Ein Schülergedicht von Theodor Storm

Wenn man heute an die Schulzeit Theodor Storms erinnert, so löst man bei vielen Lesern Vorstellungen aus, die von der „Feuerzangenbowle“ geprägt sind, der bekannten Filmkomödie mit Heinz Rühmann, die uns ein verstaubtes Bild von Schule vor mehr als hundert Jahren vermittelt, in der die Schüler vor allem Unsinn im Kopf haben. Dass der Unterricht zu Storms Schulzeit aber durchaus junge Menschen zu kreativen Leistungen anregen konnte, kann man an einigen frühen Gedichten des späteren Poeten sehen.

Im Sommer des Jahres 1835 notierte der damals 17jährige folgendes Gedicht in sein Notizbuch:

Der Fuchs u<nd> d<ie> Traube

 

Hungrig schlich der Fuchs ins Freie

Futter für d<en> leeren Magen

auf der Wiese zu ersphän.

Endlich hoch am Rebenzweige

Winket ihm die schönste Traube,

Welche je s<ein> Mund begehrt

 

Springend sucht er zu erreichen,

W<as> d<as> Auge lüstern reizet;

Doch umsonst ist all s<ein> Mühen

Denn d<ie> Traube

Hängt zu hoch für Meister Fuchs.

 

Mürrisch spricht er: „ach sie schmecket

Bitter noch u<nd> bittre Trauben

Freß ich, glaubt's mir niemals gern.“

                        ___

Solche trifft d<er> Mund d<er> Fabel,

Die <mi>t Worten frech verhöhnen,

W<as> zu groß für ihre Kraft.

 

Theodor Storm: Handschrift in „Meine Gedichte“, S. 29f. als Nr. 43 im 2. Halbjahr 1835 eingetragen (Sammelhandschrift, Storm-Archiv Husum)

 

 

Die Anregung für dieses und für eine Reihe weiterer Gedichte hat der junge Dichter im Unterricht seiner Schule bekommen. Storm wurde Ostern 1826 mit 9 Jahren in die Quarta der Husumer Gelehrtenschule aufgenommen, die 1827 bereits auf eine dreihundertjährige Tradition zurückblicken konnte. Sie war als Reformationsgründung eine der vier humanistischen Bildungsanstalten im Herzogtum Schleswig. Auch im 19. Jahrhundert blieb es Aufgabe dieser Gelehrtenschulen, junge Menschen auf das Studium an der Landesuniversität Kiel vorbereiteten, auf der man studieren musste, wenn man ein Amt als Arzt, Pastor, Lehrer oder Jurist in den Herzogtümern anstrebte; darüber hinaus vermittelte die Institution dem kaufmännischen Nachwuchs eine humanistische Grundbildung. Storm stieg nach einem Jahr in die Tertia auf, die er wie die Sekunda drei Jahre besuchte, danach war er seit Ostern 1833 Primaner.

    

Die Schule hatte im 19. Jahrhundert vier Klassen, die von vier Lehrern unterrichtet wurden. Diese hatten eine philologische und theologische Ausbildung und gaben alle Fächer. Aus den Schulprogrammen der Husumer Gelehrtenschule geht hervor, dass Griechisch und Latein fast ein Drittel (Tertia) bis die Hälfte (Prima) des Unterrichts ausmachten. In den beiden Oberklassen wurden 8 Wochenstunden Latein unterrichtet und 4 (Sekunda) bzw. 5 (Prima) Stunden Griechisch.

Im altsprachlichen Unterricht wurde nicht nur übersetzt, sondern man leitete die Schüler auch zur Produktion eigener Texte an. Dabei galt es zunächst, die klassischen Vorbilder nachzuahmen, die man als Lektüre kennen gelernt hatte. Die Lehrer vermittelten ihren Schülern detaillierte Kenntnisse in der „Prosodie“, als der Lehre vom Akzent und den Silbenquantitäten; sowohl im Griechisch- wie im Lateinunterricht wurden Stilübungen aufgegeben, bei denen die Metrik in den Originalsprachen analysiert und nachgeahmt wurde. Eine entsprechende Übertragung ins Deutsche setzt genaue Kenntnis der unterschiedlichen Strukturen der alten Sprachen und der veränderten Artikulationsqualitäten in der deutschen Sprache voraus. Die damals erworbene Übung im Übertragen aus den alten Sprachen in die Muttersprache bildet das Fundament für Storms außerordentliche Genauigkeit im kreativen Umgang mit der deutschen Sprache, wie seine späteren literarischen Werke und auch seine Briefe eindrucksvoll dokumentieren.

Der junge Dichter paraphrasiert in seinem Gedicht die Fabel des Äsop, die ihm aus dem Lateinunterricht bei Konrektor Georg Heinrich Kuhlmann in der Fassung des Phädrus bekannt war. Georg Heinrich Kuhlmann (1775-1851) unterrichtete als Konrektor von 1811 bis 1838 an der Husumer Gelehrtenschule; bei ihm erhielt Storm den meisten Lateinunterricht. In der in Tertia (Schuljahr 1829/30) wurden, die das Schulprogramm von 1830 ausweist, „Phädrus Aesopische Fabeln“ gelesen. In der Bibliothek der Hermann-Tast-Schule haben sich Bücher erhalten, die zu Storms Zeiten im Unterricht benutzt wurden. Dort begegnet uns die Fabel in lateinischer Sprache:

 

De Vulpe et Uva

1    Fame coacta vulpis alta in vinea

2    Uvam adpetebat, summis saliens viribus;

3    Quam tangere ut non potuit, discedens ait:

4    Nondum matura est; nolo acerbam sumere.

5    Qui, facere quae non possunt verbis elevant

6    adscribere debebunt hoc exemplum sibi.

 

Der Fuchs und die Traube

1    Der Hunger trieb den Fuchs hoch in den Weinstock,

2    Eine Traube zu erreichen, indem er aus allen Kräften hochsprang.

3    Er konnte sie aber nicht bekommen und sprach im Fortgehen:

4    „Sie ist noch nicht reif; ich will keine saure haben.“

5    Wer das, was er nicht kann, in Worten aufhebt,

6    Ist verpflichtet, dieses Beispiel auf sich zu beziehen.

 

Phaedri, Augusti Caesaris liberti, Fabularum Aesopiarum libri quinque;[...]

 In lucem editi à Johanne Laurentio. Amstelodami 1667.

Übersetzung: G.E.

 

Diese Fabel beginnt mit einer kurzen Exposition, es folgt die Erzählung, der eine Art Nachwort (griechisch: Epimythion) angegliedert ist, das eine Lehre enthält. Die eigentliche Erzählung besteht aus drei Teilen; Exposition und Handlungsbeginn sind durch einen Zeilensprung miteinander verbunden, der zweite Teil beschreibt das Scheitern des Fuchses und der Schluss besteht nur aus dessen Rede, die dieser bereits im Weggehen spricht. Die davon abgesetzte Nachrede wäre eigentlich entbehrlich, da die Ausrede des Fuchses für den Leser bereits die Lehre der Fabel, das fabula docet, erkennen lässt. Wie alle Fabeln des Phaedrus ist der Text im jambischen Senar verfasst, einer Folge von kurzen und langen Silben, wobei kurze Silben gegen lange und lange gegen zwei kurze ausgetauscht werden können. Dieses Versmaß lässt sogar weitere Abweichungen zu und steht der Umgangssprache des gebildeten Roms (sermo urbanus) zur Zeit des Phaedrus (gestorben um 50 nach Christi Geburt) nahe.

 

Der Übersetzer steht vor dem Problem, dass er ein Versmaß nachahmen muss, das es nach den antiken Silben-Maß-Grundlagen von Quantität und Zahl so in der deutschen Sprache gar nicht gibt. Er muss sich von der Strenge des Vorbilds lösen, weshalb Lessing zum Beispiel in seiner Nachdichtung den Text rhythmisierte und ihn in drei- bis siebenhebige Zeilen anordnete, die unregelmäßig gereimt sind. Später übertrug er Fabeln in einfache Prosarede. Andere Übersetzer des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts wählten vier- bis achthebige Jamben, die sie unterschiedlich rhythmisierten. Bereits 1738 veröffentlichte Johann Nicolaus Funck eine zweisprachige Ausgabe und stellt neben den Originaltext eine „leichte Prosaparaphrase zum Gebrauch der Schulen“.

Eine gute Übersetzung ist auch deshalb schwierig, weil bei Phaedrus die Wortwahl und die rhythmisch passende Wortstellung Vorrang vor grammatischen oder syntaktischen Figuren haben und das eigentliche künstlerische Merkmal der Fabeln ausmachen. Storm wählt unbekümmert ein anderes Versmaß, den vierhebigen Trochäus, den er gleichmäßig einsetzt und so ein festes Betonungsgefüge schafft, das Endreime entbehrlich macht. Die Verkürzung des zehnten Verses um zwei Hebungen ergibt nicht nur eine Zäsur, sondern setzt durch das Enjambement einen Akzent, der gleich einem Wendepunkt Spannung erzeugt und durch eine geschickt gesetzte Pause die nächste Zeile betont. Storms Übertragung schmückt die Fabel aus, wie das auch bei früheren Nachdichtungen üblich war. Er entfaltet die Exposition zu einem Naturbild und lässt den Fuchs durch die Wiese streifen; den Kontrast bildet dann die Traube, die „hoch“ am Rebenzweige winkt. Aus den sauren, unreifen Früchten macht Storm „bittre Trauben“. Die Nachrede lässt erkennen, dass der junge Dichter den Text nicht bloß übersetzt und durch poetische Bilder ausgeschmückt hat, sondern er deutet die Lehre der Fabel, vielleicht so, wie er es auch im Lateinunterricht erfahren hat. Statt die Aufforderung der Fabel, sich so wie der Fuchs zu verhalten, trifft nun „der Mund der Fabel“, d.h. der Vortrag des didaktischen exemplum alle diejenigen mit Spott, die „mit Worten frech verhöhnen,/ Was zu groß für ihre Kraft“. Im Vergleich zu anderen Versübertragungen des 18. und 19. Jahrhunderts erweist sich das Gedicht Storms nicht nur als gleichwertig sondern sogar als künstlerisch bedeutender.

Dazu: Gerd Eversberg: Theodor Storm als Schüler. Mit vier Prosatexten und den Gedichten von 1833 bis 1837 sowie sechs Briefen. Heide 2006.

Albrecht von Haller (1708 bis 1777)

Der Fuchs und die Trauben.

Ein Fuchs, der auf die Beute gieng,
Traf einen Weinstock an, der, voll von falben Trauben,
Um einen hohen Ulmbaum hieng;
Sie schienen gut genug; die Kunst war, abzuklauben.
Er schlich sich hin und her, den Zugang auszuspähn;
Umsonst, es war zu hoch, kein Sprung war abzusehn.
Der Schalk dacht in sich selbst: ich muß mich nicht beschämen;
Er sprach und macht dabei ein hämisches Gesicht:
»Was soll ich mir viel Mühe nehmen,
Sie sind ja saur und taugen nicht!«
So gehts der Wissenschaft. Verachtung geht für Müh.
Wer sie nicht hat, der tadelt sie.

 

Albrecht von Haller: Versuch Schweizerischer Gedichte, S. 253. Die digitale Bibliothek der deutschen Lyrik, S. 28205.

  (Erstdruck: 1734)

Karl Wilhelm Ramler (1725 bis 1798)
Der Fuchs und die Trauben

Ein Fuchs, der auf die Beute ging,
fand einen Weinstock, der voll schwerer Trauben
an einer hohen Mauer hing.
Sie schienen ihm ein köstlich Ding,
allein beschwerlich abzuklauben.
Er schlich umher, den nächsten Zugang auszuspäh'n.
Umsonst! Kein Sprung war abzuseh'n.
Sich selbst nicht vor dem Trupp der Vögel zu beschämen,
der auf den Bäumen saß, kehrt er sich um und spricht
und zieht dabei verächtlich das Gesicht:
»Was soll ich mir viel Mühe geben?
Sie sind ja herb und taugen nicht.«

 

 

K. W. Ramler: Fabellese. 3 Bde Leipzig. 1783-1790.

  

(Erstdruck um 1785)

Friedrich Fr. Rückert (Lebensdaten unbekannt)

Der Fuchs und die Traube

Gequält vom Hunger wollt' ein Fuchs vom hohen Weinstock
Sich eine Traube holen, und er sprang hinan;
Doch da es ihm unmöglich war, sie zu erlangen,
Sprach er im Gehn: »Sie ist nicht reif, und saure mag ich nicht.«
Wer das mit Worten schmäht, was er nicht haschen kann,
Der muß sich auf sein Konto diese Fabel setzen.

 

 

 

 

Phaedrus: Liber Fabularum Fabelbuch. Lateinisch und deutsch. Übersetzt von Friedrich Fr. Rückert und Otto Schönberger. Herausgegeben und erläutert von Otto Schönberger. Stuttgart 1975 (RUB 1144), S. 77ff.

 (Erstdruck 1877)

 

Zu den Abbildungen:

Theodor Storm in „Meine Gedichte“, Storm-Archiv Husum

Husumer Gelehrtenschule, um 1870 abgebrochen; Zeichnung von Jan Hamkens (um 1900); Hermann-Tast-Schule, Schularchiv

Phaedri, Augusti Caesaris liberti, Fabularum libri quinque;[...] In lucem editi a Johanne Laurentio. Amsterdami 1667. (Exemplar in der Husumer Schuklbibliothek)