Theodor Storm in Husum

 

Als Theodor Storm im Oktober 1866 mit seiner vielköpfigen Familie in das geräumige Haus Wasserreihe 31 einzog, kamen auf ihn und auf seine zweite Frau Dorothea unerwartete Probleme zu. Eigentlich gab es einen erfreulichen Anlass für diesen Umzug, die Hochzeit des damals 49jährigen Juristen mit seiner ehemaligen Jugendgeliebten, auf die er knapp zwanzig Jahre zuvor verzichten musste. Damals hatte er sich gerade mit Constanze Esmarch vermählt, der Tochter des Segeberger Bürgermeisters, und verliebte sich kurze Zeit später in ein siebzehnjähriges Mädchen. Aber damals wie heute konnte man sich eine ménage à trois im bürgerlichen Husum nicht vorstellen.

Im Mai 1865 starb Constanze an den Folgen der Geburt ihres siebten Kindes. Da war es ein glücklicher Umstand, dass Dorothea nach der Entsagung nicht geheiratet und den Kontakt zur Familie Storm nie abgebrochen hatte. Sie blieb in der Nähe von Husum und erklärte sich nun bereit, Constanzes Stelle einzunehmen. Man verabredete, das Trauerjahr abzuwarten und heiratete am 13. Juni 1866 in aller Stille. An seine Freunde Hartmuth und Laura Brinkmann schrieb Storm im April 1866:

In mein Leben, wie in meine Poesie theilen sich zwei Frauen; die eine die Mutter meiner Kinder, Constanze, die so lange der Stern meines Lebens war, ist nicht mehr; die andre lebt, nachdem sie fern von mir allein und oft in drückender Abhängigkeit verblüht ist. Beide habe ich geliebt, ja beide liebe ich noch jetzt; welche am meisten, weiß ich nicht; die erschütterndste Leidenschaft hat mir einst die noch lebende eingeflößt; die leidenschaftlichen Lieder die ihr ja oft gelesen, sind der Kranz, den sie noch jetzt in ihrem Haar trägt.

 

Dorothea heiratete nicht nur den früheren Geliebten, der sie wegen der anderen, mit der sie eng befreundet war, aus Husum weggeschickt hatte. Sie musste nun auch die Mutterrolle für die sieben Kinder übernehmen, für drei Jungen (17, 15 und 13 Jahre alt) und vier Mädchen (11, 6, 3 und 1 Jahr alt). In dem großen 12-Zimmer-Haus galt es, mit zwei Hausmädchen einen 10-Personen-Haushalt zu organisieren. Erschwert wurde der Neuanfang auch dadurch, dass ihr Mann einen seltsamen Kult um die Tote trieb und seinen Kindern verbot, die neue Frau „Mutter“ zu nennen. Erst allmählich fand sich Dorothea in ihrer Rolle zurecht; zwei Jahre später löste sich das Stiefmutterproblem schließlich durch die Geburt der einzigen gemeinsamen Tochter aus zweiter Ehe.

 

Noch einmal

 

Noch einmal fällt in meinen Schoß

Die rote Rose Leidenschaft;

Noch einmal hab' ich schwärmerisch

In Mädchenaugen mich vergafft;

Noch einmal legt ein junges Herz

An meines seinen starken Schlag;

Noch einmal weht an meine Stirn

Ein juniheißer Sommertag.

 

Sieben Jahre später verarbeitete Theodor Storm diese Ehekrise zu einem literarischen Text. Das war ihm ein Mittel, das er mehrfach in schwierigen Lebenssituationen anwendete; er therapierte sich gleichsam durch Schreibprozesse selber. Erzählt wird von einer jungen Frau, die für eine heranwachsende Tochter aus der ersten Ehe ihres Mannes die Mutterrolle übernehmen muss. In der für ihn typischen Verschränkung von Kunst und Leben machte Storm das Haus, das er nun selbst bewohnte, zum Schauplatz der Novelle „Viola tricolor“. Die eigene Großfamilie reduzierte er auf vier Personen und konnte auf diese Weise das komplexe Thema zur Novelle verdichten. Die biographischen Bezüge gehen so weit, dass man den Novellenanfang als Führer durch das Storm-Haus benutzen kann.

Schließt sich der Besucher diesem Hausführer an, so erkennt er in der literarischen Fiktion viele Einzelheiten wieder, die ihn im heutigen Storm-Museum umgeben: Er sieht den Eingangsbereich mit der alten Standuhr, die Treppe zur ersten Etage mit den geschnitzten Geländern, die Flügeltür zu den Wohnräumen und vieles mehr. Die Raumdarstellung in der Novelle ist so detailgetreu dem Stormschen Wohnhaus der Jahre von 1866 bis 1880 nachempfunden, dass man Teile des Grundrisses nach der Erzählung zeichnen könnte. Nur eins verblüfft: Gegenüber der Wirklichkeit sind in der Novelle die Himmelsrichtungen vertauscht. Der Erzähler beschreibt die Eingangstür des Hauses und bemerkt, dass durch das Fenster über der Tür „ein Strahl der Abendsonne fiel“. Die wirkliche Tür aber geht nach Osten hinaus.

Tatsächlich zeigt der genaue Vergleich von Realität und Fiktion, dass Storm in seiner Vorstellung den Hausgrundriss gespiegelt hat, und zwar an einer Nord-Süd-Achse. Dies trifft auch auf jene Erzählteile zu, die in der oberen Etage des Hauses spielen. Er tat dies aus erzähltechnischen Erfordernissen, ordnete also die Elemente der Wirklichkeit nach seinen Bedürfnissen in der fiktiven Welt der Novelle neu an. So lässt er die Eingangsszene am Abend spielen und braucht das Licht der untergehenden Sonne im Westen. Also ändert er einfach die Himmelsrichtungen.

 

 

Ein Leben in der Provinz

Das Haus in der Wasserreihe 31 ist nur eines von vier erhaltenen Gebäuden der Stadt, in denen Storm gewohnt hat. Gebaut wurde das Kaufmannshaus um 1730 im Stil des Rokoko, es weist im Inneren auch klassizistische Elemente des 19. Jahrhunderts auf. Der spitze Giebel zur Straßenseite mit seinen hölzernen Luken der übereinander liegenden Kornböden und die Seilrolle an der Rückseite verweisen auf die Nutzung als Lagerhaus. Im Parterre befanden sich Verkaufs- und Kontorräume, während das Obergeschoss zu Wohnzwecken diente. Der geräumige Keller könnte als Lager für Weinfässer benutzt worden sein, denn die Husumer unterhielten im 17. und 18. Jahrhundert enge Geschäftsbeziehungen zu Weinhändlern in Bordeaux und importierten – ähnlich wie die Lübecker – größere Mengen von Rotwein.

Die Ausstellungsräume des heutigen Museums erinnern an alle Lebensabschnitte des Dichters, der mehr als 40 Jahre in Husum wirkte. Kindheit und Jugend sowie den Hauptteil seiner Schulzeit verbrachte er dort, danach studierte er in Kiel und Berlin, um als junger Advokat in den 1840er Jahren eine berufliche Existenz in seiner Vaterstadt aufzubauen und um eine Familie zu gründen. Das Exil als Folge der gescheiterten Erhebung der Herzogtümer Schleswig und Holstein gegen das Königreich Dänemark bedeutete einen gravierenden Einschnitt im Leben der Familie; die Jahre in der Fremde von 1853 bis 1864 erweiterten allerdings den Horizont des jugen Poeten und kamen seiner Entwicklung als Erzähler zugute.

 

Geboren wurde Hans Theodor Woldsen Storm am 14. September 1817 in einem anderen Bügerhaus, einem unscheinbaren Gebäude, Markt 9, als Sohn des Advokaten Johann Casimir Storm; seine Mutter Lucie stammt aus der Familie Woldsen, die bedeutende Kaufleute und Bürgermeister der Stadt hervorgebracht hat. Storms Eltern zogen 1820 in das Haus der Großeltern in der Hohlen Gasse 3 ein; hier eröffnete Casimir Storm, Sohn eines Müllers aus der Gegend bei Rendsburg und studierter Jurist, seine Anwaltskanzlei, hier wuchs Theodor mit seinen fünf jüngeren Geschwistern auf. Der Vater genoss in Husum und Umgebung eine große Reputation als Rechtsanwalt und Notar; er wurde zum Deputierten der Ständeversammlung in Schleswig gewählt und engangierte sich für die Eigenständigkeit der Herzogtümer im dänischen Gesamtstaat.

In einigen Erzählungen über seine Jugendzeit beschwört Storm die anheimelnde Atmosphäre des Elternhauses und der umliegenden Gebäude. Hier traf sich die weitläufige Familie vor allem an hohen Festtagen und man feierte gemeinsam. Von hier aus durchstreifte Theodor mit seinen Freunden die Stadt in allen Winkeln, von hier ging er später an jedem Wochentag zur Gelehrtenschule neben der Marienkirche. Das Verhältnis zu seinen Eltern war eher distanziert, der Knabe bevorzugte die Nähe seiner Großmutter. Darin sieht man heute einen der Gründe für sein späteres großes Liebesbedürfnis. So hat er eine bürgerliche Welt erfahren und erlebt, die ihr Selbstverständnis aus dem längst verflossenen 18. Jahrhundert gewann.

 

In der Landschaft, wo ich geboren wurde, liegt, freilich nur für den, der die Wünschelrute zu handhaben weiß, die Poesie auf Heiden und Mooren, an der Meeresküste und auf den feierlich schweigenden Weidenflächen hinter den Deichen; die Menschen selber dort brauchen die Poesie nicht und graben nicht danach.

Theodor Storm: Entwürfe einer Tischrede

 

Wie er als Knabe das Erzählen schätzen gelernt hat, erfährt der heutige Leser aus den „Geschichten aus der Tonne“ und aus seinen „Erinnerungen an Lena Wies“, eine Bäckersfrau und Geschichtenerzählerin, mit der er sich angefreundet hatte. Sie wohnte gleich um die Ecke in der Langenharmstraße.

 

1826 trat Theodor in die Quarta der 1527 gegründeten Husumer Gelehrtenschule ein, wo ihm eine solide humanistische Bildung vermittelt wurde und wo er das klassische Handwerkszeug der Dichtkunst erlernte. Als Schüler schrieb er Verse nach antiken und klassischen Vorbildern und orientierte sich an der noch um 1830 populären Wochenblatt-Poesie. Am 27. Juli 1834 druckte das Husumer Wochenblatt sein erstes Gedicht „Sängers Abendlied“.

Im Herbst 1835 wurde Theodor auf Wunsch des Vaters in die Prima des Katharineums in der Hansestadt Lübeck aufgenommen; dort begeisterte er sich für die zeitgenössische Literatur. Er vervollständigte die in Husum begonnene Allgemeinbildung, die vom Menschenbild der griechischen Polis und vom politischen Ideal der römischen Republik geprägt wurde.

Unmittelbar nach Abschluss seines Schulbesuchs in Lübeck immatrikulierte er sich 1837 an der juristischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität in Kiel. Nach einem kurzen Zwischenspiel in Berlin lernte er wieder in Kiel die Brüder Theodor und Tycho Mommsen kennen, begann mit einem Freundeskreis Sagen, Märchen und Lieder aus den Herzogtümern Schleswig und Holstein zu sammeln und stellte gemeinsam mit den Mommsens das „Liederbuch dreier Freunde“ zusammen. Als er 1842 in seine Vaterstadt zurückkehrte, konnte der junge Advokat miterleben, wie die Zeit seiner Jugend zu Ende ging. In Husum half er zunächst in der Kanzlei seines Vaters, dann machte er sich selbständig und bezog ein Haus in der Neustadt 56.

 

Eine tiefe Liebe zu der noch kindlichen Bertha von Buchan aus Hamburg war während der Studienzeit gescheitert, hatte den jungen Dichter aber zu ersten selbständigen Liebes- und Naturgedichten angeregt, in denen er sich von der rhetorischen Phrase seiner Schülerversuche befreien konnte. Es folgte die Verlobung mit seiner Cousine Constanze Esmarch aus Segeberg, 1846 die Heirat und schließlich der Beginn einer bürgerlichen Karriere in der abgeschiedenen Provinz, über die heute kein Wort zu verlieren lohnte, hätte der junge Mann nicht parallel zu seiner juristischen Tätigkeit Gedichte und Erzählungen geschrieben, die sich in erheblicher Weise von den konventionellen Produkten seiner Freunde unterschieden.

Im Wohnhaus in der Neustadt 56 entstanden unter anderen die Novelle „Immensee“ und das Gedicht „Die Stadt“. Hier erlebte die Familie das Scheitern der schleswig-holsteinischen Erhebung und musste von 1853 bis 1864 ins preußische Asyl ausweichen.

 

Die Stadt Weimar hat einer Epoche ihren Namen gegeben, der Weimarer Klassik. Theodor Storm hat seiner Vaterstadt einen Beinamen gegeben, die „graue Stadt am Meer“. Aber der Name Husum kommt im Gedicht gar nicht vor, und weil die kleine Stadt an der Nordsee den vielen Besuchern heute eher bunt erscheint, vermuten einige Kritiker, Storm habe ein Ideal von Stadt beschrieben und gar nicht seine Heimatstadt gemeint. Die Husumer haben dieses Gedicht aber angenommen und identifizieren sich mittlerweile mit der literarischen Huldigung.

 

Die Stadt

 

Am grauen Strand, am grauen Meer

Und seitab liegt die Stadt;

Der Nebel drückt die Dächer schwer,

Und durch die Stille braust das Meer

Eintönig um die Stadt.

 

Es rauscht kein Wald, es schlägt im Mai

Kein Vogel ohn’ Unterlass;

Die Wandergans mit hartem Schrei

Nur fliegt in Herbstesnacht vorbei

Am Strande weht das Gras.

 

Doch hängt mein ganzes Herz an dir,

Du graue Stadt am Meer;

Der Jugend Zauber für und für

Ruht lächelnd doch auf dir, auf dir,

Du graue Stadt am Meer.

 

Das dreistrophige Gedicht gehört zu der Handvoll Texte, die Storms Ideal am nächsten kommen, dem liedhaften Gedicht, von dem das Gemüt des Lesers angesprochen wird, weniger sein Verstand. Man hat solche Texte später mit dem Attribut „Erlebnislyrik“ versehen und sie für den unmittelbaren Ausdruck einer dichterischen Empfindung gehalten. Aber Storms lyrische Meisterwerke sind handwerklich perfekt konstruierte Texte und genau kalkulierte Kunstwerke, die in einem dafür empfänglichen Leser nur die Illusion der Unmittelbarkeit erzeugen. Sie entsprechen dem Idealtypus des rein lyrischen Gedichts, das phrasenhaft-rhetorische Reflexionen vermeidet und ohne didaktischen Anspruch auf die Unmittelbarkeit sensueller Präsenz setzt. Das macht ihre Modernität aus und erhebt sie über die Massenproduktion vieler Anthologien des 19. Jahrhunderts.

 

Von einem Kunstwerk will ich, wie vom Leben, unmittelbar und nicht erst durch die Vermittlung des Denkens berührt werden; am vollendetsten erscheint mir daher das Gedicht, dessen Wirkung zunächst eine sinnliche ist, aus der sich dann die geistige von selbst ergibt, wie aus der Blüte die Frucht.

Theodor Storm: Vorwort zum „Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius“ (1870)

 

Die großen Hoffnungen des Bürgertums in den Herzogtümern auf ein unabhängiges Schleswig-Holstein als Teil eines neu geordneten Deutschlands lösten sich nach einer kurzen Zeit der Begeisterung in Luft auf. 1852 wurde Storms Bestallung als Rechtsanwalt kassiert; er war nicht bereit, eine Loyalitätserklärung gegenüber der dänischen Krone abzugeben, da er sich als Sekretär des „Patriotischen Hülfsvereins“ in Husum für die provisorische Regierung engagiert hatte. Außerdem lieferte er als Korrespondent der von seinem Freund Theodor Mommsen redigierten „Schleswig-Holsteinische(n)-Zeitung“ Berichte aus seiner nordfriesischen Heimat und galt bei den dänischen Behörden als Unruhestifter. Storm begab sich auf Stellungssuche und fuhr nach Berlin. Seine Sicht der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Dänemark und Schleswig-Holstein hat der Dichter ausführlich in der Novelle „Ein grünes Blatt“ dargestellt.

 

1. Januar 1851

 

Sie halten Siegesfest, sie ziehn die Stadt entlang;

Sie meinen Schleswig-Holstein zu begraben.

Brich nicht, mein Herz! Noch sollst du Freude haben;

Wir haben Kinder noch, wir haben Knaben,

Und auch wir selber leben, Gott sei Dank!

 

Mit der Veröffentlichung von „Immensee“ (1851) wurde Storm im deutschsprachigen Kulturraum als Erzähler bekannt. Der resignative Ton dieser Novelle traf die Stimmung nach dem Scheitern der bürgerlichen Revolution von 1848 und die Erzählung erreichte bis zu Storms Tod 30 Auflagen. Die erste Sammlung seiner „Gedichte“ erschien 1852 in Kiel und wurde von der literarischen Öffentlichkeit mit Wohlwollen aufgenommen.

 

Im preußischen Exil

In Berlin bemühte sich der junge Jurist um eine Stelle im preußischen Justizdienst; nach längerer Wartezeit wurde er zum Gerichtsassessor ernannt; Wohnung nahm die Familie in Potsdam. Storm wurde Mitglied im „Tunnel über der Spree“ und schloss Freundschaft mit Theodor Fontane, Paul Heyse, Franz Kugler, Friedrich Eggers und anderen.

Die Zeit in Potsdam war eine Übergangszeit; sie ist aber auch zu einer Lehrzeit für Storm geworden, die er tatkräftig genutzt hat, um sich auf seine spätere schriftstellerische Arbeit vorzubereiten. Auf diesem Weg haben ihn die Berliner Freunde begleitet und gefördert; ihre Kritik war es, die es Storm ermöglichte, die bisherigen Schwächen seiner Fabulierkunst zu überwinden. Ihr Lob hat ihn darin bestärkt, dasjenige in seinen Erzählungen zu bewahren, das ihn bekannt gemacht hatte, die Fähigkeit nämlich zur poetischen Schilderung von bedeutsamen Situationen in einer Sprache, die bis heute einen großen Leserkreis zu fesseln vermag. Die Verknüpfung solcher subjektiver Elemente zu einem Erzählganzen gelang ihm aber nur im Ansatz durch die gemeinsame Klammer der Resignation. Die kalkulierte Verwendung einer Erinnerungsperspektive, durch die der Erzähler Distanz zum dargestellten Geschehen gewinnt, gehört einer späteren Schaffenszeit an. Wäre Storm hier stehen geblieben, so könnte seine Erzählkunst neben seiner Lyrik nicht bestehen. Aber er verfolgte in zunehmendem Maße die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen in ihrer geschichtlichen Bedingtheit und fand in der unmittelbaren Erfahrung seiner kulturellen und sozialen Lebenswirklichkeit Stoffe, die ihm als Themen für seine Novellen geeignet erschienen. Deshalb konnte er als aufmerksamer Beobachter und unabhängiger Kritiker seiner Zeit bedeutsame Momente des wirklichen Lebens in freilich manchmal verklärter Weise darstellen. So vorbereitet hat Theodor Storm in den nächsten dreißig Jahren fast vierzig Novellen geschrieben, von denen viele jene unverwechselbare Mischung von bisweilen hartem Realismus und verklärender Poesie aufweisen, die ihm sein Lesepublikum bis heute honoriert.

Mit der nach der Übersiedlung nach Heiligenstadt Anfang 1858 fertiggestellten Novelle "Auf dem Staatshof" gelang Storm der erzählerische Durchbruch. Zum ersten Mal erfindet er einen Ich-Erzähler, der selbst in das fiktive Geschehen eingebunden wird und sich später in einem Prozess der Erinnerung dessen zu vergewissern versucht, was zuvor geschehen ist. Damit hatte Storm eine Erzählhaltung gefunden, die er in seinen späteren Novellen immer neu variieren und zu künstlerischer Vollkommenheit weiterentwickeln konnte. Zugleich aber hatte er einen Stoff gewählt, mit welchem er nicht mehr bloße Erlebnisse aus seiner Kindheit und Jugend in der Heimat skizzenhaft darstellen, sondern die Lebensgeschicke seiner Helden mit historischen Ereignissen zu einem neuen Ganzen verknüpfen konnte. Die Details der nordfriesischen Geografie dienen dazu, eine realistische Kulisse zu entwerfen, vor der die menschlichen Probleme in einer Handlung von ganz neuem, starkem objektiven Gehalt entfaltet werden. Damit konnte Storm erstmals das zentrale Problem realistischen Schreibens lösen, indem er Elemente der zeitgenössischen Wirklichkeit mit seinem künstlerischen Anspruch vermittelte, die Welt in einem literarischen Kunstwerk poetisch darzustellen.

 

 

Zurück in Husum

In Folge des Deutsch-Dänischen Krieges besiegten preußisch-österreichische Truppen 1864 die Dänen; die Herzogtümer Schleswig und Holstein wurden vom dänischen Gesamtstaat abgetrennt. Storm wurde zum Landvogt des Kreises Husum gewählt; er schied aus dem preußischen Staatsdienst aus und kehrte nach Husum zurück. Im März trat er sein Landvogt-Amt in seiner Vaterstadt an. Das war ein verantwortungsvoller Posten, denn er war nicht nur für straf- und zivilrechtliche Angelegenheiten zuständig, sondern auch für Vormundschaftssachen und Polizeiangelegenheiten im Umkreis von Husum. Aber das neue Glück war nicht von Dauer. Am 20. Mai 1865 starb Constanze an den Folgen der Geburt ihrer Tochter Gertrud, ein Verlust, der Storm in seine größte Lebenskrise trieb, aus der er sich nur allmählich wieder ins Leben herausarbeiten konnte.

 

Tiefe Schatten

 

In der Gruft bei den alten Särgen

Steht nun ein neuer Sarg,

Darin vor meiner Liebe

Sich das süßeste Antlitz barg.

 

Den schwarzen Deckel der Truhe

Verhängen die Kränze ganz;

Ein Kranz von Myrtenreisern,

Ein weißer Syringenkranz.

 

Was noch vor wenig Tagen

Im Wald die Sonne beschien,

Das duftet nun hier unten:

Maililien und Buchengrün.

 

Geschlossen sind die Steine,

Nur oben ein Gitterlein;

Es liegt die geliebte Tote

Verlassen und allein.

 

Vielleicht im Mondenlichte,

Wenn die Welt zur Ruhe ging,

Summt noch um die weißen Blüten

Ein dunkler Schmetterling.

 

In den Jahren nach dem Einzug in das neue Haus Wasserreihe 31, wo sich auch für kurze Zeit die Husumer Landvogtei befand, entwickelt Storm eine besondere realistische Schreibweise. Man kann den bescheiden eingerichteten Amtsraum noch heute besichtigen, in ihm sind Dokumente der damaligen Tätigkeit Storms ausgestellt. Die Stimmungen, die seine früheren Werke dominiert hatten, trägt er nun nicht mehr in seine Werke hinein, sondern sie stellen sich beim Leser aus den vorgetragenen Tatsachen ganz von selbst ein. Bereits in seiner Novelle „Draußen im Heidedorf“ gelingt es ihm, den vorher häufigen Wechsel des Erzähltons und breite elegische Stimmungspartien zu überwinden und die Wirklichkeit angemessen wiederzugeben. In ihr hat er einen Fall aus seiner Praxis als Landvogt beschrieben. Die Komposition der Novellen aus dieser Zeit weist eine durchgehende Handlung auf und überwindet die in früheren Erzählungen häufig anzutreffenden Situationsschilderungen, die sich wie Bilder aneinander reihen. Seine Themen lassen nun auch die literarische Bewältigung einer hässlichen Wirklichkeit zu.

Es sind schwere Lebensschicksale, die sich in dieser Periode des Dichters in den Vordergrund drängen; an einzelnen Lebenswegen einfacher Menschen werden sie uns vorgeführt und Storm wählt dafür ihm vertraute Kulissen. Seine Handlungsräume sind Bürgerhäuser, Künstlerwerkstätten, Gutshöfe, Kirchen und Schlösser; die Menschen agieren in Städten und Dörfern, die man unschwer mit Husum und anderen Siedlungen Nordfrieslands in Verbindung bringen kann. Der Dichter literarisiert den Kulturraum zwischen Meer, Watten, Deichen, Marsch und Geest. Kein anderer der großen realistischen Erzähler hat sein Werk so sehr mit persönlichen Erfahrungen seiner Heimat verwoben und dadurch eine so enge und sinnstiftende Einheit von Mensch und Landschaft, von Individualität und kultureller Zugehörigkeit beschworen wie Theodor Storm.

Dabei erzählt er immer wieder von Problemen, die ihn und seine Zeitgenossen bewegt haben; von Geldgier und Spekulation, vom Standesdenken und von der Erstarrung bürgerlicher Familien. Konflikte wie den Alkoholismus greift er aus seiner Lebenswirklichkeit auf, er formt sie aber künstlerisch und hebt sie dadurch vom konkreten Ereignis ab, so dass sie ein allgemeines, zeittypisches Gepräge erhalten.

 

Meeresstrand

 

An’s Haf nun fliegt die Möwe,

Und Dämm’rung bricht herein;

Über die feuchten Watten

Spiegelt der Abendschein.

 

Graues Geflügel huschet

Neben dem Wasser her;

Wie Träume liegen die Inseln

Im Nebel auf dem Meer.

 

Ich höre des gärenden Schlammes

Geheimnisvollen Ton,

Einsames Vogelrufen –

So war es immer schon.

 

Noch einmal schauert leise

Und schweiget dann der Wind;

Vernehmlich werden die Stimmen,

Die über der Tiefe sind.

 

In der ersten Etage des geräumigen Hauses Wasserreihe 31 gelangt man durch das Geschirrzimmer in den großen Wohnraum und weiter in ein kleineres Zimmer, das von Storms zweiter Frau bewohnt wurde. Das chinesische Porzellan im Geschirrschrank erinnert an die wohlhabende Patrizierfamilie, aus der Storms Mutter stammte. Man benutzte es, wenn die weitläufige Verwandtschaft zu Feierlichkeiten zusammenkam. Die Geselligkeit im Freundes- und Familienkreis hatte für Storm einen sehr hohen Stellenwert; die Familie galt ihm als Keimzelle der menschlichen Gesellschaft und das Konzept der Liebesheirat hatte seine eigene Jugend geprägt. Später griff er das Thema Familie immer wieder auf. Ein durchgehendes Motiv seiner Novellen ist die Frage, warum menschliche Beziehungen misslingen, obwohl sie auf dem Prinzip Liebe aufgebaut werden.

Das Wohnzimmer, das mit Möbeln aus Storms Besitz eingerichtet ist, diente der Familie als täglicher Treffpunkt. Hier saß er auf seinem Biedermeiersofa und zelebrierte seine Teestunden, hier las er aus eigenen Werken und denen der für ihn bedeutenden Autoren vor. Die heranwachsenden Kinder, seine Frau und weitere Verwandte waren die ersten, die seine Erzählungen hörten. So erprobte er, ob sich seine Formulierungen auch für sein Zielpublikum eigneten, eine vor allem weibliche bürgerliche Lesegesellschaft. Der literarische Markt wurde von Storm genau ausgelotet und er passte sich in seiner Formulierungskunst geschickt den Erwartungen seiner Verleger und Leser an.

Das kleine Wohnzimmer diente Dorothea und den jüngsten Kindern als Schlaf- und Wohnraum. Der Schreibtisch vor der Wand erinnert an Storms erste Frau Constanze, die das Leben ihrer Familie in diesem Hause nicht mehr erlebt hat. Das Klavier im großen Wohnzimmer verweist auf eine weitere Leidenschaft Storms. Der Dichter war nämlich ein begeisterter Musikliebhaber, gründete 1843 einen gemischten Chor und veranstaltete mit seinen interessierten Mitstreitern bedeutende Konzerte in Husum und später mit einem zweiten Chor auch in Heiligenstadt. Er selber besaß einen beachtlichen Bariton.

Die farbigen Aquatintaradierungen stammen von Charles Melchior Descourtis nach Zeichnungen von Jean-Frédéric Schall und illustrieren den in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstandenen Roman „Paul et Virginie“ des Franzosen Jacques-Henri Bernardin de Saint-Pierre, der bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts auch in Deutschland viel gelesen wurde. Theodor Storm benutzte diese Blätter, die er in seiner Familie fand, zur Gestaltung der exotischen Handlungsräume seiner Novelle „Von Jenseit des Meeres“, da ihm eine eigene Anschauung von fremden Ländern fehlte. Er gestaltet in dieser Erzählung die attraktiven exotischen Elemente, um sein Gegenkonzept zur Entsagungsmoral der Aufklärung zu entfalten: In der Geborgenheit der bürgerlichen Familie kann der Einzelne seine Möglichkeiten entfalten und auch seine sinnlichen Wünsche ausleben.

Storms Gesamtwerk ist überschaubar; durch die Wahl der Novellenform musste er sich kurz fassen und seine Texte poetisch verdichten. 58 Erzählungen, einige kulturhistorische Skizzen und autobiographische Aufzeichnungen sind neben ein paar hundert Gedichten der Ertrag eines 55 Jahre umfassenden Schaffens. Trotz dieses übersichtlichen Œuvres zählt Storms Natur- und Liebeslyrik zu der bedeutendsten des 19. Jahrhunderts. In seinen fein komponierten Novellen greift er immer wieder Probleme der bürgerlichen Familie auf und fragt nach den Gründen für das Scheitern zwischenmenschlicher Beziehungen. Darüber hinaus beschäftigt er sich mit aktuellen Problemen wie Sterbehilfe und Resozialisation und übt Kritik am gründerzeitlichen Optimismus und zügellosen Erwerbsstreben. Die Komplexität seiner Texte fordert bis heute zu unterschiedlichen Lesarten und Deutungsstrategien heraus.

 

1866 besetzten preußische Truppen die Herzogtümer Schleswig und Holstein, die als Provinzen ins Königreich Preußen eingegliedert wurden. Nach Aufhebung des Amtes des Landvogts im Jahre 1867 wurde Storm Amtsrichter; die preußische Verwaltung empfand er – wie in den Jahren des Heiligenstädter Exils − als Bevormundung. Im Verlag Westermann erschien als vorläufige Summe seiner bisherigen Arbeit die erste Auflage der „Sämtlichen Schriften“. Storm zog sich aus den politischen Auseinandersetzungen nun ins Private zurück und lebte vor allem seiner Literatur. Den Krieg von 1870/71 betrachtete er mit Abscheu und erlebte die Reichsgründung ohne patriotische Begeisterung.

Im „Poetenstübchen“, Storms Arbeitszimmer, das er sich 1866 im neugotischen Stil einrichten ließ, hat er mehr als 20 Novellen geschrieben, darunter „Pole Poppenspäler“, „Aquis submersus“ und „Carsten Curator“. Die Ausstattung des Zimmers und seine Möblierung entsprechen bis ins Detail der Storm-Zeit und vermitteln noch heute etwas von der Atmosphäre, die der Dichter zum Schreiben brauchte.

In diesen Jahren in der Abgeschiedenheit der schleswig-holsteinischen Provinz waren es die Freunde, die den Kontakt zur Außenwelt ermöglichten; in umfangreichen Korrespondenzen konnte Storm an den poetologischen Diskursen seiner Zeit ebenso teilnehmen wie an der politischen Entwicklung des neu gegründeten Deutschen Reichs.

Mehrere Reisen führen ihn in andere deutsche Provinzen, er fuhr sogar einmal nach Österreich zu seinem Kollegen, dem Reichsrat Heinrich Schindler, der in Salzburg hochherrschaftlich residierte, aber den deutschen Sprachraum verließ Storm nie. Unter seinen Korrespondenzpartnern waren bedeutende Schriftsteller wie Eduard Mörike, Theodor Fontane, Paul Heyse, Iwan Turgenjev und Gottfried Keller; von den Künstlern kannte er Adolph Menzel und Ludwig Richter; mit Erich Schmidt, dem ersten Direktor des Goethe-Archivs in Weimar, war er eng befreundet. Und auch die hohe Politik im fernen Berlin war ihm bekannt durch die engen familiären Kontakte zu Christoph von Tiedemann, dem Reichstagsabgeordneten und Vertrauten Bismarcks, der dessen Reichskanzlei aufgebaut und einige Jahre geleitet hat.

Diese vielfältigen Kontakte haben auch Spuren in Storms Novellen hinterlassen; trotz der abgelegenen Schauplätze sind sie im Vergleich mit anderen realistischen Texten des 19. Jahrhunderts überraschend welthaltig und fügen sich an herausragender Stelle in das Konzept des poetischen Realismus nach der Mitte des Jahrhunderts ein.

In seinem Poetenstübchen stand dem Dichter seine umfangreiche poetische Bibliothek mit mehr als 3500 Bänden zur Verfügung; sie enthielt Literatur über alle Sachbereiche, die zu einer bürgerlichen Bildungswelt gehörten. Storm sammelte illustrierte Ausgaben von Autoren des 18. Jahrhunderts und besaß viele Exemplare zeitgenössischer Literatur, oft mit persönlichen Widmungen seiner Kollegen. Darüber hinaus enthielt seine Bibliothek Nachschlagewerke und Sammlungen zu allen geisteswissenschaftlichen Fächern sowie Quellenwerke zur Geschichte vor allem seiner nordfriesischen Heimat.

Im wiederkehrenden Akt des Lesens vollzog sich der lebenslange Bildungsprozess, der jene geistige Grundlage schuf, die es dem in vielfältige private und berufliche Beziehungen eingebundenen Juristen Theodor Storm ermöglichte, lyrische Gedichte und welthaltige Novellen zu schreiben. Bücher waren für Storm in einem übertragenen Sinne „Lebensmittel“; er nutzte sie als Quellen bei der Konzeption von Erzählstoffen und während seiner intensiven Schreibprozesse.

In den Novellen Storms erscheinen alle Einzelheiten als Abbilder der allgemeinen Verhältnisse, sie werden aber dank des Kunstcharakters der Werke nur als individuelle Eigenarten der literarischen Figuren sichtbar. Die Fähigkeit, das Allgemeine im Konkreten sichtbar werden zu lassen, ist das zentrale künstlerische Merkmal des Realismus. Dafür bedarf es weitaus mehr als des bloßen Materials, das Anregungen und Quellen zu liefern imstande ist. Der Kunstcharakter der Texte besteht in einer besonderen Anordnung von Fakten, die der Künstler zunächst in der Wirklichkeit der Dinge erkannt und aus dem durch die Sinne Fassbaren abgeleitet haben muss. Diese rohen Stoffe müssen künstlerisch geformt werden, um zu bedeutenden Werken zu werden. Der kreative Leser kann das dargestellte Wirkliche in seinem Bewusstsein überschreiten, indem er anhand ausgewählter Wirklichkeitsausschnitte in einem literarischen Text zur Wahrheit dieser Wirklichkeit vordringt. Er erfährt im Aufnehmen der konkreten Details eine größere oder „höhere“ Wahrheit; darin besteht eine der Funktionen von Literatur. Indem Storm uns in seinen Texten diese Möglichkeit anbietet, hat er nach heutiger Auffassung einen bedeutenden Beitrag zur Weltliteratur geliefert.

 

 

Alter in Hademarschen

Ende der 1870er Jahre entschloss sich Storm, seine Berufstätigkeit zu beenden; er ließ sich im Jahre 1880 pensionieren und zog von Husum weg in das holsteinische Dorf Hademarschen, wo er eine großzügige Villa erbauen ließ. Diesem letzten Lebensabschnitt ist im Storm-Museum das „Hademarschen-Zimmer“ gewidmet, in dessen Mittelpunkt der große Schreibtisch steht, den ihm Verehrerinnen zum 70. Geburtstag geschenkt haben. Die vier Eulen hat der junge Maler Emil Nolde geschnitzt, der damals eine Lehre in der Möbelmanufaktur Sauermann in Flensburg absolvierte.

In der hügeligen Landschaft unmittelbar südlich des heutigen Nord-Ostsee-Kanals fand Storm mit Abstand zu seinen Erinnerungen in Husum noch einmal eine fruchtbare Periode des engagierten Schreibens, und es entstanden seine Altersnovellen, darunter  „Der Herr Etatsrat“, „Hans und Heinz Kirch“, „Zur Chronik von Grieshuus“ sowie „Ein Doppelgänger“ und zum Schluss das Meisterwerk „Der Schimmelreiter“.

Der Deichgraf Hauke Haien, sein neues Deichprofil und sein Scheitern werden seit dem Erscheinen von Storms Novelle  bis heute glorifiziert. Der Charakter, den man seit mehr als einhundert Jahren auf ihn projiziert, schillert zwischen dem Bild einer charismatischen Führergestalt und eines faustischen Übermenschen, zwischen genialem Schöpfertum und tragischem Scheitern. Er verkörpert für viele den Widerstand der Menschen an der Westküste Schleswig-Holsteins gegen die ständigen Angriffe der Nordsee. Das Bild von Hauke Haien hat sich von seinem literarischen Vorbild längst gelöst und ist zur kollektiven Vorstellung einer Kulturgemeinschaft geworden, die in ihm eine regionale Sagengestalt erkennen will.

Die Sturmfluten und der dramatische Kampf der Marschbauern um den Erhalt ihrer Köge vom späten 15. bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts bilden den Zeithintergrund der Novelle. Die Handlungsorte: den neuen Hattstedter Koog nördlich von Husum, den Deichgrafenhof, das Geestdorf mit seiner Kirche und dem Friedhof, das Gasthaus am Deich hat Storm bis ins Detail der Wirklichkeit nachgebildet, aber zugleich nach erzähllogischen Notwendigkeiten neu zusammengefügt. Storm inszenierte die Novellenhandlung in erfundenen Räumen, in denen er Personen handeln lässt, deren Vorbilder aus der Geschichte Nordfrieslands stammen. Die Landschaftsbilder in Storms Erzählung haben die Vorstellungen vom Land zwischen Geest und Nordseeküste vieler Generationen seiner Leser bis heute nachhaltig geprägt. Solche Zusammenhänge werden in einer multimedialen Ausstellung erläutert, die in der oberen Etage des Storm-Hauses zu sehen ist.

 

Storms Alter war nicht so idyllisch, wie es vor allem seine Tochter Gertrud in ihren biographischen Veröffentlichungen dargestellt hat. Familiäre Konflikte, finanzielle Probleme und schwere Krankheiten überschatteten die letzten Jahre, in denen der Dichter eine eher pessimistische Grundhaltung entwickelte. So musste er erleben, wie sein ältester Sohn Hans 1886 nach langen unsteten Jahren an den Folgen des Alkoholismus starb. Auch die Zukunftsperspektiven seiner Töchter entwickelten sich nicht so, wie es sich der Vater vorgestellt hatte. Diese Sorgen quälten ihn und der Magenkrebs sowie andere schwere Erkrankungen behinderten immer wieder seine Schreibprozesse.

Storm starb nach Vollendung des „Schimmelreiters“ am 4. Juli 1888 im Alter von fast 71 Jahren in seinem Haus in Hademarschen; die Beisetzung fand am 7. Juli in der Familiengruft auf dem Husumer St. Jürgen-Friedhof statt.

 

Theodor Storm war mit seinen Erzählungen bereits zu Lebzeiten ein beachteter und viel gelesener Autor; nach dem ersten Weltkrieg und nach Aufhebung der Schutzfrist im Jahre 1917 begann eine Erfolgsgeschichte, die bis heute anhält. Bis in die 1930er Jahre erschienen mehr als zwanzig Werkausgaben und viele hundert Einzelausgaben seiner Novellen. Die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in beiden deutschen Staaten gedruckten Ausgaben umfassen fast 8 Millionen Exemplare, zählt man die Schullektüren hinzu, wurde bereits vor der Wende zum 21. Jahrhundert die 10-Millionengrenze überschritten. „Der Schimmelreiter“ und „Pole Poppenspäler“ zählen in vielen Bundesländern zur Pflichtlektüre des Deutschunterrichts. Storms Texte sind in mehr als 30 Sprachen übersetzt worden; vor allem in englischsprachigen Ländern und in Japan gilt er als einer der bedeutenden Schriftsteller des 19. Jahrhunderts und ist weltweit einer der meistgelesenen aller deutschen Autoren.

 

 

 Einen bebilderter Stadtrundgang finden Sie unter Essays: Auf den Spuren Theodor Storms durch Husum

 

 

Theodor Storm 1817 - 1888

 

Elternhaus, Vorfahren, Schule und Studium (1817-1842)

1817      Hans Theodor Woldsen Storm wird am 14. September in Husum als Sohn des Rechtsanwalts Johann Casimir Storm (1790-1874) geboren; Mutter: Lucie, geb. Woldsen (1797-1879).

1826            Theodor tritt in die Quarta der Husumer Gelehrtenschule ein und erwirbt eine humanistische Grundbildung. 1834 erste Gedichtveröffentlichung im Husumer Wochenblatt.

1837      Beginn des Jura-Studiums in Kiel; Freundschaft mit Theodor und Tycho Mommsen. Juristisches Staatsexamen in Kiel. Beginn der Sammlung von Sagen und Reimen aus Schleswig-Holstein. Seit Herbst 1842 lebt Theodor wieder in Husum.

 

Als Rechtsanwalt in Husum (1843-1852)

1843      Zunächst arbeitet Storm in der väterlichen Kanzlei; Anfang des Jahres eröffnet er eine eigene Rechtsanwaltspraxis; Gründung eines gemischten Gesangvereins. 1846 Eheschließung mit Constanze.

1848      Storm engagiert sich für die nationale Unabhängigkeit Schleswig-Holsteins und verfasst Berichte für die „Schleswig-Holsteinische Zeitung“ aus seiner Vaterstadt Husum.

1852      Storms Bestallung als Rechtsanwalt wird kassiert. Stellungssuche, erste Reise nach Berlin. Mit der Veröffentlichung von „Immensee“ wird Storm im deutschsprachigen Kulturraum als Dichter bekannt. Die erste Sammlung seiner „Gedichte“ erscheint.

 

Im preußischen Exil (1853-1864)

1853      Storm wird er zum preußischen Gerichtsassessor ernannt; Wohnung in Potsdam. Er schließt sich dem „Tunnel über der Spree“ an.

1856      Ernennung zum Kreisrichter in Heiligenstadt; Übersiedlung nach Thüringen.

1862      Novelle „Im Schloß“, in der Storm seine demokratische Gesinnung veranschaulicht.

 

Landvogt und Amtsrichter in Husum (1864-1880)

1864      Infolge des deutsch-dänischen Krieges besiegen preußisch-österreichische Truppen die Dänen. Storm wird zum Landvogt von Husum gewählt und kehrt nach Husum zurück. 1865 Tod Constanzes. Gedichtzyklus „Tiefe Schatten“; Reise nach Baden-Baden zu Iwan Turgenjew.

1866      Vermählung mit Dorothea Jensen; Umzug in das Haus Wasserreihe 31, wo Storms achtes Kind geboren wird. Nach Aufhebung des Amtes des Landvogts wird Storm preußischer Amtsrichter; die erste Auflage der „Sämtlichen Schriften“ erscheint.

1876      Beginn der Freundschaft und des Briefwechsels mit Gottfried Keller und mit Erich Schmidt. Storms Novellistik entwickelt sich in Richtung auf eine kompromisslose Realistik. 1880 wird Storm auf eigenen Wunsch pensioniert.

 

Alter in Hademarschen (1880-1888)

1880      Umzug nach Hademarschen; Neubau einer großzügigen Villa. Mit seinen Erzählungen setzt Storm die Kritik am Bürgertum der Gründerzeit fort und thematisiert den Verfall der Familie. 1886 reist er nach Weimar zur Jahresversammlung der Goethe-Gesellschaft; 1886 Beginn der Niederschrift des „Schimmelreiters“. Schwere Krankheit. Tod des ersten Sohnes Hans.

1887      Zur Feier seines 70. Geburtstags wird der Dichter in ganz Deutschland geehrt. Fortsetzung der Arbeiten am „Schimmelreiter“.

1888      Vollendung der Novelle „Der Schimmelreiter“; Tod Storms am 4. Juli; Beisetzung am 7. Juli in der Familiengruft auf dem Husumer St. Jürgen-Friedhof.