Vom Königskinde, das in Ketten liegt – Der Märchenerzähler

 

In ihrem verspäteten Dankesbrief für das  Märchen Hans Bär, das ihr Theodor zum Weihnachtsfest 1837 geschenkt hatte, machte das Mädchen, mit dem sich der junge Student schon auf ewig in Liebe verbunden sah, ihm Hoffnungen, indem sie ihn (gewiss mit dem Einverständnis ihrer Pflegemutter) zum Osterfest am 15. April 1838 nach Hamburg einlud.1 Es wäre doch recht nett wenn Du Ostern kämst, dann wollten wir wieder recht vergnügt sein und tanzen denn ich tanze jetzt auch sehr gerne, kannst Du es nicht so einrichten? Du wirst wohl schon von Tante Scherff erfahren haben, lieber Theodor, dass wir den Weihnachtsabend nicht bei ihnen waren, teils weil sie allein sein wollten teils weil wir auch Besuch hatten, nämlich meinen lieben Vater, der seit sieben Jahren dies schöne Fest nicht mit mir gefeiert hatte.

Nach Beendigung des Wintersemesters 1837/38 fuhr Theodor Storm von Kiel nach Husum; dort blieb er ein paar Wochen, um sich dann auf den Weg nach Berlin zu machen, wo er sein Studium fortsetzen wollte. Die Reise führte ihn über Altona, wo er wieder bei der Familie Scherff unterkam und Ostern mit der nun 12jährigen Bertha in Hamburg verbrachte.

An die Ostertage 1838 erinnert ein Gedicht, das im Frühjahr 1839 zwischen dem Winter- und dem Sommersemester in Storms Notizbuch „Meine Gedichte“ eingetragen wurde.

 

Widmung2

An frohverlebte Tage dacht ich wieder,
Und die Gedanken führten mich zu dir.
Ich hielt die leichten Blätter in den Händen,
Ich dacht’ an dich, und dachte: Send’ sie ihr!
Doch sah ich dann auf meine armen Lieder,
So riss es mich aus meinen Träumen wieder.
Ich dachte: Nein – doch, wie ich immer bin,
Ein rascher Pulsschlag nur, und ‒ nimm sie hin
Sieh, wie ich dein gedenke alle Zeit,
So haben ja nicht flüchtige Sekunden
Zu eigen meine Lieder dir geweiht;
Dein waren sie in ihren ersten Stunden. –
Wohl hab’ ich alte Märchen dir erzählet
Vom Königskinde, das in Ketten liegt,
Und von dem Riesen, der sie arg bewachet,
Und von dem Ritter der das Tier besiegt.
Und wenn ich dir der Jungfrau Schmerzen malte,
Ich sah nur dich in jenen Ketten zagen;
Dann griff ich schwärmend zum gewicht’gen Schwerte
Und durft im Geist mein Leben für dich wagen.
Ich dachte dich, wenn ich die Blume nannte,
Die taubeglänzt im stillen Garten steht;
Ich dachte dich, wenn ich dem Engel dankte,
Der segnend still mit mir durchs Leben geht.
Und wie das Bild sich immer mocht entfalten,
Du warst es stets in ähnlichen Gestalten;
Dein bin ich ja mit meinem ganzen Sein;
O nimm mich auf! ‒ die Lieder geb’ ich d’rein!

 

An diese frohverlebte Tage erinnert sich Theodor (Wohl hab’ ich alte Märchen dir erzählet) und an seine Rolle, die er dabei in seiner Fantasie symbolisch ausmalte. In seinem Gepäck hatte er Märchen-Manuskripte, von denen er einige bereits vor der Niederschrift seines Hans Bär gesammelt und aufgezeichnet hatte.3 Eines der Märchen handelt Vom Königskinde, das in Ketten liegt. Das Motiv der durch einen Riesen entführten Prinzessin, die in Ketten schmachten muss, ist in der Märchenüberlieferung sehr verbreitet.

Vier der Texte, die er Bertha vorlas, lassen sich identifizieren; es sind Erzählungen, die zeigen, wie Storm bereits zu dieser Zeit Märchenmotive sammelte und dabei auf schriftliche und mündliche Quellen stieß, die er in einem Prozess der Aneignung abschrieb, redigierte und teilweise auch neu formulierte.4

 

Der faule Hans5

Es war einmal ein Junge, der hieß Hans, der war so faul, dass er beim Wasserholen den Eimer nicht zum Brunnen tragen mochte. Da sagte die Mutter: „Hans, nimm de Schufkar un för em hen.“ Da nahm er die Schubkarre und fuhr darauf den Eimer zum Brunnen. Als er nun bei des Königs Schloss vorbei fuhr, stand da die Prinzessin auf dem Balkon; und wie sie das faule Fuhrwerk so einher ziehen sah, musste sie so gewaltig lachen, dass es weit durch die Straßen herabschallte. Das ärgerte den Hans, und er dachte: „Kunn ick di wat wünschen!“ Als er nun beim Brunnen stand, lief ein allerliebstes Goldfischchen aus der Brunnenröhre; das wollte der Hans fangen; aber das Fischlein fing an zu sprechen und bat den Hans um seine Freiheit, dann dürfe er sich auch was wünschen. Da ließ er’s laufen und brummte: „So wünsch ick, dat de Prinseß noch vorm Abend en lütten Jung kriegt.“

Als nun der Abend kam, hatte die Prinzess einen kleinen Jungen. Der König, ihr Vater, wollte aber, dass sie auch einen Mann dazu haben sollte und ließ alle Männer des Reichs in den großen Königssaal hinaufkommen, ihrem kleinen Jungen gab die Prinzess einen goldnen Apfel in die Hand und stellte ihn damit mitten in den Saal. Wem er den goldnen Apfel geben würde, der sollte sein Vater und ihr Gemahl sein. Und es zogen vorüber zuerst die Herzöge und Grafen des Reichs, dann Beamte und reiche Kaufherren, dann die Handwerker, die Tagelöhner und Dienstknechte, aber das Büblein stand unbeweglich mit seinem goldenen Apfel.

Hans aber lag zu Hause und war zu faul, die Schlosstreppe hinaufzusteigen, bis ihn die Mutter mit Gewalt dazu trieb, da musste er, kaum trat er in den Saal, so lief das Büblein auf ihn zu und gab ihm den goldnen Apfel. Da ließ der König Hochzeit ausrichten für Hans und seine Tochter, und die Prinzess hatte über ihren eigenen Gemahl gelacht.

 

Hans, der sich die Welt besieht6

Es lebten einmal in einem Dorf ein Mann und eine Frau, die hatten drei Söhne. Den jüngsten aber nannten die andern beiden nicht anders als den dummen Hans. Wie die drei nun herangewachsen waren, wollten die beiden ältesten sich die Welt besehen. Dazu hatte der dumme Hans auch Lust und bat die Brüder, ihn mitzunehmen. „Was willst du dummer Hans dir die Welt besehen!“ riefen sie, aber endlich nahmen sie ihn doch mit. Sie machten aber mit einander aus, wer nach Jahresfrist das beste Tischtuch zurückbringe, der solle der Erste im Hause sein.

Nach einigen Stunden kamen sie an einen Kreuzweg, da ging Hans links und die Brüder rechts, und sie freuten sich sehr, den dummen Hans los zu sein. Hans aber ging getrost immer der Nase nach, bis er in einen Wald kam, wo eine Vertiefung in der Erde war. Hans blieb stehen und betrachtete sich das Ding von allen Seiten, und es wunderte ihn, ob es ein Fuchsloch wäre oder ein anderes Loch. Da kam ihm ein Einfall. Er legte sich längelang hin und kroch in das Loch hinein. Da wurde ihm doch wunderlich zu Mut bei seiner Maulwurfsreise, denn der Gang wollte gar kein Ende nehmen, bis er sich endlich in einer geräumigen Höhle befand, die er für einen Pferdestall hielt; denn vier prächtige Schimmel standen an den gefüllten Krippen. Wo Pferde sind, müssen auch Menschen sein, dachte Hans und ging getrost weiter. Er öffnete eine Thür am unteren Ende des Stalles, da kam er in ein großes, herrlich geschmücktes Gemach und dann wieder in ein zweites, in dem ein Eckschrank, ein Stuhl, ein Tisch und ein Bett standen. Auf dem Stuhl aber lag eine alte graue Pudelmütze.

Wie Hans das Bett sah, stieg er alsbald hinein und schnarchte sich in den Schlaf. Beim Erwachen hungerte ihn sehr, aber wie er sich umsah, stand vor dem Bette ein Tisch beladen mit den leckersten Speisen.

Da fand Hans, dass seine unsichtbaren Wirte doch Lebensart hatten, ließ sich’s wohl schmecken und schlief dann wieder ein. Und nach dem ersten Tage dachte Hans sogleich, dass er’s hier wohl noch einen Tag aushalten könne. Aber aus den Tagen wurden Wochen und Monde und endlich ein ganzes Jahr, während dessen Hans seine Zeit redlich in Essen, Trinken und Schlafen teilte. Da, als das Jahr herum war, fing die alte Pudelmütze, die Hans noch garnicht beachtet hatte, auf einmal an zu sprechen und rief „Hans, geh’ nach Haus, das Jahr ist um, und deine Brüder warten auf dich.“ Da wurde Hans wieder inne, warum er eigentlich von Haus gezogen, und er klagte sehr, dass er kein Tischtuch mit zurückzubringen habe. Aber die Pudelmütze hieß ihn gutes Muts sein und im Eckschrank nachsuchen; da fand er das schönste Tischtuch, das noch gesehen ist. Damit machte er sich auf den Weg nach Hause, wo die Brüder schon waren mit ihren Tischtüchern; aber Hansens Tischtuch war weit das schönste. Der Erste im Hause ward er aber doch nicht, sondern blieb der dumme Hans wie vorher.

Nach einiger Zeit beschlossen die beiden Ältesten wieder in die Welt zu gehen, und wer das meiste Geld verdienen könne binnen Jahresfrist, der sollte der Erste im Hause sein. Wie nun der dumme Hans wieder mit wollte, sagten die Brüder: „Was willst du dummer Hans dir die Welt besehen!“ aber endlich mussten sie ihn doch mitnehmen.

Am Kreuzweg aber gingen sie rechts und ging Hans links und wieder in seine Höhle, wo er alles antraf, wie er es verlassen. Hier verlebte er wieder ein ganzes Jahr und teilte seine Zeit in Essen, Trinken und Schlafen. Und als das Jahr herum war, ermahnte ihn die Pudelmütze, nach Hause zu gehen, wo die Brüder seiner warteten, und befahl ihm, unbesorgt zu sein um das Geld, das er mit zurückbringen solle; im Eckschrank sei so viel, als er nur brauche. Da nahm sich Hans den größten Geldbeutel und zog nach Hause. Da hatte er das meiste Geld verdient, und die Goldstücke gefielen den Brüdern. Aber am andern Tage war er doch nicht der Erste, sondern nur der dumme Hans, der nichts anderes versteht als Brotessen.

Und abermals nach einer Zeit beschlossen die beiden Ältesten wieder in die Welt zu gehen und sich eine Frau zu suchen, und wer die schönste heimführe binnen Jahresfrist, der solle das ganze Erbe haben. Wie nun der dumme Hans wieder mit wollte, sagten die Brüder: „Was willst du dummer Hans dir die Welt besehen!“ aber endlich mussten sie ihn doch mitnehmen. Am Kreuzweg aber gingen sie rechts und ging Hans links und wieder in seine Höhle, wo er alles antraf, wie er es verlassen, und seine Zeit redlich in Essen, Trinken und Schlafen teilte. Als aber das Jahr herum war bis auf drei Tage, da sprach die Pudelmütze: „Hans, du hast noch drei Tage, dir die schönste Frau zu suchen; geh in den Stall und nimm das Beil, das da liegt, damit fälle den umliegenden Wald, aber in einem Tage.“ Hans gab sich nicht die Mühe, das zu begreifen, aber er ging in den Stall, nahm das Beil und kroch hinaus in den Wald. Da suchte er sich die dünnste Eiche aus, um damit sein Werk zu beginnen. Kaum war sie gefallen, so fiel zugleich der ganze Wald. So! dachte Hans, rieb sich die Hände, kroch in seine Höhle und legte sich hin, von der Anstrengung auszuschlafen. Am andern Tage sprach die Pudelmütze: „Geh hin, Hans, mache die Bäume klein und errichte daraus einen Scheiterhaufen, und wenn du ihn angezündet hast, so wirf mich selbst hinein. Und was auch für Ungeheuer aus dem brennenden Scheiterhaufen kriechen, die musst du alle töten und verbrennen, aber alles in einem Tage.“ Hans ging ans Werk, und wie er einen Baum zerhackt, da war der ganze Wald kleingemacht; und wie er ein Stück Holz zum Scheiterhaufen getragen, hatte sich der von selbst aufgebaut. Da steckte Hans ihn an. Aber wie er die Pudelmütze hineinwerfen wollte, dauerte sie ihn, weil sie ihm so gut gewesen, und er wollt’ ’s nicht tun; erst als sie ihm drohte, dass er sonst keine Frau bekommen würde, musste er’s wohl tun. Da krochen Schlangen und Drachen aus dem Feuer, die packte er und warf sie wieder hinein, und so dauerte es eine Zeit, bis alles verbrannt war. Darauf kroch er in seine Höhle und schlief weinend ein, denn er hatte seinen Freund verbrannt und keine Frau wieder. Wie er am Morgen aber die Augen aufschlug, lag an seiner Seite die wunderschönste Prinzessin von der Welt. Da sprang er erschrocken aus dem Bette und rieb sich die Augen und sah, dass er eine Frau habe. Sie aber schlug die schönen blauen Augen auf und sah Hans gar zärtlich an; dann erzählte sie ihm, wie vor vielen hundert Jahren eine böse Zauberin sie in eine alte Pudelmütze verwünscht habe, und wie sie von ihm erlöst und seine Frau sei. Das gefiel ihm wohl, und sie kleideten sich in die prächtigen Gewänder, die für sie auf den goldenen Stühlen lagen, und die prächtig gekleideten Diener halfen ihnen. Dann führte die Prinzess ihren Gemahl durch eine Reihe herrlicher Zimmer. Denn wo früher eine Höhle war, stand jetzt ein wunderschönes Schloss mit Park und Dienerschaft; das hatte Hans alles mit erlöst.

Wahrscheinlich las Theodor auch ein drittes Märchen vor, aus dem er die Motive für sein Weihnachtsgeschenk Hans Bär geschöpft hatte.

 

Das Blaue Band7

Es war einmal ein Mann, der war sehr arm und krank dazu. Als er nun fühlte, dass er sterben sollte, rief er seine Frau an sein Bett und sprach zu ihr: „Liebe Frau, ich fühle, dass es mit mir zu Ende geht; nun würde ich ruhig und ohne Sorge sterben, wenn ich nur wüsste, dass es dir und unserm Hans nach meinem Tode gut ginge. Ich kann euch nichts hinterlassen, was euch vor Not schützen könnte; aber wenn ich gestorben bin, so geh du mit unserm Sohn zu meinem Bruder, der jenseits des großen Waldes in einem Dorfe wohnt. Das ist ein wohlhabender Mann und er ist immer brüderlich gegen mich gesinnt gewesen; der wird für euch sorgen.“ Darauf starb der Mann; und als er begraben war, begab die Frau sich mit ihrem Sohn auf den Weg zu dem Bruder, wie ihr verstorbener Mann ihr befohlen hatte. Aber die Mutter hasste den Sohn und war ihm feind auf alle Weise; Hans aber war ein guter Junge und schon ziemlich erwachsen. Als sie nun eine gute Strecke gegangen waren, lag da ein blaues Band am Wege. Hans bückte sich und wollte es aufnehmen, aber die Mutter sprach: „Lass doch das alte Band liegen; was willst du damit?“ Hans aber dachte: „Wer weiß, wozu es gut ist! Es wäre doch wirklich schade, wenn das schmucke Band hier liegen bliebe“; nahm es also mit und band es heimlich, damit seine Mutter es nicht gewahr würde, unter seiner Jacke um den Arm. Da ward er nun so stark, dass niemand, so lange er das Band trug, ihm etwas anhaben konnte und alle ihn fürchten müssten.

Nun gingen sie weiter und kamen in den großen Wald, und nachdem sie lange darin herumgewandert waren, gelangten sie an eine Höhle. Da stand da ein gedeckter Tisch, besetzt mit herrlichen Speisen in silbernen Schüsseln. Hans sprach: „Da kommen wir just zur rechten Zeit, mich hungerte schon lange; ich will mich erst einmal hier satt essen, das Essen scheint gut zu sein.“ Nun setzten sie sich nieder und aßen und tranken nach Herzenslust. Als sie eben gegessen hatten, kam der große Riese, dem die Höhle gehörte, nach Hause; er war aber ganz freundlich und sprach: „Das ist recht, dass ihr schon zugelangt und nicht erst auf mich gewartet habt; wenn's euch hier gefällt, so könnt ihr gerne für immer bei mir in der Höhle bleiben“, und zu der Frau sagte er, dass sie seine Frau werden könnte. Sie sagten beide ja dazu und nun lebten sie ganz vergnügt eine Zeit lang bei dem Riesen in der Höhle.

Der Riese gewann Hans von Tage zu Tage lieber; aber seine Mutter hasste ihn noch immer, und als sie merkte, wie stark er geworden wäre, ward sie noch grimmiger und sprach eines Tages zu dem Riesen: „Siehst du wohl, wie stark Hans ist? Er kann doch für uns gefährlich werden, je älter er wird und je mehr er an Kräften zunimmt. Dann kann es leicht soweit kommen, dass er uns tot schlägt, damit er die Höhle allein hat, oder er uns auch hinaus jagt. Es wäre besser und klug von dir, wenn du dich bei Zeiten vorsähest und bei Gelegenheit ihn über die Seite schafftest.“ Aber der Riese antwortete: „Sprich mir doch nicht so etwas vor! Hans ist ein guter Junge und wird uns nichts zu leide tun; ich werde ihm kein Haar krümmen, es würde mir übel anstehn.“

Als die Frau nun sah, dass der Riese nicht dazu zu bewegen war, legte sie sich den andern Tag aufs Bett und stellte sich krank. Dann rief sie ihren Sohn und sprach: „Lieber Hans, ich bin so krank, dass ich gewiss sterben werde. Aber ein Mittel gibt es noch, das mich retten kann. Mir hat geträumt, dass wenn ich von der Milch der Löwin, die hier nicht weit von uns ihre Höhle hat, einen Trunk erhalten könnte, ich gewiss genesen würde. Wenn du mich lieb hast, so könntest du mir helfen; du bist ja so stark und fürchtest dich nicht, du könntest hingehen und mir etwas Milch holen.“ „Jawohl, liebe Mutter“, antwortete Hans, „das will ich gerne tun, wenn ich nur weiß, dass es dir helfen wird“, nahm also einen Napf und ging in die Höhle der Löwin. Die lag da mit ihren Jungen und säugte sie. Hans aber legte die Jungen beiseite und fing an zu melken; das litt die Löwin ganz ruhig. Da aber kam der alte Löwe mit Gebrüll in die Höhle und fiel Hans von hinten an. Aber schnell wandte Hans sich um, nahm den Hals des Löwen unter den Arm und drückte ihn so fest an sich, dass er jämmerlich zu winseln anfing und ganz zahm ward. Da ließ Hans ihn los. Der Löwe legte sich in die Ecke und Hans molk weiter, bis die Schale voll war. Als er nun die Höhle verließ, sprang die Löwin hinter ihm her mit ihren Jungen und bald folgte auch der alte Löwe ihnen. So kam er zu seiner Mutter und brachte ihr die Milch; sie erschrak sich aber so vor den Löwen, dass sie rief: „Hans, bringe doch die wilden Tiere hinaus, sonst sterbe ich noch vor Angst.“ Da gingen die Tiere von selbst still hinaus, aber legten sich vor die Tür, und wenn Hans hinaus kam, so sprangen sie auf ihn zu und freuten sich.

Da nun dieser Anschlag der bösen Mutter so misslungen war, sprach sie wieder zu dem Riesen: „Wärest du gleich meinem Rate gefolgt, so hätten wir nun nichts mehr zu fürchten; jetzt aber steht's noch schlimmer als vorher, und da er nun die Tiere hat, werden wir so leicht ihm nichts anhaben können.“ Der Riese antwortete: „Ich weiß auch nicht, warum wir ihm etwas tun wollten. Hans ist ja gut und die Tiere sind zahm; ich möchte nicht Hand an ihn legen.“ Aber die Mutter sagte: „Es könnte ihm doch leicht in den Sinn kommen, uns zur Höhle hinauszujagen oder gar tot zu schlagen, um selber darin Herr zu sein; ich kann nicht glücklich sein, so lange ich das fürchten muss.“

Nach einiger Zeit legte die Frau sich aufs Bett und sagte wieder, sie sei krank. Sie rief ihren Sohn zu sich und sprach: „Ich habe wieder einen Traum gehabt, dass wenn ich ein paar von den Äpfeln essen könnte, die in dem Garten der drei Riesen wachsen, ich wieder gesund werden würde; sonst fühle ich, muss ich sterben.“ Hans sagte: „Liebe Mutter, weil dir so große Not drum ist, so will ich wohl zu den Riesen gehen und dir ein paar Äpfel holen.“ Er nahm nun einen Sack und machte sich sogleich auf den Weg und die Löwen sprangen alle hinter ihm drein; die böse Mutter aber dachte, dass er diesmal ganz gewiss nicht wiederkommen würde. Hans ging geradeswegs in den Garten und pflückte seinen Sack voll Äpfel; und als er das getan, aß er selber auch einige; aber darnach verfiel er sogleich in einen tiefen Schlaf und sank unter dem Baume nieder. Das kam allein von den Äpfeln, die diese Kraft hatten. Wären nun nicht die treuen Löwen bei ihm gewesen, so wäre es wohl um ihn geschehen. Denn sogleich stürmte ein großer Riese durch den Garten daher und rief: „Wer hat hier unsere Äpfel gestohlen?“ Hans schlief noch und antwortete nicht. Als ihn aber der Riese sah, lief er zornig auf ihn zu und wollte ihm den Rest geben, aber da sprangen die Löwen auf, fielen den Riesen an und in kurzer Zeit hatten sie ihn zerrissen. Nun kam gleich der zweite Riese und rief auch: „Wer hat hier unsere Äpfel gestohlen?“ und da er auf Hans los wollte, sprangen die Löwen auch auf ihn ein und zerrissen ihn. Darnach kam der dritte Riese und rief: „Wer stiehlt hier unsre Äpfel?“ Hans schlief noch immer, aber die Löwen packten auch diesen Riesen und machten auch ihn tot. Nun schlug Hans die Augen auf und ging im Garten umher. Da kam er bald in die Nähe des Schlosses, wo die Riesen gewohnt hatten, und nun hörte er, wie aus einer tiefen Kellerkammer eine klägliche Stimme hervorkam. Hans stieg hinab; da fand er da eine wunderschöne Prinzessin, die hatten die Riesen ihrem Vater geraubt und hier eingesperrt und mit dicken eisernen Ketten angeschlossen. Hans aber fasste kaum die Ketten an, so sprangen sie entzwei und er führte die schöne Prinzessin hinauf in die prächtigsten Zimmer des Schlosses. Da sollte sie sich erquicken und so lange warten, bis er wieder käme. Sie aber bat ihn, sie zu begleiten an ihres Vaters Hof. Aber Hans sagte: „Wir können es hier erst noch aushalten; jetzt muss ich hin und meiner Mutter die Äpfel bringen; denn die ist sterbenskrank.“ Hans ließ also die Prinzessin auf dem Schlosse, nahm seinen Sack mit den Äpfeln und ging nach der Höhle zu rück zu seiner Mutter. Als die ihn kommen sah, wollte sie sich fast tot wundern, dass ihm nichts geschehen sei und er die Äpfel brächte; sie fragte gleich, wie er doch alles habe durchmachen können. „Ja, liebe Mutter“, sagte er, „seit ich das blaue Band trage, das ich nicht mitnehmen sollte, seit der Zeit bin ich so stark, dass niemand mir was anhaben kann; diesmal haben meine Löwen alle die Riesen tot gemacht. Nun aber sollt ihr mit mir kommen und diese alte Höhle verlassen. Wir wollen jetzt auf dem Schlosse in Herrlichkeit und Freuden leben; ich habe da auch eine wunderschöne Prinzessin gefunden, die soll noch bei uns bleiben.“ Die Mutter und der Riese zogen nun mit Hans auf das Schloss; aber als sie alle die Herrlichkeit gewahr wurden und sahen wie schön die Prinzessin war, da gönnten sie Hans sein Glück noch weniger als früher. Die Mutter lauerte nur immer auf eine Gelegenheit, Hans beizukommen. Denn nun wusste sie ja, woher er seine Kraft hatte. Als daher eines Tages Hans in seinem Zimmer auf dem Bette lag, sich zu ruhen, und sein Band hing auf einem Nagel an der Wand über ihm, so schlich sie sich leise herein und stach ihm, ehe er erwachte, beide Augen aus; dann nahm sie ihm das Band, und da Hans nun blind und hilflos war, stieß sie ihn zum Schlosse hinaus und sagte, von nun an wolle sie allein darin Herr sein. Der arme Hans wäre bald verschmachtet, wenn nicht die treuen Löwen die Prinzessin zu ihm geführt hätten. Die zog nun mit ihm fort und führte ihn; denn sie wollte ihres Vaters Reich aufsuchen und hoffte da Heilung für ihren Retter zu finden. Aber der Weg war weit und lange irrten sie umher. Endlich aber kamen sie in die Nähe der Stadt, wo der Vater der Prinzessin wohnte. Da sah die Prinzessin einen blinden Hasen vor ihnen über den Weg laufen und wie er an einen Bach kam, der vorüber floss, tauchte er dreimal unter und lief sehend wieder fort. Da führte sie Hans an das Wasser, und wie er sich dreimal untertauchte, konnte auch er sehen wie vorher. Nun gingen sie voller Freuden in die Stadt, und als der alte König erfuhr, dass Hans seine Tochter befreit hätte, wollte er keinen andern Schwiegersohn haben als ihn, und die Prinzessin nahm auch keinen lieber zum Mann, als gerade Hans. Als aber seine Mutter das erfuhr, dass Hans sein Gesicht wieder bekommen und die Prinzessin geheiratet hätte, ward sie vor Ärger plötzlich krank, und diesmal war's ernst und sie musste daran. Bald darauf starb auch der Riese. Als man nun unter ihrem Kopfkissen nachsah, fand man da das blaue Band wieder und Hans trug es von nun an sein Leben lang und legte es niemals ab. Er folgte später seinem Schwiegervater in der Regierung und war als König weit und breit von allen Feinden sehr gefürchtet, als ein rechter Schutz seines Landes.

 

Das gemeinsame dieser Märchen ist der Held, der hier Hans heißt. Er zieht hinaus in die Welt, erlebt Abenteuer, muss Prüfungen bestehen und wird durch die Hochzeit mit einer Prinzessin belohn. Während die beiden ersten Märchen vom Typus des „faulen Jungen“ sind, der trotz seiner Tollpatschigkeit hilfreiche Taten vollbringt, die dazu führen, dass seine Wünsche in Erfüllung gehen, tritt er in den übrigen als Held in Erscheinung. Die Motive und den Erzählstrang in „Hans Bär“ hat Storm aus dem Dithmarscher Märchen „Das blaue Band“ übernommen, das er möglicherweise Mitte der 1830er Jahre bei Verwandten seiner Großeltern väterlicherseits im Kirchdorf Hohn kennenlernte.8

Das dritte Märchen erzählt von einem starken Hans, der sogar Löwen zu zähmen versteht und auf der Suche nach Zauberäpfeln zum Schloss der Riesen gelangt. In den Märchen kommt die Prinzessin in Ketten und der Riese vor (da fand er da eine wunderschöne Prinzessin, die hatten die Riesen ihrem Vater geraubt und hier eingesperrt und mit dicken eisernen Ketten angeschlossen), nicht aber ein Ritter; den erfindet Storm in seiner Ballade „Goldriepel“, die in zeitlicher Nähe zu diesen Märchenstunden entstanden ist.

Auch dort führt der Erzähler dem Mädchen einen Übermenschen vor, mit dem er sich identifizieren kann, während die Prinzessin nur ein blasses, untätiges Objekt der Befreiung und natürlich auch der Begierde ist.

Der Ritter mit dem Schwert, von dem in Widmung die Rede ist, darf sich in der Ballade „Goldriepel“ austoben, die mit „Hüben, drüben“, „Morgenwanderung“ und „Repos d’amour“ zu einer Gruppe von Gedichten gehört, die Storm 1841 in der Zeitschrift „Europa“ veröffentlicht hat.

 

Goldriepel9

„Was scheust du, mein Gaul! Trag mich hinauf
Zum Schloss, das am gähen Abgrund liegt;
Zur Königsmaid, die der scheußliche
10 Zwerg
In zaubertrüglichen Schlummer wiegt.“ ‒

Doch wieder scheut er und flieget der Gaul;
Da knattern die Fichten, es berstet der Berg;
Zwei blitzende Hämmer in rußiger Faust,
Aus der Spalte wirbelt der scheußliche Zwerg.

„Reiß aus, reiß aus! der Fels ist mein,
Und der Wald und das Schloss und die Dirne sind mein!
Reiß aus, reiß aus! und stör mich nicht auf,
Weil ich unten haue das Funkelgestein!

Das Funkelgestein und das klingende Gold
Das schmeiß ich hinauf in den Schoß der Braut;
Drum liebt mich die Dirn’, du eitler Gesell!
Goldriepel heiß ich! Jetzt wahr deine Haut!“

Da schwingt er die Hämmer; die blenden und sprüh’n,
Und der Ritter reißet das Schwert zur Hand:
„Mich schützet die Lieb’, die ist teurer als Gold
Und härter und hell als der hellste Demant.“

Langarmige Fichten schlagen darein ‒
„Rasch an, mein Tier!“ da bäumt sich das Pferd
Hoch auf vor den Hämmern; die blenden und sprüh’n;
In die leeren Lüfte sauset das Schwert.

„Hei Ritter, mein’ Hämmer die spalten Demant!“
Hell kreischet der Helm. ‒ „Hei, treffen sie gut?“
Und der Ritter verwundet taumelt und wankt:
„O, heilige Jungfrau, beschütze mein Blut!“

Da springen die Tore hoch oben im Schloss;
Draus quillt es und strömt es wie himmlischer Schein;
Und drinnen im zaubertrüglichen Schlaf
Ruht die Maid wie lebendiger Marmelstein.

„Mich schützet der Himmel, mich schützet die Lieb!“
Und die Sehnen füllt’s ihm mit neuer Gewalt;
Nicht schaut er die Hämmer, die blenden und sprüh’n.
Hindonnert sein Schwert auf des Zwerges Gestalt.

Und er reißt ihn zum Abgrund, und stürzt ihn hinab,
Wo die faule Woge
11 das Scheusal begräbt. -
In des Ritters Armen erwachet die Maid;
Sie küsst ihm die Wunde, sie lächelt und lebt.

 

Winfried Freund hat dieses Gedicht Storms folgendermaßen interpretiert12: In der 1841 erschienenen Ballade Goldriepel gestaltet Storm die Liebeserfüllung als Happy-End einer Märchenhandlung. Der Ritter, der zum Schloss, am steilen Abgrund gelegen, hinaufreitet, um die königliche Jungfrau aus dem Besitz des scheußlichen Zwergs, der sie in „zaubertrüglichen Schlummer wiegt“, zu befreien, erinnert an den Prinzen im „Dornröschen“-Märchen. Hier wie dort ist die junge Frau, einem „Marmelstein“ gleich, einer rätselhaften Erstarrung zum Opfer gefallen, versunken in einen Zauberschlaf, überkommen von Hypnos, dem sanfteren Bruder des griechischen Totengottes Thanatos. Hier wie dort ist es der ritterliche Mann, der durch seine Liebe den Bann schließlich bricht. Der unaufhörlich funkelndes Gestein und Gold fördernde Zwerg verkörpert das Leblose, das nicht weiter Entwicklungsfähige, das es zu überwinden gilt, damit sich die wahre menschliche Größe entfalten kann.

Ähnlich wie im Märchen vom „Dornröschen“ geht es um ein Initiationsgeschehen. Das Ich muss, sich selbst preisgebend, sein Leben einsetzen für das Du, in dem es sich allein zu erfüllen vermag. Erst die uneingeschränkte persönliche Hingabe ist imstande, sich und den andern zu erlösen, der in der Begegnung mit dem sich ihm bedingungslos Öffnenden zu sich selbst findet. Beide, der Ritter und das Mädchen, reifen im Innewerden der Liebe, indem sie sich im Wagnis und in der Befreiung aus der Enge und der Erstarrung verwirklichen. Mit dem Tod des Zwergs stirbt ab, was bisher einer Entwicklung im Wege gestanden hat: das Kleine, Unfertige, noch auf einer archaischen Stufe Verharrende. In den Armen des Ritters erwacht die „Königsmaid“, fürsorgend und liebend, zu ihrer königlichen Bestimmung.

  

Anmerkungen


1 Bertha von Buchan an Theodor Storm, Brief vom 15.3.1838; StA, Husum. Zitiert nach Eversberg 1995a, S. 103.

2 MG, S. 90f. (Nr. 102) mit der Datierung Frühjahr 1839.

3 Als Storm sich mit den Brüdern Mommsen im Sommer 1842 darauf verabredete, eine Sammlung solcher Volksläufiger Überlieferungen aus den Herzogtümern Schleswig und Holstein zusammenzustellen und als Buch zu veröffentlichen, umfasste seine Sammlung bereits eine ansehnlich Anzahl von Texten. Vergl. das Kapitel „Die poetische Betrachtung musste dem Grauen weichen ‒ Der Sagensammler“.

4 Der Volkskundler und Märchensammler Wilhelm Wisser berichtet in seiner Abhandlung „Volksmärchen aus dem östlichen Holstein“ von einem Konvolut von 8 Märchen- und Sagentexten aus Dithmarschen. Diese Handschriften wurden von Storm zunächst an Theodor Mommsen und dann weiter an Karl Müllenhoff geleitet. Darunter befinden sich auch einige eigenhändig von Theodor niedergeschriebene Märchen. Vergl. Wisser 2000/2001; hier Die Heimat 11 (1901), S. 42ff. und Anm. S. 37f.

5 Nach der Handschrift von Theodor Storm. In: Eversberg 2005, S. 221f.; vergl. den Kommentar S. 219ff.

6 Nach der Handschrift von Theodor Storm. In: Eversberg 2005, S. 20ff; vergl. den Kommentar S. 222ff.

7 Müllenhoff 1845, S. 216ff. mit dem Hinweis: Aus Marne. Das Märchen ist leider lückenhaft. Da sich von dem Konvolut keine Spur mehr im Müllenhoff-Nachlass findet, konnte ich den Zusammenhang dieses Märchens mit den übrigen von Storm beigetragenen Texten nur durch einen Vergleich mit Storms Märchen „Hans Bär“ erschließen. Vergl. auch Mensing 1923 sowie die Kommentare zu den Märchen in meiner Edition (Eversberg 2005).

8 Vergleiche Gertrud Storm 1912, S. 81ff. Kobes 1918, S. 274f.

9 Keine Handschrift bekannt; Erstdruck in: Lyrisches Album, Karlsruhe 1841, S. 30-32.

10 Nach der Korrektur in Lyrisches Album 1844, S. 80: der scheußliche  Zwerg; im Erstdruck steht ein Lesefehler des Setzers: die der schauerliche Zwerg

11 Lesefehler des Setzers im Erstdruck: Wo die faule Sterze das Scheusal begräbt.

12 Winfried Freund 2000, S. 245.