Wie soll man Literatur denn bloß ausstellen?

Überlegungen zur Arbeit in einem Literaturmuseum

 

Vor einigen Jahren habe ich auf einer Etappe meiner Herbst-Vortragsreise in Meersburg am Bodensee Station gemacht. Natürlich bin ich auch ins dortige Schloss gegangen, wo bekanntlich die Dichterin Annette von Droste-Hülshoff im Mai 1848 gestorben ist. Nachdem ich am Eingang von ihrer berühmten Portraitbüste begrüßt wurde, fand ich nach einigem Suchen zwischen Räumen mit rostigen Waffen und Folterwerkzeugen das Turmzimmer und das Sterbebett der Dichterin. Alles war düster und gar nicht biedermeierlich-anheimelnd. An den Wänden wenige Bilder und verstaubte Photokopien von Handschriften und Dokumenten. In einigen Schränken offenbar zufällig ausgelegte Bücher, ein paar alte Möbel, ein Bett, ein Totenkranz. Raritätenkammern also, wie sie bereits im 19. Jahrhundert zum Gedenken an Persönlichkeiten eingerichtet wurden. Ein Literaturmuseum? Bestimmt nicht.

Da machen wir alle es doch viel besser, dachte ich. Wir legen unseren Ausstellungen Konzepte zugrunde, wir bedienen uns moderne Ausstellungstechniken und wir vermitteln nach diesem oder jenem didaktischen Konzept das uns über unseren Dichter Vermittlungswerte. Man müsste, sagte ich spontan zu meiner Begleiterin, denen hier mal ein ordentliches Konzept unterbreiten, alles ganz neu machen, nach modernen Erkenntnissen, mit hellen Vitrinen, systematisch informierend, möglichst multimedial gestaltet. Handschriften, Bücher, Graphiken, Fotos; umfangreiche Informationen über das Leben der Droste, über die Wohnorte, über die Beziehungen zur Familie, zu Lewin Schücking, die Kontakte zu anderen bedeutenden Zeitgenossen, Dokumente zu ihren Werken sowie eine Darstellung der Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert und vieles andere mehr!

Dann, wieder draußen im schönen herbstlichen Meersburg zwischen den hübsch restaurierten Häusern der Unter und Oberstadt, verflog mein Enthusiasmus schnell wieder. Ich bedachte noch einmal, was ich gerade gesehen hatte: zwei Wohnräume und ein Sterbezimmer, so eingerichtet wie zu der Zeit, als die Droste hier ihre letzten Tage verlebte. Einige Textzeugen ihrer Literatur in Kopie, einige Möbel, alles vermutlich im Originalzustand. Also ein authentisches Ensemble, das den Besucher an das Leben und Sterben der Dichterin vor etwas mehr als 150 Jahren erinnert. Was sollten die Meersburger denn sonst ausstellen? Ein Droste-Archiv gibt es dort nicht, also auch keine Handschriften, Erstdrucke, Bücher aus dem Besitz der Dichterin, keine persönlichen Familiendokumente, sondern nur die historischen Räumlichkeiten mit ihrer kargen Ausstattung.

Eine Literaturausstellung kann man an jedem Ort veranstalten. Es werden dann Dokumente nach einem Ausstellungskonzept zusammengestellt, die der Ausstellungsmacher sich von allen möglichen Institutionen zusammenborgen kann. Und wenn eine Institution die Originale nicht hergeben will, so können auch täuschend echte Faksimiles hergestellt werden. Wo sind aber die Originale zu finden?

Es gibt verschiedene Institutionen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, literarische Nachlässe zu sammeln. In Deutschland sind dies in erster Linie die Landesbibliotheken, deren Sammelauftrag auch schriftliche Nachlässe von Dichtern der jeweiligen Region umfasst. Sie sammeln gemäß den Richtlinien der Handschriftenkatalogisierung der Deutschen Forschungsgemeinschaft von 1992[1] »Manuskripte und Arbeitspapiere, Korrespondenzen, Lebensdokumente und Sammlungen, die sich bei einem Nachlasser zusammengefunden haben«; man nennt dies den echten Nachlass, dem zumeist Druckwerke als angereicherter Nachlass hinzugefügt werden. Literaturarchive begreifen ihren Sammlungsauftrag weiter und nehmen die gedruckten Quellen hinzu. Ulrich Ott, der Direktor des Deutschen Literaturarchivs in Marburg, hat in diesem Zusammenhang von einem »Kontinuum« gesprochen, weil Literatur »von allen Künsten am stärksten in einem Kommunikationszusammenhang« existiert.[2] Wir werden noch sehen, dass sehr viel mehr zu diesem Kontinuum gehört als nur die traditionellen Sammlungsobjekte von Bibliotheken und Archiven. Die Sammlungen eines Literaturarchivs müssen nicht nur fachgerecht aufbewahrt und erschlossen, sondern dem Publikum auch nahegebracht werden. Das geschieht durch die zwei Wege der Publikation und der Ausstellung. Beide Arbeitsfelder bilden eine Einheit, um Literatur in ihrem vielfältigen Zusammenhängen zu dokumentieren und zu präsentieren.

Es gibt aber in Meersburg kein Droste-Archiv, der literarische Nachlass der westfälischen Dichterin ist auf viele Bibliotheken und Institutionen verstreut; eine Droste-Forschungsstelle existiert zwar in Münster, doch gibt es keine unmittelbar erkennbaren Bezüge zum Bodensee.

Im Falle von Theodor Storm ist das ganz anders. Der Dichter aus Husum ist mit der Region im Norden Deutschlands so eng verbunden, dass sein literarisches Werk dort nicht nur seine Voraussetzungen fand, sondern bis heute im Bewusstsein des Lesepublikums verwurzelt ist. In Husum existiert seit 1972 ein selbständiges Literaturmuseum, das in einem der Häuser eingerichtet wurde, die Theodor Storm in seiner Heimatstadt während verschiedener Lebensabschnitte bewohnt hat. Aus der Tätigkeit der 1948 gegründeten Theodor-Storm-Gesellschaft ist ein Literaturarchiv gewachsen, das seit 1996 eigene Räume in der Nähe des Museums besitzt und das sich zum internationalen Storm-Forschungszentrum entwickelt hat.

Es stellt sich natürlich die Frage, ob die Unterhaltung eines solches Archiv wirklich berechtigt ist, wenn man sich klar macht, dass die Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek in Kiel die Dichternachlässe des Landes sammelt und betreut, darunter auch einen großen Teil des handschriftlichen Nachlasses Theodor Storms. Auf der Grundlage einer sehr engen Absprache zwischen der Handschriftenabteilung der Landesbibliothek und dem Storm-Archiv funktioniert diese Arbeit nicht nur ohne Reibungsverluste, sondern viel mehr in einer gegenseitigen Ergänzung, die ich durchaus als vorbildlich empfinde. Vor allem aber spricht für ein selbständiges Storm-Archiv die Tatsache, dass in Husum seit vielen Jahrzehnten versucht wird, die Storm-Forschung in aller Welt zu koordinieren sowie durch die Forschungsarbeiten im Archiv, durch internationale Symposien und durch eine beträchtliche Anzahl von Publikationen ein aktuelles Storm-Bild zu vermitteln, das angesichts der Vereinnahmungsversuche Storms in den Kontext von Heimatdichtung und Blut- und Boden-Ideologie während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dringend erforderlich war. Dies ist gelungen und hat zu einer differenzierten Erforschung von Leben und Werk geführt, wie es für vergleichbare Autoren des Poetischen Realismus wohl nur für Theodor Fontane gilt, dessen Werk ja ebenfalls in einem regionalen Archiv, dem Fontane-Archiv in Potsdam, gesammelt, dokumentiert und erforscht wird. Ohne das Storm-Archiv wäre dieser Stand nicht erreicht worden, weil es weder in der Landesbibliothek noch an der Universität Kiel ein spezielles Forschungsinstitut für die Literatur des Landes Schleswig-Holstein gibt.

Durch die beiden Institutionen Archiv und Museum in Husum ist es seit fast dreißig Jahren möglich, den genius loci des Ausstellungsortes zu nutzen und Dokumente aus den Sammlungen des Archivs mit anderen, nichtliterarische Gegenständen in einen lebendigen Zusammenhang zu stellen und dadurch Storms Leben und Werk für die Museumsbesucher zu veranschaulichen. Da im Storm-Archiv auch intensive Forschung betrieben wird, können wir der Gefahr einer Veralterung unserer ständigen Ausstellungen erfolgreich entgegen arbeiten, indem wir immer wieder nach den neusten Erkenntnissen die Präsentationen aktualisiert bzw. durch themengebundenen Sonderausstellungen ergänzen.

Bevor ich Ihnen die Ausstellungen im Storm-Haus und unsere Museumskonzeption vorstelle, möchte ich zunächst die Frage stellen, was das denn eigentlich ist, was wir in einem Literaturmuseum ausstellen. Literatur? Was ist Literatur? In einem aktuellen Lexikon[3] heißt es: »unscharfer Begriff, der in der Regel die Formen schriftlicher Aufzeichnung im Unterschied zu mündlich überlieferten Formen (wie z.B. Sage oder Märchen) meint und vor allem für in Form oder Inhalt bedeutsam gehaltene Schriftwerke verwendet wird, vergl. Dichtung.«

Und in einem anderen Lexikon[4] fand ich folgende Präzisierung:

 »In der Moderne, etwa seit dem Naturalismus, konkurrieren verschiedene Literaturbegriffe, wobei die Bandbreite von der ästhetizistischen Verengung auf ›reine Dichtung‹ bis zum sog. erweiterten Literaturbegriff der neueren Literaturwissenschaft reicht. Dieser gibt die Unterscheidung zwischen L. in quantitativem (jede Art schriftlicher Kommunikation) und qualitativem Sinn (das eigentlich ›Literarische‹ oder ›Poetische‹) weitgehend auf; teilweise – in seiner weitesten Fassung – bezieht er gegen den Wortsinn des Begriffs auch mündlich tradierte Texte ein.«

 Unser Gegenstand ist ja wohl das eigentlich Literarische oder Poetische, also Dichtung, d.h. die Sprachkunstwerke des Dichters, dem wir uns aus unterschiedlichen Gründen verpflichtet fühlen. Sie liegen in Form von Texten vor, unter denen wir in traditioneller Weise sprachliche, schriftlich fixierte Äußerungen verstehen, die wir uns als statische, feststehende Gebilde vorstellen, und die an einen Träger, ein Medium, gebunden sind. Nichts wäre langweiliger als eine Ausstellung nur aus solchen Textzeugen zusammenzustellen, die dann auch noch durch Transkriptionen von Handschriften und Erläuterungstexte verdoppelt werden.

Die Bedeutung literarischer Texte entsteht nach Wolfgang Iser erst im Akt des Lesens und das muss für unsere musealen Absichten ebenso Konsequenzen haben wie die Tatsache, dass wir nicht mehr vom Begriff des autonomen literarischen Kunstwerks ausgehen, sondern Literaturgeschichtsschreibung immer auch als Sozial- und Politikgeschichtsschreibung verstehen. Unsere Sprachkunstwerke stehen also in einem historischen Spannungsgefüge ihrer Produktions- und Rezeptionsbedingungen und nur in diesem umfassenden Kontext sollten wir Literatur heute noch museal präsentieren. Damit ist aber noch nicht geklärt, wie sich Texte und die in ihnen fixierten Fiktionen optisch und akustisch für moderne Besucher so aufbereiten lassen, dass Aspekte ihrer jeweils zeitbezogenen Kontexte mit wahrnehmbar und erkennbar werden.

Die wichtigste Frage bei der Planung einer Literaturausstellung lautet: Soll man von einem didaktischen Ziel ausgehen und nach einem Objekt suchen, das sich zur Veranschaulichung eignet oder von einem vorhandenen Objekt, von dem man ausgeht?

Ich vertrete die These: Jede museale Präsentation muss ihren Ausgangspunkt von einem didaktischen Konzept nehmen, sonst bleibt sie eine bloß zufällige Ansammlung von Altertümern oder Merkwürdigkeiten. Sie sollte vorrangig diejenigen Objekte zeigen, die in der zugeordneten Sammlung vorhanden sind.
Ich möchte also auf die konstituierende Funktion der Artefakte hinweisen; denn wenn dem Literaturmuseum ein Archiv und weitere eigene Sammlungen zugeordnet sind, so müssen diese Objekte ernst genommen werden. Eine bloße, also beliebige Präsentation von Sammlungsobjekten nach dem Prinzip zeigen, was man hat ist noch kein Museum, sie ist im schlechtesten Fall nur eine Trödelsammlung. Erst wenn bedacht wird, dass sich die Funktion der Gegenstände im Museum verändert, kann ein Ausstellungskonzept entwickelt werden. Jedes Objekt verlieren durch die museale Präsentation zunächst seine ursprüngliche Funktion. Ein Beispiel: Wir stellen im Storm-Haus ein silbernes Tintenfass aus, das Theodor Storm zum 70. Geburtstag geschenkt wurde. Im Museum hat es seine Funktion verloren: Niemand benutzt es mehr; es könnte in einer Ausstellung von Objekten der klassizistischen Handwerkskunst der Gründerzeit stehen oder in einer Sammlung silberner Tintenfässer als Teil einer Ausstellung zum Thema Schreibkultur. Wenn man ein Schild daneben legt und darauf »Theodor Storms Tintenfass« schreibt, wird der Gegenstand zum Kultobjekt, ein Verständnis von Reliquienverehrung, das wir in Husum ablehnen. In unserem Museum aber bekommt das Tintenfass durch die Zuordnung zu Storms Schreibtisch, an dem der Dichter die Novelle Der Schimmelreiter vollendete, eine neue Funktion. Das Tintenfass signalisiert dem Besucher, dass der Tisch, auf dem es steht, von Storm für bestimmte Schreibprozesse genutzt wurde, auf die Dokumente und zusätzliche Erläuterungen verweisen: »An diesem Tisch hat Theodor Storm in den Jahren 1887 und 1888 die Novelle Der Schimmelreiter vollendet.« Dadurch wird das Objekt zum Sprechen gebracht und das ist meiner Ansicht nach eine sinnvollere Konzeption, als auf die alleinige symbolische Verweisungskraft der Objekte zu setzen. Ausgehend von den Beständen der Sammlung müssen Objekte gefunden werden, die imstande sind, das zu veranschaulichen, von dem man im Museum erzählen will.

Für jedes Literaturmuseum ist es eine grundsätzliche Frage, ob man Originale oder Faksimiles ausstellen soll. Diese Frage hat eine gedoppelte Bedeutung; sie kann sich auf die Herkunft des Präsentierten beziehen und auf die Objekte selber. Im ersten Fall steht also in Frage, ob man sich mit Objekten begnügt, die man in der eigenen Sammlung vorfindet, oder ob man Faksimiles von Objekten aus fremden Sammlungen ausstellt, denn Bibliotheken und Archive leihen Originale aus ihren Sammlungen in der Regel nicht auf Dauer aus. Auf diese Weise könnte man an jedem beliebigen Ort eine Storm-Ausstellung realisieren; ich habe meine Bedenken gegen eine solche Praxis bereits geltend gemacht. In Ausnahmefällen allerdings halte ich es für legitim, auf Faksimiles auszuweichen, dann nämlich, wenn in einer thematisch zusammenhängenden Dokumentation gerade das entscheidende Objekt zu einer musealen Erzählung fehlt und ohne dies das Verständnis des Gezeigten erschwert würde. Ein solches Beispiel gibt es in der 4. Vitrine unserer Ausstellung zu Storms Leben und Werk; in ihr werden die Jahre 1842-1853 dargestellt, in denen Storm als Rechtsanwalt in Husum lebte und seine Familie gründete. Dies ist der Zeitraum, in dem sich Storms Lyrik entfaltete und ihren künstlerischen Höhepunkt erreichte. Das Storm-Archiv besitzt aber keine Originalhandschrift von bedeutenden Gedichten aus diesem Zeitraum und so habe ich an dieser Stelle ein Faksimile des berühmten Gedichts Meeresstrand eingefügt, dessen Original sich im Besitz der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek befindet.
In ihrer zweiten Bedeutung meint die Frage nach dem Original den konservatorischen Aspekt, der einen Ausstellungsmacher dazu bewegen kann, statt des Originals, wenn es ein Unikat ist, ein Faksimile auszustellen, entweder weil das Original für Forschungszwecke benötig wird und dafür nicht ständig aus der Ausstellung entfernt werden kann, oder weil es durch die Dauerausstellung durch Licht- und Klimaeinwirkungen Schaden nehmen könnte. Ein Beispiel für ersteres Problem ist etwa die Präsentation von nur einer Seite aus einem zusammenhängenden handschriftlichen Konvolut – im Storm-Haus zum Beispiel die erste Seite des Pole Poppenspäler-Manuskripts, das für Forschungszwecke gebraucht wird und nicht als Ganzes für lange Zeiträume in der Vitrine liegen kann, ein Beispiel für das zweite Problem die Gefahr des Vergilbens von Papier bzw. des Ausbleichens von Tinten bzw. die Zerstörung von Originalphotographien durch Wärme- und Lichteinwirkung. Beide Aspekte könne bei Entscheidungen für eine Ausstellung ein Rolle spielen, in den Dauerausstellungen des Storm-Hauses habe ich einen Großteil der Originalhandschriften, wie zum Beispiel die sehr brüchigen Blätter der Schimmelreiter-Handschrift, und fast alle Photographien durch Faksimiles ersetzt. Lediglich in einigen Fällen zeige ich Originale, dann aber in gedämpft beleuchteten Bereichen ohne Sonneneinstrahlung und durch UV-Schutzgläser gesichert und auch nur, wenn die Papierqualität und der Zustand der Objekte dies zulässt.

Natürlich ist die Präsentation von Originalen nicht die einzige Möglichkeit, Literatur auszustellen, aber sie bietet sich an, weil in einem Objektmuseum wie dem Storm-Haus die Sammlung das Wesentliche ist und wir nicht versuchen, mit zusammengetragenen Objekten Literaturgeschichte zu illustrieren, wie das in einem Konzeptmuseum ohne eigene Sammlung möglich wäre. Der Großteil der im Archiv gesammelten Objekte sind Textträge, also Handschriften, Dokumente, Zeitschriften und Bücher. Hinzu kommen Photographien und graphische Blätter aller Art sowie – im Museumsbereich - Möbel, Bilder und einige Gebrauchsgegenstände aus dem Besitz der Storm-Familie. Bevor ich Ihnen an einige Beispielen erläutere, wie wir im Storm-Haus mit diesem Material ein Museum gestaltet haben, möchte ich in einem weiteren Exkurs kurz auf einige Fragen der Museumspädagogik eingehen.

Das Storm-Museum in Husum wird jährlich von mehr als 10.000 Schülern besucht; das ist etwa die Hälfte unserer Besucher, von denen wiederum ein Drittel in Gruppen durch das Haus geführt werden. Da ist es sinnvoll, nach der Funktion unserer Ausstellungen im Kontext des Literaturunterricht nachzudenken, also über die Frage, welchen Wert der Literatur für den Aneignungsprozess von Welt durch den Schüler zukommt. Die Wissenschaft vom Literaturunterricht beschreibt in immer neuen pädagogischen Paradigmen das Verhältnis von literarischer Realität und Literaturrezeption; sie erlaubt dem Schüler sogar, innerhalb ihrer Begründungsstrategien als Kommunikationselement mitzuspielen, rezeptiv oder kreativ, wenn es der lernpsychologische Ansatz fordert auch beides zugleich. Die vielfältigen Begründungsketten werden zudem zumeist stimmig vorgetragen, sie weisen uns einsichtig auf die Notwendigkeit hin, die übergreifende kulturelle Dimension von Literatur als bedeutsamen Inhalt des Deutschunterrichts zu akzeptieren.
Der gängige Leseunterricht ist auf fixierbare Erkenntnisziele hin ausgerichtet; gleichgültig, welches Verständnis von kritisch den Leseprozess steuert, es geht dem Lehrer zu aller erst um rational fassbares und möglichst abfragbares Wissen, denn wenn er das vermittelt, wird sein unterrichtliches Tun gerechtfertigt, weil der Anspruch den herrschenden Normen genügt und die Ergebnisse überprüfbar sind. Dass diese Legitimation zu einem gewissen Teil in Selbsttäuschung gründet und auf fragwürdigen lerntheoretischen Voraussetzungen beruht, wird nur selten bewusst. Denn bei dem Schüler, von dem die Didaktiker sprechen, handelt es sich immer um eine Abstraktion von wirklichen Kindern, mit denen die Lehrer es in der Praxis zu tun haben und die auch unser Museum besuchen.
Der Deutschlehrer täuscht sich nur allzu oft in der Annahme, seine eigene Form des Lesens sei identisch mit der seiner Schüler. Mehr noch, er glaubt allzu gern, sein affektives Verhältnis zum Unterrichtsgegenstand, also zur Literatur, entspräche dem Verhältnis seiner Schüler zu eben demselben Gegenstand. Das ist aber nur selten der Fall. Wohl dem Lehrer, dem es vergönnt ist, seine persönliche Freude an einem literarischen Kunstwerk auf seine Schüler zu übertragen! Auch die best durchdachten und mit pädagogischen Fingerspitzengefühl kleingearbeiteten kognitiven Lehrstrukturen helfen da oft gar nichts. Unsere Schüler lesen privat zumeist wenig oder gar keine Literatur; ihre emotionalen Bedürfnisse werden durch andere Medien, wie zum Beispiel das Fernsehen oder Videospiele, viel besser angesprochen und befriedig. Und wenn Schüler privat lesen, dann wollen sie Vergnügen, Genuss und vor allem Freiheit von jedem didaktischen Kalkül.
In dieser Feststellung liegt aber auch etwas Positives für den Literaturunterricht und auch für die Museumspädagogik, denn viele Schüler weichen nicht dem Lesen selber aus, sondern vor allem der ausschließlichen Verwendung des Lesens als Transportmittel für Wissen, für Einsichten und für intellektuelle Fähigkeiten. Es wäre also schon der Mühe wert, einige Überlegungen anzustellen, auf welche Weise die Intentionen des Literaturunterrichts mit den Erwartungshaltungen unserer Schüler vermittelt werden können und welche Rolle dabei Literaturmuseen spielen können.

Auch was das Lernen betrifft, geben sich Lehrer manchen Täuschungen hin. Indem sie unter lernzielorientiertem Unterricht vor allem die Vermittlung von zumeist hierarchisch geordnetem Wissen und Fähigkeiten verstehen, ignorieren sie die Erkenntnisse der modernen Kognitionspsychologie. Diese hat nämlich gezeigt, dass Lernen eher als Aufbau von Begriffsnetzen zu verstehen ist denn als linearer Vorgang, der durch logische Operationen bestimmt wird. Das oft chaotisch erscheinende Lernen von Schülern außerhalb des Unterrichtszusammenhangs (selbstgesteuertes Lernen zum Beispiel am Computer) belegt, dass wir allen Anlass haben, über die Frage nachzudenken, ob die didaktisch wohl durchdachten Lehrstrategien, etwa der Weg vom Einfachen zu Komplexen, dem Lernvollzug junger Menschen auch entsprechen. Was ist, wenn sich Lernen anders vollzieht, als es die Autoren von Lehrbüchern und die Verfasser von Unterrichtsmodellen annehmen?
Die Dominanz des Abstrakten in unseren Klassenzimmern - man kann das in einem beliebigen Schulbuch jederzeit überprüfen - sollte Anlass genug sein, über die Bedeutung der modalen Repräsentation in kognitiven Prozessen nachzudenken. Da Denken und Begriff sich immer an Vorstellbarem orientieren, ja unlösbar mit Vorstellungen verbunden sind, kommt der Anschaulichkeit in jedem Lernprozess eine große Bedeutung zu. Wie bei jedem Begriffsaufbau benötigt der Schüler auch im Literaturunterricht Vorstellungsrepräsentanten, die es ihm ermöglichen, die ihm fremde Welt der Gedichte, Erzählungen und Theaterstücke für sich persönlich anzueignen. Die Bilder, die sich beim Lesen einstellen, müssen vom Leser selbst erzeugt werden; sie orientieren sich am bisher von ihm Erlebten. Gerade weil hier die Fantasie eine zentrale Rolle spielt, sollten wir dies als Chance nutzen, der allzu glatten Welt des Fernsehkonsums etwas Substanzielles entgegenzusetzen.

Der Besuch im Literaturmuseum kann in besonderer Weise eine Antwort auf die beiden von mir hier sehr verkürzt skizzierten pädagogischen Problemfragen darstellen. Die dem Unterhaltungs- und Bewegungsbedürfnis der Schüler entgegenkommende Exkursion schafft günstige Voraussetzungen für eine aktive Aneignung von Literatur und erleichtert dem Lehrer die Organisation eines Prozesses, in dem die von ihm vorgeplante Rezeption auch ohne äußeren Zwang gelingen kann. Außerdem bietet der Museumsbesuch mannigfaltige Gelegenheiten, durch unmittelbare Wahrnehmungen (optisch, akustisch, haptisch) ein Vorstellungsrepertoire zu entwickeln, das es ermöglicht, die zeitlich oft so fernen literarischen Fiktion ganz nahe zu erleben. Weniger theoretisch ausgedrückt: Die Schullektüre ist oft schnell vergessen; der Museumsbesuch bleibt in der Erinnerung lange erhalten.

Mit diesen pädagogischen Überlegungen habe ich zugleich auch einen allgemeinen museumsdidaktischen Gesichtspunkt angesprochen, denn was für Schüler gilt, kann auch auf die übrigen Museumsbesucher übertragen werden, von denen ein weiteres Drittel Kinder und Jugendliche sind. Im Storm-Haus ist es der Versuch, Zusammenhänge zwischen Leben und Werk des Dichters zu veranschaulichen. Ich werde darauf zurückkommen.

Storm selber hat bereits gewisse Vorleistungen erbracht, die es den nachfolgenden Generationen erleichterte, sein Werk wissenschaftlich zu pflegen, indem er seine handschriftlichen Manuskripte sorgfältig aufbewahrte und gelegentlich auch sonstige Dokumente wie zum Beispiel Druckfahnen in Mappen dazu legte. Auch eine Teil seiner umfangreichen Korrespondenzen wurde von ihm vorgeordnet, so dass seine Tochter Gertrud (1865-1926) sehr schnellt die geeigneten Materialien von ihren Geschwistern zusammentragen konnte, die sie für ihre Biographie des Vaters und für ihre Briefeditionen benötigte. Sie war auch in den 1920er und 30er Jahren eine aufgeschlossene Gesprächspartnerin für die wenigen Germanisten, die zu dieser Zeit über Leben und Werk ihres Vaters arbeiteten. Nach ihrem Tod sollte der handschriftliche Nachlass an das neu gegründete Regionalmuseum Nissenhaus in Husum fallen, damit dort eine Gedenkstätte und ein Archiv eröffnet werden konnte. Diese Pläne konnten nur teilweise realisiert werden, weil die übrigen noch lebenden Geschwister den Handschriftennachlass an die Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Kiel verkauften, so dass 1936 in Husum in zwei Räumen des Museums mit Originalmöbeln aus Storms Besitzt lediglich eine Gedenkstätte eingerichtet werden konnten.

Nach der Gründung der Theodor-Storm-Gesellschaft im Jahre 1948 sammelte sich in der Geschäftsstelle, die ebenfalls im Nissenhaus angesiedelt war, allmählich der Grundstock für ein Archiv, in dem vor allem Werkausgaben und Dokumente aller Art gesammelt wurden.

Seit Beginn der Einrichtung des Storm-Hauses als Museum im Jahre 1971[5] wurde versucht, das Gedenkstättenimage vieler vergleichbarer Einrichtungen – und natürlich auch der Vorgängerausstellung im Nissenhaus - zu vermeiden. Geplant und realisiert wurde eine Präsentation von Objekten, mit denen die Wirklichkeit, in der Storm mit seiner Familie in den Jahren 1866-1880 gelebt hat, so getreu wie möglich dargestellt werden sollte.

 »Dazu bot das Haus als solches im Jahre 1971 die besten Voraussetzungen; denn <damals> waren die Zimmereinteilung, die Türen, die Messingbeschläge, die Fußböden (nur einige Bretter mussten ausgewechselt werden), die Paneele, die Balkendecken, ja selbst der Klingelzug im >Poetenstübchen< aus der Stormzeit noch unverändert erhalten. Oberstes Gebot war es deshalb von Anfang an, den überkommenen Gegebenheiten des Hauses bei der Einrichtung des Museums Rechnung zu tragen und die originale Atmosphäre der Dichterwohnung so getreu wie möglich wiederherzustellen.
Die Atmosphäre ist einerseits die des 18. Jahrhunderts (Storms Novellen spielen zum großen Teil in dieser Zeit): Das Haus selbst, die Zimmereinteilung, die Treppe und die geschnitzten Türen mit den Messingbeschlägen stammen aus dem Jahre 1730. Die Atmosphäre ist andererseits die der Stormzeit: Um 1856 wurden der Seiteneingang und der Garten geschaffen, und die klassizistisch strengen Formen einiger Türen deuten darauf hin, dass auch im Innern damals einiges verändert wurde.
Die Einrichtung des Hauses allerdings machte die größten Schwierigkeiten. Es gab - außer einer handschriftlichen Grundriss-Skizze mit einigen wenigen Angaben - von den einzelnen Zimmern kein Foto, kein Bild, keine Beschreibung, wie sie eingerichtet waren. Nur in Storms Briefen gibt es vereinzelte, beiläufig erwähnte Hinweise; sie mussten in mühseliger Kleinarbeit aus Hunderten von Briefen zusammengetragen werden. Hilfreich erwiesen sich dabei die Angaben der Enkel und Urenkel Theodor Storms, die auf Erzählungen ihrer Eltern und Voreltern beruhten. Besondere Schwierigkeiten machte es, die Möbel, die nach dem Tod des Dichters in den Besitz von Frau Do und den Kindern gekommen waren, ausfindig zu machen und ins Storm-Haus zurückzubringen (das hat - auch weil die Familie z. T. nicht mehr in Norddeutschland wohnte - Jahrzehnte gedauert). So aber gelangte man zu einem von Storm selbst beglaubigten Bild der Einrichtung des Dichterhauses, und Storms Wohnung konnte weitgehend in ihre ursprüngliche Form zurückgeführt werden. Die wesentlichste Voraussetzung dafür war jedoch das Original erhaltene Haus selbst mit seinen Fluren, seiner Zimmereinteilung, seinen Fußböden, Decken, Türen, Schlössern usw.«

Da die Atmosphäre des Hauses im Mittelpunkt der musealen Darstellung steht, gibt es keine Absperrungen; die Besucher können sich in allen Zimmern frei bewegen, ja wir tolerieren sogar, wenn sich jemand auf einen der original Stühle oder auf Storms Sofa setzt, weil er das Gefühl haben soll, nicht in einem Museum zu sein, sondern gleichsam Storm in seinem Hause zu besuchen. Die Reaktion der Besucher bestätigt uns übrigens in diesem Vorgehen; es gibt kaum Beschädigungen und selbst Schulklassen verhalten sich im Haus bemerkenswert zivilisiert in den wohnlich eingerichteten Räumen.

Es gibt neben dieser Präsentation von Storms Lebenswelt mit historischen Zeugnissen wie Möbeln, Bildern, Handschriften, Drucken und anderen Dokumenten, die aus Storms Besitz oder dem der Familie bzw. des Freundeskreises stammen, und die auf jeweils spezifische Details im Leben des Dichters verweisen, noch eine chronologische Ausstellung zu Leben und Werk Storms. Sie zeigt in acht zeitlich bestimmten Abschnitten, denen acht Tischvitrinen zugeordnet wurden, ausschließlich Objekte aus den Sammlungen des Storm-Hauses, vor allem Handschriften und Druckwerke, ergänzt durch ein umfangreiches Bildmaterial und einzelne Objekte, denen eine besondere Imaginationskraft zukommen, z.B. Schreibgeräte aus Storms Besitz. An den Wänden liefern Tafeln vor allem Bildmaterial, das rein dokumentarischern Charakter hat und auf der Grundlage von zeitgenössischen und modernen Fotografien hergestellt wurde. An dieser Stelle möchte ich von meinem Plädoyer für die Originalobjekte doch wieder ein wenig zurücknehmen, weil es wichtige Objekte gibt, die man nicht als Originale in einem Museum ausstellen kann. Das sind zum Beispiel Gebäude, von denen zum Beispiel keine zeitgenössischen Abbildungen existieren, die aber dennoch in der Dokumentation moderner Fotografie einen Platz im Literaturmuseum finden können. Es gibt auch Objekte, die man im Original nicht präsentieren kann, man kann zum Beispiel nicht gleichzeitig Vorder- und Rückseite eines Schriftträger ausstellen. In solchen Fällen glaube ich eine Ausnahme von dem vorhin ausgeführten Prinzip machen zu müssen. Auch im Storm-Haus wurden und werden einige Möbel gezeigt, die nicht aus dem Familienbesitz, sondern nur aus der Storm-Zeit stammen. Dies war zunächst eine Notlösung, weil bei der Eröffnung des Museums nur wenige Sammlungsobjekte vorhanden waren. Im Laufe der Jahre haben wir solche Möbel und auch manche Reproduktion von Bildern durch die Originale ersetzen können und es ist mein Bestreben, diesen Prozess fortzusetzen. Allerdings ist es uns bis heute nicht gelungen, die beiden Ölgemälde von Storm und seiner ersten Frau zu erwerben, die der Husumer Maler Nicolai Sunde seinen Freunden 1857 in Heiligenstadt schenkte. Da sie immer über Storms Wohnzimmermöbeln gehangen haben und einen unverzichtbaren Teil des Ensembles darstellen, müssen wir uns mit Reproduktionen begnügen.

Heimat- oder volkskundliche Sammlungen werden nicht ins Storm-Haus aufgenommen. Der Besucher erhält zwar ein Bild davon, wie ein Alt-Husumer Bürgerhaus ausgesehen hat und erfährt, wie ein mittlerer Beamter in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewohnt hat, aber die Vermittlung solche Erkenntnisse ist nicht die primäre Aufgabe unseres Museums. Im Vordergrund der gesamten Ausstellungstätigkeit steht die Absicht, dem Besucher unser Bild von Theodor Storm und von seinem dichterischen Werk zu vermitteln. Man kann im Storm-Haus weder ein Schlafzimmer noch eine Kücheneinrichtungen aus dem 19. Jahrhundert besichtigen, und auch im sogenannten Waschhaus wird nicht dokumentiert, wie mühselig damals das Wäschewaschen war. Im Vordergrund aller Bemühungen steht die Literatur und es kommt uns zunächst darauf an, die vielfältigen Bezüge zwischen Lebenswirklichkeit und Dichtkunst sinnlich erfahrbar zu machen. Das ist nach meiner Auffassung auch der primäre Zweck eines Literaturmuseums.

Wir versuchen dies für den Besucher auf drei Ebenen zu ermöglichen, ich nenne sie Anmutung, Information und Vertiefung. Unter Anmutung verstehe ich die Wirkung, die der Gang durch das Museum auch auf den eiligen Besucher hat. Man sagt uns oft, das Haus wirke, als ob Storm hier noch heute leben und arbeiten würde. Es geht dabei also um das Atmosphärische der Ausstellungsräume, die in einem historischen Haus ja selber Teil des Ausgestellten sind. Sie vermitteln in ihrem dem Original möglichst angeglichenen Zustand einem Eindruck vom Leben in dem Dichterhaus des 19. Jahrhunderts.

Natürlich müssen in einem Literaturmuseum auch möglichst viele Informationen über den Dichter und sein Werk vermittelt werden, denn die Ausstellungen sollen den Besucher dazu anregen, Storm wieder zu lesen. Wir haben deshalb Erläuterungen und Hinweise auf Zusammenhänge zwischen Lebensaspekten und Texten angebracht, die dem Besucher Anregungen zum Nachdenken liefern sollen. Damit erweitern wir die Anmutung als erste Ebene sinnlicher Erfahrung durch einen Reflexionsprozess, der natürlich je nach Besucher unterschiedlich intensiv ausfallen wird.

Wer darüber hinaus mehr wissen will, dem bieten wir am Büchertisch die von uns erarbeiteten Editionen an, die zum Teil für den nicht wissenschaftlich vorgebildeten Besucher gedacht sind und in denen wir wichtige Texte Storms in ihren historischen Kontexten von Produktion und Rezeption erläutern.

Für die Konzeption des gesamten Hauses ist der werkbiographische Zusammenhang konstituierend; ich verstehe darunter die Veranschaulichung von Bezügen zwischen Details aus dem Leben des Dichters und Aspekten seiner Werke. Dabei gehe ich vom Werk aus und blicke gleichsam auf das Leben des Autors und sein familiäres und gesellschaftliches Umfeld zurück. Es geht also nicht um voyeuristische Einblicke in intime Details des Stormschen Familienlebens, sondern um solche Lebensereignisse, die sich im literarischen Werk niedergeschlagen haben und die deshalb durch den Prozess der Werkgenese zu öffentlichen Phänomenen geworden sind. Denn durch den Druck eines literarischen Textes überführt der Dichter das zunächst private Phänomen in ein Werk, von dem er sich in gewisser Weise als Privatperson trennt, indem er es öffentlich macht. Ich will dies an zwei Beispielen erläutern.

Nach dem Tod von Stroms erster Frau, Constanze, die 1865 an den Folgen der Geburt ihres siebten Kindes starb, kaufte der Witwer das geräumige Haus in der Wasserreihe und zog mit der großen Familie dort ein. Hier trat auch Storms zweite Frau, Dorothea Jensen, in den Familienkreis ein, nachdem die beiden im Juni 1866 geheiratet hatten. Hier ergaben sich für Dorothea eine Reihe von Stiefmutterproblemen, die ihr den Beginn des neuen Lebensabschnitt sehr erschwerten. Hinzu kam, dass Storm bereits während der ersten Ehejahre zu Dorothea eine erotische Beziehung hatte, von der Constanze wusste und die sie offenbar billigte. Die komplizierten Familienverhältnisse Storms stellen an sich kein erforschungs- und ausstellenswertes Phänomen dar, da der Dichter aber – wie auch sonst in Lebenskrisen – diesen Problemkomplex nicht nur in seiner Liebeslyrik sondern auch in einer Novelle - Viola tricolor – thematisiert hat, bieten sich für die Ausstellungsgestaltung Hinweise auf die vergleichbaren Lebenserfahrungen und die daraus gespeisten literarischen Fiktionen an. So lesen sich die Eingangspassagen der Erzählung wie eine Beschreibung der untern Etage des Storm-Hauses: Die »alte englische Hausuhr« steht im Flur; die Flügeltür mit ihren »schweren Vorhängen« liegt der »breiten, in das Oberhaus hinaufführenden Treppe« gegenüber; die »beiden Fenster des tiefen Raumes« gehen auf eine »von hohen Häusern eingeengte Straße«, an den Wänden finden wir »dunkelgrüne Sammettapeten« wie in der Novelle. Diese Hinweise wurde bei der Einrichtung des Museums berücksichtigt. Zur Verdeutlichung der Personenkonstellationen werden die Photographien der beiden Frauen und der acht Kinder Storms präsentiert sowie einige andere Objekte, die Hinweise auf die Lösung des Stiefmutterproblems durch die Geburt der Tochter Friederike geben. Der Unterschied zwischen biographischer Wirklichkeit und literarischer Fiktion wird zum Beispiel in der Reduktion der Novellenfamilie auf drei Personen deutlich. Allerdings kann auf Details nur im Hausführer oder in geführten Rundgängen verwiesen werden, im Museum selbst muss es bei Andeutungen bleiben, um die Objekte nicht durch Beschriftungen zu überfrachten. Hier finden wir die Grenzen museumsdidaktischer Bemühungen und können nur Anregungen geben, die der interessierte Besucher durch eigne Recherchen vertiefen muss.

Ein anderes Beispiel finden wir im großen Wohnzimmer der ersten Etage. In Storms Briefwechsel stoßen wir mehrfach auf die Formulierung „Eichendorffsche Waldlandschaften“; offenbar konnotiert Storm einen bestimmten Gefühlswert mit dieser Äußerung. Seine Briefpartner wie zum Beispiel der Dichter Paul Heyse, der Literaturhistoriker Erich Schmidt und der Maler Hans Speckter konnten diese Bedeutung verstehen. In einem Brief an Speckter schreibt Storm im März 1874 anlässlich einer Illustration zu der Lyrikanthologie Hausbuch aus deutschen Dichtern über den Freiherrn von Eichendorff[6]:

»Das Romantische - das Wort sei gestattet - in ihm liegt in der Stimmung, in der Stimmung der Vergänglichkeit, der Einsamkeit, wo die Dinge eine stumme Sprache führen. Musikalisch ist diese Stimmung noch schöner als in dem ’Es rauschen die Wipfel u. schauern’ von Schumann in dem ’Aus der Heimath hinter den Wolken roth’ ausgesprochen. Diese Stimmung ist unendlich tiefer als sie durch Elfen oder dergl. Verkörperungen des menschlichen Wunderdranges ausgesprochen werden könnte. Die geistige Atmosphäre ist die des siebzehnten Jahrhundert<s>.«

Dies Ausführungen sind für uns interpretationsbedürftig, auch wenn wir einen Hinweis auf die Wirkung einer Schumannschen Komposition auf das Gemüt des Dichter erhalten und zu Kenntnis nehmen, wie intensiv sich der Dichter in die Gestaltung der Illustrationen zu seinem Buch eingemischt hat. An der Wand über dem Sofa im Wohnzimmer des Storm-Hauses finden wir heute zwei gerahmte Stiche aus dem Storm-Nachlass, die bereits zu Storms Zeiten an der selben Stelle gehangen haben. Sie stammen von Carl Friedrich Lessing und zeigen romantisch idealisierte Waldlandschaften. Die Anschauung, die Museumsbesucher bei der Betrachtung dieser Bilder gewinnen, können in viel authentischer Weise diejenigen Gefühlswerte vermitteln, die Storm bei der gleichen Betrachtung gewonnen hat, von denen er in vielen Korrespondenzen spricht und die er mehrfach in seiner Novellistik beschrieben hat. Gerade hier zeigt sich die Besonderheit einer Literaturausstellung; sie kann Einsichten vermitteln, die aus Textzeugen allein nicht zu gewinnen sind. Erst wenn mit Hilfe vieler unterschiedlicher Medien das Kontinuum Literatur in seinen komplexen Wechselbezügen präsentiert wird, können dem Besucher anspruchsvolle Angebote zu eigener Reflexion unterbreitet werden.

Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass Literaturausstellungen unter anderem auf vielfältige mediale Repräsentanten von Texten angewiesen sind; von daher bietet es sich an, den modernen Sehgewohnheiten der Besucher auch durch den Einsatz moderner Medien entgegenzukommen. Man muss gerade den Bereich der Besucherinformation immer wieder aktualisieren; im Storm-Haus versuchen wir das zur Zeit durch die Herstellung einer CD-ROM, die unter anderem einen virtuellen Museumsspaziergang enthält. Inwieweit solche Bildpräsentationen auch ins Internet gestellt werden sollen, müsste eigens diskutiert werden. Es zeichnet sich aber ab, dass virtuelle Museumsrundgänge die wirklichen Ausstellungen in Zukunft ergänzen werden.[7]

Die Funktion von temporären Sonderausstellungen, von denen das Storm-Haus aus personellen Gründen jährlich jeweils nur eine präsentieren kann, liegt vor allem in der Vorstellung neuer Forschungsergebnisse zu überschaubaren Teilbereichen. Solche Ausstellungen bieten auch Mehrfachbesuchern neue Einsichten und sind eine Herausforderung für punktuelle Forschungsarbeiten im Archiv. Da es außerhalb von Husum auch weitere Storm-Stätten gibt, an denen Menschen sich dem Leben und Werk des Dichters verpflichtet fühlen (ich nenne nur Heiligenstadt, Hademarschen, Segeberg und Heiligenhafen), zeigen wir diese Ausstellungen auch außerhalb des Hauses und erreichen auf diesem Weg ein größeres Publikum.

Ein lebendiges Literaturmuseum ist Teil des kulturellen Angebots seiner Standortgemeinde; in Husum veranstaltet die Storm-Gesellschaft Führungen, Vorträge und Lesungen, also ein literarisches Programm, das einerseits die Ausstellungsaktivitäten im Museum ergänzt, andererseits über die Arbeitszusammenhänge zwischen Archiv und Museum informiert. Dadurch ist unser Haus ein wichtiger Faktor im regionalen Kulturangebot der Storm-Stadt.

 

Anmerkungen


[1] Zit. nach Detlev Hellfaier: Literaturarchive, literarische Nachlässe und Autographen – eine Landesbibliotheksaufgabe. In: Angelika Busch und Hans-Peter Burmeister (Hg.): Literaturarchive und Literaturmuseen der Zukunft. Bestandsaufnahme und Perspektiven. Loccum 1999 (Loccumer Protokolle 18), S. 13.

[2] Ulrich Ott: Probleme der Literaturarchive und –museen. In: Literaturarchive und Literaturmuseen der Zukunft, S. 33.

[3] Schülerduden Literatur, Mannheim, 3., neu bearbeitete Auflage 2000.

[4] Volker Meid: Elektronisches Sachwörterbuch zur deutschen Literatur. Stuttgart 2000, Reclam-CD-ROM.

[5] Zum Folgenden vergl. den neuen Hausführer von Karl Ernst Laage: Das Storm-Haus in Husum. Heide 2001, S. 74ff.

Über die Entstehung des Storm-Museums informiert das Buch von Karl Ernst Laage: Storm-Haus Geschichte(n). Heide 1997.

[6] Theodor Storm – Otto Speckter. Theodor Storm – Hans Speckter. Briefwechsel, hg. Von Walter Hettche. Berlin 1991, S. 61.

[7] Die aktuelle Internet-Präsentation des Storm-Hauses kann unter der Adresse www.storm-gesellschaft.de angewählt werden. Dort sind auch weiterführende Literaturhinweise zur Arbeit der Storm-Gesellschaft, zum Serviceangebot des Storm-Archivs und zum Museum zu finden.