Das Maidlein hat der Wolf geküsst – „Schneewittchen“-Scenen
Es gibt einen weiteren Hinweis auf die Märchen, die Storm Bertha vorgelesen hat. Am 7. Oktober schrieb sie an den Studenten, der sich am 12. Mai 1838 an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität immatrikuliert hatte und zu dieser Zeit nicht weit vom Brandenburger Tor in der Behrenstraße wohnte1: Mein lieber Theodor, Du hast zwar versprochen, mir zuerst wieder zu schreiben, indessen da Mutter Dir Dein, bei uns vergessenes, Manuskript nach zu schicken gedenkt, so benutze ich die Gelegenheit Dir ein paar freundliche Zeilen beizulegen.
Das bei uns vergessene Manuskript enthielt die erste Fassung von Märchenszenen zu „Schneewittchen“, aus dem Theodor Bertha zu Ostern vorgelesen hatte. Dies bestätigt auch eine Strophe des Gedichts „Weinachtsgruß“, das Theodor im Dezember 1840 an Bertha schickte und in dem er sie an seine Märchen erinnerte, die er für sie geschrieben oder ihr erzählt hatte: Von Schneewittchen bei den Zwergen,/ Wo sie lebte unerkannt;/ Und war hinter ihren Bergen/ Doch die Schönst’ im ganzen Land. Eine fragmentarische Handschrift mit einem Prolog und einer wieder gestrichenen Szene hat sich im Storm-Nachlass erhalten.
Schneewittchen2
Prolog
Der Dichter
Es ist Fastnacht, die Zeit der Spiele und Mummerei, wo jeder aus seinem Jetzt und Selbst heraustreten darf. Nun ernste Männer und verehrte Frauen, ihr sollt jetzt wieder Kinder werden u<nd> Märchen hören, Rosenschein der versunknen Kinderzeit.
1 Scene Die Königin. Prinz Rosenroth Prinz.
Ich ritt
gen Ost ins helle Rosenroth In dem die ….
Scene II Die Königin vor dem Spiegel.
Die Königin.
Spieglein,
Spieglein an der Wand,
Aus dem Spiegel. (Frauenchor.)
Es frisst
am Herzen mir so jäh,
Frau
Königin Ihr
Die Königin.
Ei,
Spieglein, redʼ nicht so unnütz!
Aus dem Spiegel.
Aber
Schneewittchen hinter den Bergen, |
Die Königin.
Ei
Spieglein blank, ei Spieglein licht.
<Aus dem Spiegel.>
Hinter d<en>
Bergen
Die Königin.
Fluch ihr
sie lebt; der Rabe log
<Die> Königin
So log der
Jäger der zur Nacht
<Aus dem> Spiegel Ist tausendmal, –
<Die> Königin
Es war das
Blut von Elk und Reh
<Aus dem> Spiegel Ist tausendmal –
<Die Königin>
Die
Schönste war ich immer noch |
Sebastian Schmideler schließt aus dem Prolog des Dichters, dass Storm mit seinem Singspiel das Grimmsche Märchen (KHM 53) zu einem Mummenschanz adaptieren wollte. In der ersten Szene lässt er die Königin, der Jäger und die Stimme des Spiegels auftreten. Der Textentwurf ist eine Kombination von lyrischer und epischer Dichtung und skizziert ein karnevaleskes Verwandlungsspiel, das Storm aber wieder verwirft. Diese von Storm intendierte Metamorphose der Lebensalter sollte sich gleichsam im Bild des Zwerges spiegeln, das in seiner spezifischen Gestalt sowohl die Kleinheit des Kindes als auch das Alter des Erwachsenen zeigt. Zugleich wird bereits in diesem Entwurf eines Prologs implizit Storms ästhetischer Anspruch an die Doppeladressiertheit kinder- und jugendliterarischer Stoffe deutlich, die Kinder ebenso wie Erwachsene ansprechen sollen. Dieser Forderung wird wiederum in der Wahl dieses Grimmʼschen Märchens zur dramatischen-lyrischen Adaption explizit.3
Es war einmal mitten im Winter, und die Schneeflocken fielen wie Federn vom Himmel herab, da saß eine Königin an einem Fenster, das einen Rahmen von schwarzem Ebenholz hatte, und nähte. Und wie sie so nähte und nach dem Schnee aufblickte, stach sie sich mit der Nadel in den Finger, und es fielen drei Tropfen Blut in den Schnee. Und weil das Rote im weißen Schnee so schön aussah, dachte sie bei sich „hätt ich ein Kind so weiß wie Schnee, so rot wie Blut, und so schwarz wie der Rahmen.“ Bald darauf bekam sie ein Töchterlein, das war so weiß wie Schnee, so rot wie Blut, und so schwarzhaarig wie Ebenholz, und wurde darum das Sneewittchen (Schneeweißchen) genannt. Und wie das Kind geboren war, starb die Königin.
Über ein Jahr nahm sich der König eine andere Gemahlin. Es war eine schöne Frau, aber sie war stolz und übermütig, und konnte nicht leiden dass sie an Schönheit von jemand sollte übertroffen werden. Sie hatte einen wunderbaren Spiegel, wenn sie vor den trat und sich darin beschaute, sprach sie
„Spieglein,
Spieglein an der Wand,
wer ist die schönste im ganzen Land?“
so antwortete er
„Frau
Königin, ihr seid die schönste hier,
aber Sneewittchen ist tausendmal schöner als ihr.“
Da erschrack die Königin und ward gelb und grün vor Neid. Von Stund an, wenn sie Sneewittchen erblickte, kehrte sich ihr das Herz im Leibe herum, so hasste sie das Mädchen. Und der Neid und Hochmuth wuchsen, und wurden so groß in ihr, dass sie Tag und Nacht keine Ruhe mehr hatte. Da rief sie einen Jäger, und sprach „bring das Kind hinaus in den Wald, ich wills nicht mehr vor meinen Augen sehen. Dort sollst dus töten, und mir Lunge und Leber zum Wahrzeichen mitbringen.“ Der Jäger gehorchte, und führte es hinaus, und als er den Hirschfänger gezogen hatte, und Sneewittchens unschuldiges Herz durchbohren wollte, fing es an zu weinen, und sprach „ach lieber Jäger, lass mir mein Leben; ich will in den wilden Wald laufen, und nimmermehr wieder heim kommen.“ Und weil es so schön war, hatte der Jäger Mitleiden, und sprach „so lauf hin, du armes Kind.“ „Die wilden Tiere werden dich bald gefressen haben“ dachte er, und doch wars ihm als wär ein Stein von seinem Herzen gewälzt, weil er es nicht zu töten brauchte. Und weil gerade ein junger Frischling daher gesprungen kam, stach er ihn ab, nahm Lunge und Leber heraus, und brachte sie als Wahrzeichen der Königin mit. Der Koch musste sie in Salz kochen, und das boshafte Weib aß sie auf, und meinte sie hätte Sneewittchens Lunge und Leber gegessen.
Neben diesen Skizzen gab es noch eine weitere Szene, die von Storm 1845 im „Volksbuch auf das Jahr 1846 für die Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg“ veröffentlichte. Die erweiterte Handschrift ist nicht erhalten, nur der handschriftliche Hinweis: Schneewittchen ist geschrieben, als ich als junger Advokat im Hause des verst<orbenen> Agenten Schmidt wohnte. Es war im Winter. Mutter war damals meine Braut u<nd> zum Besuch bei den Großeltern. Die vorhergehenden Verse stammen aus meiner Studentenzeit, nachdem ich von Berlin wieder in Kiel war.5
Auch für diese Szene, die also Anfang April 1843 niedergeschrieben wurde und in der die Zwerge das schlafende Kind finden und von ihrem Schicksal erfahren, übernimmt Storm Motive der Brüder Grimm.
Sneewittchen (2)
Nun war das arme Kind in dem großen Wald mutterseelig allein, und ward ihm so angst, dass es alle Blätter an den Bäumen ansah, und nicht wusste wie es sich helfen sollte. Da fing es an zu laufen, und lief über die spitzen Steine und durch die Dornen, und die wilden Thiere sprangen an ihm vorbei, aber sie taten ihm nichts. Es lief so lange nur die Füße noch fort konnten, bis es bald Abend werden wollte, da sah es ein kleines Häuschen, und ging hinein sich zu ruhen. In dem Häuschen war alles klein, aber so zierlich und reinlich, dass es nicht zu sagen ist. Da stand ein weiß gedecktes Tischlein mit sieben kleinen Tellern, jedes Tellerlein mit seinem Löffelein, ferner sieben Messerlein und Gäblein, und sieben Becherlein. An der Wand waren sieben Bettlein neben einander aufgestellt, und schneeweiße Laken darüber gedeckt. Sneewittchen, weil es so hungrig und durstig war, aß von jedem Tellerlein ein wenig Gemüs und Brot, und trank aus jedem Becherlein einen Tropfen Wein; denn es wollte nicht einem allein alles wegnehmen. Hernach, weil es so müde war, legte es sich in ein Bettchen, aber keins passte; das eine war zu lang, das andere zu kurz, bis endlich das siebente recht war, und darin blieb es liegen, befahl sich Gott, und schlief ein.
Als es nun ganz dunkel geworden war, kamen die Herren von dem Häuslein, das waren sieben Zwerge, die in den Bergen nach Erz hackten und gruben. Sie zündeten ihre sieben Lichtlein an, und wie es nun hell im Häuslein ward, sahen sie dass jemand darin gewesen war, denn es stand nicht alles so in der Ordnung wie sie es verlassen hatten. Der erste sprach „wer hat auf meinem Stühlchen gesessen?“ Der zweite „wer hat von meinem Tellerchen gegessen?“ Der dritte „wer hat von meinem Brötchen genommen?“ Der vierte „wer hat von meinem Gemüschen gegessen?“ Der fünfte: „wer hat mit meinem Gäbelchen gestochen?“ Der sechste „wer hat mit meinem Messerchen geschnitten?“ Der siebente „wer hat aus meinem Becherlein getrunken?“ Dann sah sich der erste um, und sah dass auf seinem Bett eine kleine Dälle war, da sprach er „wer hat in mein Bettchen getreten?“ Die andern kamen gelaufen, und riefen „in meinem hat auch jemand gelegen.“ Der siebente aber, als der in sein Bett sah, erblickte Sneewittchen, das lag darin und schlief. Nun rief er die andern, die kamen herbeigelaufen, und schrien vor Verwunderung, holten ihre sieben Lichtlein, und beleuchteten Sneewittchen. „Ei, du mein Gott! ei du mein Gott!“ riefen sie, „was ist das Kind schön!“ und hatten so große Freude, dass sie es nicht aufweckten, sondern im Bettlein fortschlafen ließen. Der siebente Zwerg aber schlief bei seinen Gesellen, bei jedem eine Stunde, da war die Nacht herum.
Als es Morgen war, erwachte Sneewittchen, und wie es die sieben Zwerge sah, erschrack es. Sie waren aber freundlich und fragten „wie heißt du?“ „Ich heiße Sneewittchen“ antwortete es. „Wie bist du in unser Haus gekommen?“ sprachen weiter die Zwerge. Da erzählte es ihnen dass seine Stiefmutter es hätte wollen umbringen lassen, der Jäger hätte ihm aber das Leben geschenkt, und da wär es gelaufen den ganzen Tag, bis es endlich ihr Häuslein gefunden. Die Zwerge sprachen „willst du unsern Haushalt versehen, kochen, betten, waschen, nähen und stricken, und willst du alles ordentlich und reinlich halten, so kannst du bei uns bleiben, und es soll dir an nichts fehlen.“ Das versprach Sneewittchen, und blieb bei ihnen. Es hielt ordentlich Haus: Morgens gingen sie in die Berge, und suchten Erz und Gold, Abends kamen sie wieder, und da musste ihr Essen bereit sein. Den Tag über war das Mädchen allein, da warnten es die guten Zwerglein und sprachen „hüte dich vor deiner Stiefmutter, die wird bald wissen dass du hier bist; lass ja niemand herein.“6
Die Zwergenszene hat Storm aus der Vorlage übernommen; er erotisiert Schneewittchen in derselben Art, wie er in seinen Gedichten für Bertha das Kind als herangewachsene Jungfrau beschreibt. Heißt es bei den Brüdern Grimm nur was ist das Kind schön!, wird daraus bei Storm eine detaillierte Beschreibung des liebe(n) Tausendschön, das trotz der inflationären Verwendung des Diminutives kein Kind mehr ist: Geschlossen ist der Äuglein Licht,/ Hinabgerollt die Locken dicht;/ Über des Mieders blanke Seide/ Gefaltet fromm die Händchen beide. […] Ist Alles so gar lieb und fein,/ So rosenrot, schneeweiß und rein! [..] Schau, schau! Die Wimper regte sich./ Das Mündlein rot bewegte sich./ Das blonde Köpfchen reckt sich auf,/ Zwei blaue Äuglein schlägt sie auf!
Erstdruck einer der Schneewittchen-Szenen im Volksbuch 1846
Schneewittchen7
Eine Märchen-Scene
Zwergenwirtschaft. Links eine Türe zur Schlafkammer der Zwerge; im Hintergrunde eine Thür und Fensteröffnung. Von außen Wald und Sonnenschein. Drinnen steht ein kleiner Tisch mit sieben Schüsseln.
Die sieben Zwerge
(kommen singend nach einander herein mit Kräutersäcken auf dem Nacken, werfen die Säcke in den Winkel, treten an den Tisch und stutzen, einer nach dem andern.)
Zwergenältester Wer hat auf meinem Stühlchen sessen? Zwerg 2 Wer hat von meinem Tellerlein essen? Zwerg 3 Wer hat von meinem Müschen pappt? Zwerg 4 Wer hat mit meinem Gäblein zutappt? Zwerg 5 Wer hat aus meinem Becherlein trunken? Zwerg 6 Wer hat mein Löfflein eingetunken? Zwerg 7 (schaut in die Nebenkammer) Wer drückt in meinem Bett das Dellchen? Zwerg 1 Wer rücktʼ an meinem Schlafgestellchen? Zwerg 2 Wer schlief auf meinem Lagerstättchen? Zwerg 3 O weh! liegt Einer in meinem Bettchen! Zwerg 4 Ein Mägdelein! Zwerg 5, 6, 7 Lass schaun, lass sehn! Zwerg 7 Ei Gott, wie ist das Kind so schön! Zwerg 1
O weckt sie
nicht! o schreckt sie nicht! Zwerg 2
Wer mag sie
sein? Wo kam sie her? Zwerg 3
Wie fand
das liebe Tausendschön Zwerg 4
Ist alles
so gar lieb und fein, Zwerg 1
Bis sie
erwacht, bleibt mäuschensacht, Zwerg 4 Schau, schau! Die Wimper regte sich. Zwerg 5 Das Mündlein rot bewegte sich. Zwerg 6
Das blonde
Köpfchen reckt sich auf, Zwerg 7 Sie schaut sich um ein stummes Weilchen! Zwerg1
Schweigt
nun! ihr Mühlchen, ihr Plappermäulchen! (Die Zwerge treten bis auf den Ältesten an beiden Seiten zurück) Schneewittchen (erscheint scheu an der Thür) Zwerg1
Ei grauʼ
dich nicht, tritt nur herein; Schneewittchen Schneeweißchen!
So hat die
Mutter mich genannt; Zwerg 1
Schneeweißchen, Königstöchterlein, Schneewittchen
Ach ich bin
kommen arm und bloß! Zwerg 1
Schneeweißchen, Königstöchterlein, Schneewittchen
Sprangen
zwei Rehlein mir voran, Zwerg 1
Schneeweißchen, Königstöchterlein, |
Schneewittchen Wie kann ich euch danken, ihr guten Zwerge? Zwerg 1
Kannst die
Wirtschaft uns versehen, Schneewittchen
O wie will
ich mich tummeln und rühren! Zwerg 1
Morgens im
Dämmerschein Zwerg 2 Und für dich selber das weichste Bettchen! Zwerg 1
Gehn wir zu
Walde, hütst du das Stübchen, Zwerg 3
Doch von
den Süppchen und von den Speischen Zwerg 4 Schau nur, die Dornen zerrissen mein Röcklein! Zwerg 5 Streiften mir ab von dem Käppchen das Glöcklein! Zwerg 1
Besserst
das Röcklein, Schneewittchen
Aber die
Rehe, die süßen Rehe! Zwerg 1
Rehlein
stehn in hohen Gnaden, Schneewittchen
Aber die
Vögel, die bunten Flämmchen! Zwerg 1
Vöglein
stehn in hohen Gnaden, Schneewittchen
Aber die
Sonne, der himmlische Schein! Zwerg 1
Rehlein
lass um dich spielen und springen, (Zu den Andern:)
Nun kommt,
ihr wackern Brüderlein, Die sieben Zwerge gehen singend ab:
„Da ging
die Katz di tripp di trapp, Schneewittchen (allein)
Morgens im
Dämmerschein
Rehlein und
Vögelein, |
Das Lied, das die Zwerge beim ihrem Abgang singen, hat Storm, ohne diese Übernahme zu kennzeichnen, aus dem ersten Märchen der Brüder Grimm „Die Hochzeit der Frau Füchsin“ (KHM 38) übernommen. Es erzählt, wie der alte Fuchs sich aus Eifersucht tot stellt, um die Treue seiner Frau zu prüfen. Während Frau Füchsin sich einschließt und weint, kocht die Magd Jungfer Katze in der Küche. Sie empfängt die Freier und berichtet Frau Füchsin, die nach den Eigenschaften fragt, die ihr Mann hatte.
Da hörte die Magd das jemand vor der Haustüre stand und anklopfte; sie ging und machte auf, und da wars ein junger Fuchs, der sprach
„was macht
sie, Jungfer Katze?
schläft se oder wacht se?“
Sie antwortete
„ich
schlafe nicht, ich wache.
Will er wissen was ich mache?
Ich koche warm Bier, tue Butter hinein:
will der Herr mein Gast sein?“
„Ich bedanke mich, Jungfer,“ sagte der Fuchs, „was macht die Frau Füchsin?“ Die Magd antwortete
„sie sitzt
auf ihrer Kammer,
sie beklagt ihren Jammer,
weint ihre Äuglein seidenrot,
weil der alte Herr Fuchs ist tot.“
„Sag sie ihr doch, Jungfer, es wäre ein junger Fuchs da, der wollte sie gerne freien.“ „Schon gut, junger Herr.“
Da ging die
Katz die Tripp die Trapp,
Da schlug die Thür die Klipp die Klapp.
„Frau Füchsin, sind Sie da?“
„Ach ja, mein Kätzchen, ja.“
„Es ist ein Freier draus?“
„Mein Kind, wie sieht er aus?“8
Storm skizziert zwar eine kindliche Idylle, in ihr wird allerdings die zukünftige Rolle des Mädchens als Hausfrau geschildert wird. Es gibt einen aufsichtführenden Zwergenältesten, der autoritär-patriarchische Erziehungsfunktionen ausübt und den kindlich-schwatzhaften, neugierigen Zwergen zahlreiche Anweisungen gibt. Sein Redeanteil in der Szene korrespondiert auffällig mit demjenigen Schneewittchens, so dass der Zwergenälteste von Storm komplementär zur Heldin in der Rolle des männlichen Protagonisten herausgestellt wird. Ja, man erkennt hier Theodor erneut als den um sie werbenden Erzieher seiner künftigen Braut Bertha. Schneewittchen soll Morgens beim Dämmerschein fleißig ihre Tagesarbeit im Haus verrichten, während draußen im goldenen Sonnenschein die süßen Rehe springen.9 Sie wiederholt die Aufgaben, die ihr der Zwergenälteste aufgetragen hat, in allen Details und zeigt sich so als gelehrige Schülerin.
Bei diesen Versen orientierte sich Storm formal an der 1836 publizierten Ballade „Die Heinzelmännchen“ von August Kopisch, in der es heißt10:
Wie war zu
Cölln es doch vordem,
Mit Heinzelmännchen so bequem!
Denn, war man faul: .... man legte sich
Hin auf die Bank und pflegte sich:
Da kamen
bei Nacht,
Ehe manʼs gedacht,
Die Männlein und schwärmten
Und klappten und lärmten
Und rupften
Und zupften
Und hüpften und trabten
Und putzten und schabten .....
Und eh ein Faulpelz noch erwacht, ...
War all sein Tagewerk ..... bereits gemacht!
Durch die Kombination des Liedes aus dem Märchen „Die Hochzeit der Frau Füchsin“ mit dem zeittypischen Mädchen-Erziehungsideal wird der Zusammenhang der Märchenhandlung mit Berthas Erziehung und der Absicht Theodors, sie zu freien, überdeutlich dargestellt. In seiner Schneewittchen-Szenen zitiert er nur einen Teil des Liedes und lässt die beiden Schlussverse weg: Es ist ein Freier draus?“/ „Mein Kind, wie sieht er aus?. Wenn man davon ausgeht, dass Bertha eine Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen besaß und fleißig darin las, so konnte Theodor darauf setzen, dass sie der Abspielung auf den künftigen Freier deuten konnte. Vielleicht hat er ihr sogar Grimms „Die Hochzeit der Frau Füchsin“ vorgelesen, denn im Gedicht Weihnachtsgruß heißt es vor der Erwähnung von Schneewittchen auch noch: Doch das Büchlein musst du schauen,/ Bilderchen und fromme Lehrʼ,/Und voll heimlich süßem Grauen/ Alte wunderbare Mär!
Liest man beide Szenen als Einheit, so zeigt sich, dass Storm zwei extreme Welten einander entgegensetzt. In der Hütte der Zwerge erfährt Schneewittchen die heile, helle Welt des Lebens und des Lichts. Sonne, Mond und Sterne werden ebenso wie die sanften Tiere ihre Spielgesellen in einer friedfertigen Natur. Dagegen wird der königliche Hof als Reich der Finsternis und des Todes charakterisiert.11 Die Königin kommuniziert mit dem schwarzen Raben, der als Todesvogel gilt. Sie glaubt, der böse Wolf habe ihre vom Jäger abgestochene Stieftochter gefressen. Kennst Du im Wald die Stelle nicht/ Ein Blümlein blüht in Purpurglut,/ Die Würzlein tranken so rotes Blut;/ Das Maidlein hat der Wolf geküsst/ Der Wolf weiß, wo Schneewittchen ist.
Storm zitiert noch einmal aus einem Märchen der Brüder Grimm, nämlich aus „Rotkäppchen“ (KHM 26). Man kann dies als Warnung des jungen Mädchens vor Übergriffen gewalttätiger Männer lesen. In diesem Sinne hat Charles Perrault seiner Fassung des Märchens „Le Petit Chaperon rouge“ bereits im Jahre 1697 folgende Moral beigegeben12: Man warnt hiermit die kleinen Kinder,/ Und junge Mädchen auch nicht minder,/ Wenn sie schön und reizend sind,/ Nicht zu glauben so geschwind,/ Was so ein Wolf von böser Art/ Ihnen flüstert sanft und zart;/ Denn es gibt der Wölfe viel,/ Die nur treiben böses Spiel/ Und die Kinder gern verderben,/ Dir dann ohne Rettung sterben.
Was ging in dem einundzwanzigjährigen Dichter vor, als er dem zwölfjährigen Mädchen und ihrer Pflegemutter „Schneewittchen“ vorlas?
Eine Stiefmutter (in einer der Quellen der Grimms ist es die leibliche Mutter) sticht sich den Finger blutig und wünscht sich ein Töchterlein, rot wie Blut, weiß wie Schnee und schwarz wie Ebenholz. Diese Tochter heißt Schneewittchen. Die Mutter befragt den Spiegel mit der magischen Formel: Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land? und dieser antwortet zunächst völlig der Erwartung gemäß: Frau Königin, Ihr seid die schönste im Land!
Wer in den Spiegel schaut, der erzeugt eine Dopplung des Sichtbaren in synchroner Bewegtheit von Gespiegeltem und Bespiegelten. Deshalb ist nichts an der Antwort des Spiegels ungewöhnlich und alles entspricht zunächst noch unseren Erfahrungen und bestätigt unsere Erwartungen. Dann aber tritt das Unerwartete ein. Eines Tages antwortet der Spiegel: Frau Königin, ihr seid die schönste hier, aber Schneewittchen ist tausendmal schöner als ihr! Was ist geschehen? Die Qualität eines Spiegels bemisst sich daran, inwieweit er passiv und unverändert wiedergibt, was vor ihm ist. Der Spiegel in „Schneewittchen“ hat eine andere Qualität. Er gibt plötzlich aktiv wieder, was nicht vor ihm ist; er hebt damit sowohl die zeitliche als auch die räumliche Verschränktheit von Gespiegeltem und Bespiegeltem auf.
Aber auch dieses Spiegelbild hat eine Beziehung zum Spiegelgegenstand: Er zeigt der Mutter ihre Tochter und zugleich ihre Schönheit, wie sie an ihr war und nun nicht mehr an ihr, sondern an der Tochter ist. Zeitlich, weil die Schönheit des Gespiegelten nicht mehr im Bespiegelten anwesend ist und räumlich, weil er eine andere Person zeigt, nämlich die Tochter und nicht die Mutter. Dadurch wird die Ursache negiert und das Verursachte tritt an seine Stelle, denn der Zauberspiegel hebt die Kausalität auf und verkehrt sie in ihr Gegenteil. Seine Botschaft lautet: Nicht die Mutter, sondern die Tochter ist nun das Wesentliche.
Auch der Spiegel ist eine Metapher und beruht auf einer Ersetzung des eigentlichen Wortes durch ein anderes, das den gemeinten Begriff dank seiner sachlichen oder gedanklichen Ähnlichkeit auszudrücken in der Lage ist. Metaphern sind Vergleiche, bei denen die Formulierung der Vergleichsbeziehung „wie“ fehlt. Die Ähnlichkeit wird bei der Metapher in der Regel nicht genannt und ist auch nicht immer auszumachen, lässt aber einen Interpretationsspielraum offen.
In der Goethezeit hat man den Metaphern eine große erkenntnisschaffende Funktion zugesprochen; für Goethe ist jedes Existierende „ein Analogon allen Existierenden. Metaphern galten als Spiegel des Universums (A. W. Schlegel) und haben in der Form der poetischen Bilder dem Menschen das Unbekannte näher gebracht. Ihre poetische Kraft entsteht aus ihrer Doppelnatur. Sie sprengen den ursprünglichen Zusammenhang von Wort und Bedeutung, aber sie konstruieren einen neuen Sinn, in dem sich verschiedene Sachbereiche und Bedeutungszusammenhänge zu einem Ganzen vereinen. Sie sind für unser Denken und Vorstellen bestimmend und nicht hintergehbar.
Metaphern, die in der Geschichte von Philosophie und Wissenschaft als Denkmodelle die Erkenntnis befördert, Weltbilder konstruiert und Sinnpotentiale zur Verfügung gestellt haben, werden von Hans Blumenberg absolute Metaphern genannt; Sie bringen die geschichtlichen Sinnhorizonte und Sichtweisen selbst zum Vorschein und fangen authentisch historisch-kulturelle Erfahrungen der Wirklichkeit ein.
Der Spiegel ist eine solche Metapher, weil bei ihm Gespiegeltes und Bespiegeltes fast in eins fallen. Die Spiegelmetapher hebt die Ordnung der Dinge auf und schafft die Wirklichkeit um, so dass sie dem Bedürfnis der Seele, des Unterbewussten entspricht. Dasselbe geschieht mit der realen Wirklichkeit, wenn sie gespiegelt in der Dichtung erscheint. Die poetisierte Welt kommt dem Gefühlsvermögen des Lesers entgegen, seinem Sinn für Märchen und Mythen, der oft verschütteten Magie seiner Einbildungskraft; die Lektüre literarischer Texte erlaubt ihm auch unkonventionelle Erkenntnisse über Zusammenhänge in der Welt, die seinen Erfahrungshorizont bestimmen.
Wie mag Therese Rowohl diese Lesung aufgenommen haben? Im Palast der Stiefmutter herrschen nicht Lebenszugewandtheit und göttliche Gnade, sondern diabolischer Neid, Zwietracht, Bosheit, Hass und Missgunst. Das Figureninventar dieses Bildes trachtet demjenigen des ersten Bildes nach dem Leben. Gemäß dieser Gut-Böse-Dichotomisierung herrschen Lebensfeindlichkeit und Grobianismus vor. Die Königin spricht besserwisserisch zum Spiegel Ei, Spieglein, redʼ nicht so unnütz!, sie vertraut auf diabolische schwarze Magie: Wenn sie des Jägers Speer nicht trifft,/ So hilf mir, Zaubertrank und Gift!13
Theodor erlebte Berthas Pflegemutter zunächst als liebevolle Behüterin des ihr anvertrauten Kindes; als er im Frühjahr 1841 spürte, dass die vierzehnjährige Bertha seine Liebe nicht erwiderte, schrieb er an Therese Rowohl14: Selbst übrigens, wenn alles anders wäre, als es wohl eben ist, wenn Bertha mich liebte und sich nicht der Mutter vertraut hätte, so liegt darin nichts was zu tadeln wäre, sobald sie mir ganz vertraut; denn wenn sie mich liebt, so muss sie mir sich selbst und auch die Lösung der Verhältnisse überlassen; wenn sie mich liebt, so stehe ich ihr über der Mutter, und wenn sie glaubt, die Mutter, werde ihre Liebe verhindern, so betrügt sie mich wenn sie durch unzeitige Geständnisse dazu beiträgt, dies zu realisieren.
Vielleicht ahnte er schon eineinhalb Jahre nach seiner ersten Begegnung mit Bertha, dass die Pflegemutter sich später zwischen ihn und sein geliebtes Kind stellen würde, allerdings nicht nur, um sie vor dem begehrenden Mann zu schützen, sondern auch, um eine aufkeimende Liebe zu unterdrücken. Dann symbolisiert die böse Stiefmutter jene Instanz, die sich zwischen den Freier und die junge Geliebte stellt und die die nun attraktive Tochter nicht aus der mütterlichen Bevormundung entlassen will. Prinzessinnen-Mütter meinen besser zu wissen, was der Tochter gut tut und zwängen sie in ein mütterliches Korsett ein. Sie könne nicht akzeptieren, dass die Töchter schöner und attraktiver werden, als sie selbst es sind. Wenn die Mutter die Tochter so einschnürt, dass ihr die Luft ausgeht, so geschieht das aus Angst. Sie versucht, das den Kinderschuhen entwachsene Mädchen über die Kindheit hinaus an sich zu binden, um sie nicht an einen Mann zu verlieren. Genau diese Ahnung bestätigte sich in den Jahren 1841/42, als Theodor vergeblich um die erotische Zuneigung Berthas kämpfte und erleben musste, dass die Pflegemutter die Korrespondenz mit Bertha kontrollierte und sich ohne Berthas Wissen über das Verhältnis der beiden gegenüber Theodor äußerte.
Der Text dieser Märchen-Szene wurde später in die Sammlung Sommer-Geschichten und Lieder (Storm 1851) aufgenommen und dann in die Gedichte 1852 eingegliedert, wo er bis zur 7. Auflage 1885 das erste Buch abschließt. Ein im Storm-Nachlass erhaltener Theaterzettel15 belegt, dass die Szene am 15. April 1853 im Kindertheater am Friedrich Wilhelmstädter Theater in Berlin aufgeführt wurde.16
Im Herbst 1865 erweiterte Storm seinen gedruckten Schneewittchen-Text um eine Szene, wobei er sich an seinem Manuskript aus dem Jahre 1838 orientierte. Diese Szene wurde in der 7. Auflage der Gedichte (Storm 1885) dem ursprünglichen Gedicht hinzugefügt.17
Anmerkung
1 Bertha von Buchan an Th. Storm, Brief vom 07.10.1839, StA, Husum. Zitiert nach Eversberg 1995a, S. 104f.
2 Nach der frühesten Handschrift der Szene „Gemach der Königin“ im Storm-Nachlass (SHLB, Kiel). Hier zum ersten Mal vollständig gedruckt. Storms Handschrift weist Korrekturen, Überschreibungen und Streichungen sowie einen Wasserschaden auf. Er wurde für diesen Abdruck in seinem ganzen fragmentarischen Umfang lesbar gemacht.
4 Grimm 1837, S. 314f.
5 J. A. Stargardt, Berlin; Katalog 681, Auktion vom 28. und 29. Juni 2005, Losnummer 313. Die Notiz steht auf einem Blatt, das aus einem Buch herausgerissen wurde; wahrscheinlich handelt es sich um eine Separatausgabe der „Gedichte“, die Storm an eines seiner Kinder verschenkt hat. Sowohl dort als auch in Band 1 der Werkausgabe im Verlag Westermann steht die „Schneewittchen“-Szene immer am Ende von Buch 1, dem rechts eine freie Seite folgt.
6 Grimm 1837, S. 314f.
7 Schneewittchen. Eine Märchen-Scene. In: Volksbuch auf das Jahr 1846, S. 65-70 mit der Unterschrift: „Husum, im Februar 1845.“ Storm hat seine sieben Jahre alten Notizen zu Schneewittchen offenbar schon im Winter 1843 überarbeitet und erweitert.
8 Die Hochzeit der Frau Füchsin. Erstes Märchen. Grimm 1837, S. 236f.
9 Schmideler 2012, S. 21f.
10 Kopisch 1836, S. 98-102.
11 Schmideler 2012, S. 24.
12 Charles Perrault: Histoires ou contes du temps passé, avec des moralités: Contes de ma mère l'Oye (Paris, 1697). Hier die deutsche Übersetzung aus „Neues Mährchenbuch für Knaben und Mädchen von Carl Perrault und Madame d'ʼAulnoy. Herausgegeben von Julius Grimm. Berlin 1852, S. 8.
13 Schmideler 2012, S. 24 und Anm. 33.
14 Theodor Storm an Friederike Scherff, Brief vom 22. März 1841; zit. nach Eversberg 1995a, S. 128.
15 Theaterzettel in der SHLB, Kiel: „Schneewittchen und die sieben Zwerge. Dramatische Märchenszene in 1 Act von Theodor Storm.“
16 In einem Brief aus Potsdam an seine Eltern vom 23.4.1855 schreibt Storm: Vor einiger Zeit waren wir mit Hans und Ernst in Berlin. In dem Friedrich-Wilhelm-städtischen Theater wurde außer einem andern Märchendrama „Schneewittchen, eine Märchenscene von Theodor Storm“ gegeben. Da sah ich zum ersten und wahrscheinlich auch zum letzten Mal meinen Namen groß gedruckt an allen Ecken Berlin’s. Hans und Ernst beklatschten das Werk ihres Vaters nach Verdienst, und um 8 Uhr Abends waren die Kinder, voll der empfangenen anmutigen Eindrücke, wieder zu Haus. Diese Vorstellungen, in denen nur Kinder spielen, dauern von 4-6 Uhr. Mit Überraschung sah ich übrigens, wie richtig für die Darstellung ich diese Kleinigkeit geschrieben. (Briefe Eltern, S. 57.)
17 Storm 1885, S. 219-221.