Hyazinthen1
Fern hallt Musik; doch hier ist
stille Nacht,
Mit Schlummerduft anhauchen mich die Pflanzen.
Ich habe immer, immer dein gedacht;
Ich möchte schlafen, aber du musst tanzen.
Es hört nicht auf, es rast ohn
Unterlass;
Die Kerzen brennen und die Geigen schreien,
Es teilen und es schließen sich die Reihen,
Und alle glühen; aber du bist blass.
Und du musst tanzen; fremde Arme
schmiegen
Sich an dein Herz; o leide nicht Gewalt!
Ich seh dein weißes Kleid vorüberfliegen
Und deine leichte, zärtliche Gestalt. – –
Und süßer strömend quillt der
Duft der Nacht
Und träumerischer aus dem Kelch der Pflanzen.
Ich habe immer, immer dein gedacht;
Ich möchte schlafen, aber du musst tanzen.
„Hyazinthen“ gilt als eines der besten Gedichte Storms;2 Thomas Mann lässt es Tonio Kröger als ein wunderschönes Gedicht empfinden und ordnet es in seinem Storm-Essay3 mit seiner vornehmen Zärtlichkeit, seiner cellomäßig gezogenen Fülle von Empfindung, Schwermut, Liebesmüdigkeit“ dem „Höchsten und Reinsten“ zu, was Gefühl und Sprache hervorgebracht haben, und vollkommenen Unsterblichkeitscharakter besitzt. Erlebtes, Erinnertes, Gegenwart und Vergangenheit werden miteinander zu einem vollkommenen Gebilde verwoben. Die Stimmung einer eifersüchtigen Melancholie entfaltet sich getrennt vom Ort des Tanzes, beachtet man den biographischen Hintergrund, das Liebesverhältnis von Theodor Storm zu seiner späteren Frau Constanze Esmarch, in verdichteter Weise: die räumliche Entfernung (Husum – Segeberg) ist so weit reduziert, dass das lyrische Ich die Musik tatsächlich wahrnehmen kann, und von der Geliebten wird jeder Vorwurf ferngehalten.4 Grund ist die aus Eifersucht geborene Vision, Constanze könne sich ohne ihn auf einer Tanzveranstaltung vergnügen.
Der Vorgang wird nicht eigentlich erzählt; die Gefühle des lyrischen Ichs, das schlafen möchte, stehen im Vordergrund. Die Hyazinthen des Titels werden im Gedicht nicht mehr erwähnt, aber ihr betörender Duft wird durch die heftigen Verben rasen, brennen, schreien und glühen in der zweiten Strophe in einen auffälligen Kontrast zur Weichheit des Sentiments gesetzt.
Storm orientiert sich formal an klassischen Prinzipien, indem er vierzeilige Strophen aus fünfhebigen Jamben bildet, aber der eigentliche Kunstcharakter zeigt sich erst beim wiederholten Lesen der Verse, deren Liedcharakter und hohe Musikalität bereits Thomas Mann aufgefallen sind. Das konventionelle metrische Bauschema, das der Klanggestalt des Gedichts zugrunde liegt, wird mit einer großen Souveränität ausgeführt. Aber die Tradition des antiken Verses allein ist es nicht, die diesen Text aus der großen Zahl ähnlicher Gebilde der Storm-Zeit heraushebt.
Die Eigenheit des metrischen Systems der deutschen Sprache wird von der Prosodie bestimmt, d. h. von den Betonungsregeln und insbesondere der Klassifizierung von Silben; im Unterschied zur quantitierenden Metrik der Antike, die zwischen langen und kurzen Silben unterscheidet, akzentuiert die deutsche Sprache und unterscheidet zwischen betonten und unbetonten Silben. Die von Storm noch häufig verwendeten festen Versmaße und traditionellen Formen werden im gesprochenen Text vom Rhythmus überlagert, der auch die Rede in der Zeit gliedert. In der Lyrik, vor allem im liedhaften Gedicht, wird eine Sprachbewegung erzeugt, die aus der Spannung zwischen den vorgegebenen metrischen Schemata und ihrer sprachlichen Erfüllung entsteht. Texte, bei denen das Metrum den Rhythmus dominiert, wirken spannungslos, was sich bei vielen epigonalen Gedichten der Storm-Zeit beobachten lässt.
Da die antiken Silben-Maß-Grundlagen von Quantität und Zahl in der deutschen Sprache gar nicht nachgeahmt werden können, muss Storm eine davon abweichende Akzentuierung vornehmen, und dies gelingt ihm durch eine besondere rhythmische Struktur: Alles, was da bewegend hörbar wird, entfaltet sich eigengesetzlich oberhalb des metrischen Grundrisses, ohne dass sich uns einstweilen ein tieferer Zusammenhang als der äußerliche der Rahmung zeigt. Es ist, als ob der junge Dichter, indem er sein leidenschaftliches Gebilde dem überkommenen Formgut entwachsen ließ, damit vor seinem Bewusstsein genug getan hätte: nun konnte es sich um so ungestörter in nach innen gewendeter Musikalität und Traumvollkommenheit ausformen.5
Storm ermöglicht uns einen dreifachen Zugang zu seinem Text. Auf der syntaktisch-semantischen Ebene wird uns der Gehalt des Gedichts bewusst, wenn wir die Worte wie eine bloße Mitteilungsprosa lesen. Ergänzt durch biographische Daten, die uns die Storm-Forschung liefert, erlaubt dies Einblicke in die seelische Verfassung Storms und in den Stimmungskontext, der für ihn bei der Niederschrift des Gedichts bedeutsam war. Die Vermittlung eines solchen Wissens kann aber nicht der eigentliche Zweck der Dichtung sein. Storm hat dies in seinem Vorwort zu seinem „Hausbuch aus deutschen Dichter seit Claudius“ folgendermaßen ausgedrückt:6 Der bedeutendste Gedankengehalt aber, und sei er in den wohlgebautesten Versen eingeschlossen, hat in der Poesie keine Berechtigung und wird als toter Schatz am Wege liegen bleiben, wenn er nicht zuvor durch das Gemüt und die Phantasie des Dichters seinen Weg genommen und dort Wärme und Farbe und wo möglich körperliche Gestalt gewonnen hat. – An solchen toten Schätzen sind wir überreich. Diese Wirkung wird durch die Poesie, genauer durch das Künstlerische an einem Gedicht ermöglicht; Storm führt weiter aus: Von einem Kunstwerk will ich, wie vom Leben, unmittelbar und nicht erst durch die Vermittlung des Denkens berührt werden […].
Die Empfindung muss die Grundlage des künstlerischen Erlebens bilden und die geistige Wirkung darf nicht auf eine bloße Erkenntnis reduziert werden. Storm weist der Poesie eine besondere Stellung in der Kunst zu: Musik kann man hören und empfinden, Werke der bildenden Kunst laden zum Schauen und Empfinden ein; die Poesie soll alles Drei zugleich. Wie wird dies möglich? Die metrische Struktur, die dem syntaktischen Gefüge im Gedicht eine neue Prägung aufzwingt, bildet nur die Form, deren Gehalt sich erst im Lesen des Gedichts enthüllt. So wie das Lied gesungen werden muss, um das ihm Eigentümliche seiner Musikalität in Erscheinung zu bringen, so verlangt das liedhafte Gedicht nach einem Vortrag, damit es seine poetische Wirkung auf den Hörer entfalten kann. Im Akt des Sprechens werden die Worte vom konventionellen syntaktischen und vom starren metrischen Gefüge losgelöst und in gewisser Weise in die Schwebe gebracht; der Text berührt uns unmittelbar sinnlich, kann uns atemlos, ja sprachlos machen; danach kann er uns in besonderer Weise auch geistig ansprechen.
Auf das erstere kam es Storm an; in seinem Vorwort zum „Hausbuch“ schreibt er (LL 4, S. 394): die Worte müssen auch durch die rhythmische Bewegung und die Klangfarbe des Verses gleichsam in Musik gesetzt und solcherweise wieder in die Empfindung aufgelöst sein, aus der sie entsprungen sind; in seiner Wirkung soll das lyrische Gedicht dem Leser ‒ man gestatte den Ausdruck ‒ zugleich eine Offenbarung und Erlösung, oder mindestens eine Genugtuung gewähren, die er sich selbst nicht hätte geben können, sei es nun, dass es unsre Anschauung und Empfindung in ungeahnter Weise erweitert und in die Tiefe führt, oder, was halb bewusst in Duft und Dämmer in uns lag, in überraschender Klarheit erscheinen lässt.
Genau diesen Forderungen entspricht Hyazinthen in besonderer Weise; es ist nicht nur aus einer kritischen Wendung gegen die formal korrekte konventionelle Lyrik Bürgers entstanden, die es mit angeregt hat. Es ist zugleich auch eines der vollendeten lyrischen Gedichte Storms und erfüllt in musterhafter Weise die erst später vom Dichter allmählich formulierten dichtungstheoretischen Ansprüche. Storm hat seine Verse meisterhaft durchgeformt und so die einförmige Konventionalität des Versbaus durch vielfältige klangliche Modifikationen der Akzentuierung variiert.7 Die eigentümliche Faszination, die es ausstrahlt weist aber auch, seiner geheimnisvollen Instrumentation wegen, voraus auf Gedichte, die drei, vier Jahrzehnte später geschrieben wurden: von den symbolischen Lyrikern des Fin de siècle.8
Anmerkungen
1 Entstanden 1846; hier nach Theodor Storm, Sämtliche Werke in 4 Bänden, hrsg. von Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier. Frankfurt a. M. 1987 (LL), 1, S. 23.
2 Friedrich Ackermann: Zum Rhythmusproblem: verdeutlicht an Storms Gedicht „Hyazinthen“. In: Pädagogische Provinz 19 (1965), S. 26-39.
3 Thomas Mann: Theodor Storm Essay. Herausgegeben und kommentiert von Karl Ernst Laage. Heide 1996, S. 17ff.
6 Theodor Strom: Vorwort zum Hausbuch aus deutschen Dichtern, S. IX. Vergleiche die detaillierte Analyse von Storms Lyrikkonzept bei Anne Petersen: Die Modernität von Theodor Storms Lyrikkonzept und sein „Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius“. Berlin 2015. (Husumer Beiträge zur Storm-Forschung, Bd. 10).