wer hätte es wohl geahnt dass es nach einem Jahre dorten so verändert sein würde! –

Aber wie der Mensch das Traurige sehr leicht vergisst, so waren wir denn auch in unserer neuen Freude sehr vergnügt; wir beschenkten uns gegenseitig mit vielerlei schönen Sachen, wovon die Meinigen mir viele Freude machten. Hast Du auch schon einige Duelle bestanden und von den enorm großen Pflastern gebraucht? wenn das ist, so hast Du wohl kaum noch davon. Mein Brief wird Dir wohl schon zu lang, lieber Theodor, aber es ist nun einmal nicht zu ändern, lang ist er, aber [Textverlust] aus. Hast Du einmal Lust und Zeit so schreibe mir wieder. Viele freundliche Grüße von Mutter und Jette. Lebe wohl, lieber Theodor, und vergiss nicht Deine Freundin

Bertha von Buchan.

 

Brief Berthas an Theodor vom 15. März 1838

 

Eine Antwort Storms ist nicht erhalten; aber er reagierte auf ein ebenfalls verschollenes Begleitschreiben Therese Rowohls vom selben Tag3: Der Empfang Ihres freundlichen Schreibens, meine werte Freundin, hat mir unendliche Freude gemacht; denn ich habe, außer Berthas Augenübel, alles darin gefunden, wie ich es nur wünschen konnte. Sie sagen mir, ich hätte Bertha durch mein Märlein eine Freude gemacht? ‒ Ich zweifelte hinterher daran; doch wenn Sie es mir sagen, so will ich es zu meiner Beruhigung glauben. ‒ Ich hätte mir das Vergnügen für Vieles nicht versagen können, meine kleine Arbeit in Berthas Hände zu legen; es hat etwas beseligendes für mich, das was ich in meinen unschuldigsten Stunden gedacht und geschrieben habe, von gläubigen Kinderseelen gelesen zu wissen. Bertha ist aber das einzigste Kind, dem ich mich auf diese Weise mitteilen kann und mag; denn sie hat gewiss Verstand und Gemüt; beides verlange ich von meinen Freunden, denn der Verstand allein versteht selten, was das Herz spricht.

Doch ich spreche immer von einem Kinde und am Ende ist gar kein’s mehr vorhanden. Meine gute Bertha muss es mir nun einmal verzeihen, dass ich das Jahr nicht rechne, worin ich sie nicht gesehen habe.

 

Storm hoffte zu dieser Zeit, dass Bertha bereits den Kinderschuhen entwachsen wäre. In sein Notizbuch trug er folgendes Gedicht mit dem Hinweis in Kiel ein:

 

Zusammen Bub und Mädchen4
Die wanden Kränzelein,
Und flochten unversehens
Die Herzen mit hinein.

Die Blumen alle welkten
Die Bänder lösten sich;
Die Herzen aber hielten
Zusammen ewiglich.

 

Volksbuch auf das Jahr 1846 für die Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Altona 1845.

 

Eine erste Reaktion stammt von ihr selber; im Brief vom 15. März schreibt sie darüber5: Es ist doch ein recht guter Junge, der Hans, dass er niemals Böses mit Bösem vergilt; wenn er da im Brunnen sitzt und sich den Mühlstein als Pastorenkragen überhängt, das ist eine prächtige Szene! Dann hat er so ein dankbar treues Gemüt, das gefällt mir so, dass er immer auch im Glücke die Erinnerung an seine Bärenmutter nicht verloren hat; und dass er den ungeschlachten Riesen tötete, war sehr gescheut, was sollte der mit der schönen Prinzessin anfangen; sie war auch gegen die alte Bärin so freundlich liebevoll wie gegen Hansens Eltern, kurz, lieber Theodor, Dein Märchen ist hübsch und erbaulich, habe Du auch noch recht vielen Dank dafür.

Dieter Lohmeier6 bewertet Storms erste produktive Auseinandersetzung mit der Gattung des Märchens. In seiner Verbindung von Motiven des Volksmärchens, wie die Brüder Grimm sie in die Dichtung der Romantik eingeführt hatten, und familiärer Sentimentalität ist es ein recht bezeichnendes Produkt des literarischen Biedermeier. Es ist also aus derselben Kultur harmloser und bescheidener Bürgerlichkeit erwachsen, aus der der zwölf Jahre ältere Hans Christian Andersen seit der Mitte der 1830er Jahre bereits seine stilistisch viel raffiniertere Märchenkunst entwickelt hat. Es ist durchaus möglich, dass Storm zu diesem Zeitpunkt bereits Andersens Märchen in der Originalsprache gelesen hat, denn in Hans Bär findet sich bereits einer jener Erzählerkommentare (wie ich dir sogleich erzählen werde), die Storm einige Jahre später nach Andersens Vorbild auch in seinem Märchen Der kleine Häwelmann verwenden wird.

Der Märchenheld Hans wird als besonders stark dargestellt; zunächst bereiten seine ungewöhnlichen natürlichen Kräfte den Eltern Pein, dann verleiht ihm die Pflegemutter zusätzliche Bärenkräfte. Hans löst sich als Heranwachsender von der einnehmenden Pflegemutter und zieht in die Ferne. Dort muss er sich seiner Haut wehren und kann schließlich eine Prinzessin gewinnen, die von einem Riesen begehrt wird. Der Schwiegervater nimmt ihn wohlwollend auf, und so kann geheiratet und eine Familie gegründet werden. Der erfolgreiche Held besucht seine Eltern und kann auch seiner Pflegemutter, der Bärin, bei ihrem letzten Gang beistehen.

Heinrich Detering7 deutet diesen Text als eine Erzählung von seelischen und körperlichen Gewalten, die in familiale Strukturen integriert und so gebändigt werden sollen: von einer Aggressivität, deren Ziel die wiedergewonnene Kindlichkeit ist.

Die Prinzessin wird nicht näher beschrieben, es heißt nur, sie sei schön. Hingegen zeichnet Storm ein auf den Helden konzentriertes Bild eines Übermenschen, das er nach der blassen Vorstellung der Prinzessin als ebenfalls schönen Menschen noch schnell nachliefert: Denn obgleich Hans Bär von großer Leibesstärke war, so war seine Schönheit doch nicht geringer, denn seine Stärke.

Detering weist auf die Funktion der Erzählung hin8; das Märchen hat Storm nur für seine junge Freundin Bertha geschrieben und nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Alle Aggressivität dient in diesem Text letztlich dazu, eine Kindheit nachzuholen, die es nie gab. Die Erzählung davon inszeniert, als Geschichte von „Hans Bär“, den Schreiber selbst als den Triumphator seiner eigenen Größenphantasie und schreibt zugleich, als „Märlein“, seiner Freundin die Position eines märchenlesenden Kindes zu.

 

Anmerkungen


1 Titel und Widmung nach der Handschrift in StA; Text nach der Edition in LL 4, S. 11-20.

2 Bertha von Buchan an Th. Storm, Brief vom 15.03.1838, Umschlag: S   r Wohlgeboren/ Herrn Theodor Storm/ Stud: Jur:/ Ad: Herrn Kupprasch/ Kettenstraße/ Kiel/ frei; StA, Husum. Zitiert nach Eversberg 1995a, S. 102-104.

3 Theodor Storm an Therese Rowohl, März 1838; Umschlag: Ihr. Wohlgeboren/ Fräulein Therese Rowohl./ Dienerreihe/ in/ Hamburg./ frei, StA, Husum. Zitiert nach Eversberg 1995a, S. 101.

4 MG StA, Husum, S. 82 mit dem Hinweis in Kiel; später unter der Überschrift „Kranzwinden“ als Kalenderspruch zum Monat Mai gedruckt im Volksbuch auf das Jahr 1846. Hier nach der Handschrift.

5 Ebenda, S. 103f.

6 Im Kommentar Zu „Hans Bär“; in: LL 4, S. 576f.

7 Detering 2011, S. 58.

8 Ebenda, S. 62.