Das Nummerträumen

Eine bisher Theodor Storm nicht zugeschriebene Erzählung

 

Bei meinen Recherchen zu den Quellen von Storms Spukgeschichten und Sagen stieß ich im selben Jahrgang der „Gartenlaube“, in der die Novelle „Im Schloß“ veröffentlicht wurde, auf einen längeren Text unter der Rubrik „Zur Geschichte des Aberglaubens“, bei dem es sich um eine verschollene Storm-Erzählung handelt, die dort mit dem Zusatz „Nr. 6“ abgedruckt ist.

Eine Edition des Textes mit ausführlichem Kommentar erschien im Jahre 2015 in den Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft, Husum.

 

Am 12. Dezember 1861 schrieb Theodor Storm aus Heiligenstadt an seine Eltern in Husum:[1]

In der Gartenlaube werdet Ihr demnächst auch einen Artikel von mir „Volksglaube im katholischen Deutschland“ (ohne Name und von der Redaction mit Rücksicht auf die katholischen Leser etwas beschnitten) und in der „Victoria-Zeitung“ unter dem Titel „Am Kamin v. Th. St.“ ein Cyclus von Spukgeschichten in einem leichten humoristischen Rahmen, lesen können.

Eine Erzählung mit dem Titel „Am Kamin“ konnte von der Storm-Forschung auch tatsächlich nachgewiesen werden; sie erschien 1862 im 12. Jahrgang der Frauenzeitschrift „Victoria“.[2] Da Storm von dem Abdruck dieser Erzählung nie ein Belegexemplar erhalten hatte[3], konnte er sie auch später nicht in seine „Gesammelten Werke“ aufnehmen, die im Verlag George Westermann erschienen. Seine Suche danach blieb erfolglos, obwohl er seinen Sohn Ernst am 17. Januar 1870 bat, ihm Exemplare der Zeitschrift zu besorgen.[4] Sie wurde erst im Jahre 1913 von Fritz Böhme wiederentdeckt und im Nachlassband zu Storms Sämtlichen Werken[5] ediert.

Hingegen blieben damals Nachforschungen zu dem Artikel „Volksglaube im katholischen Deutschland“ erfolglos. Zwar hatte Fritz Böhme im Kommentar zu seinen Nachträgen einen Hinweis gegeben[6], dieser wurde aber von Albert Köster, dem Herausgeber der achtbändigen Ausgabe von Storms Werken, offenbar übersehen, denn er schreibt in den Anmerkungen zu seiner Edition: „Und ebenso ist verschollen ein Aufsatz über Aberglauben im katholischen Deutschland, den Storm 1861 für die Gartenlaube geschrieben hatte, der aber nie gedruckt worden ist.“[7]

Der Grund für das Scheitern der bisherigen Nachforschungen liegt in der Tatsache, dass dieser Aufsatz nicht unter dem von Storm genannten Titel gedruckt wurde, sondern unter der seltsam klingenden Überschrift „Das Nummerträumen“.

 

Ende September 1861 schickte Storm die kleine Erzählung zusammen mit der Novelle „Im Schloß“ an Ernst Keil, den Verleger der „Gartenlaube“.[8]

Einer verehrlichen Redaction erlaube ich mir anliegenden kleinen Aufsatz, der indes aus persönlichen Rücksichten ohne meinen Namen in die Welt gehen müsste, zu offerieren, mit der Anfrage, ob Sie derartige Sachen auch pro futuro gebrauchen und auf wieviel Honorar pro Spalte ich dafür rechnen kann. Leider ist dieser letztere Punkt für uns Schleswigholsteiner, die wir preußische Beamte geworden und mit Kindern gesegnet sind, nicht zu umgehen. – Das Dipositionsrecht über derartige Sachen müsste mir ein Jahr nach der Einsendung wieder zustehen.

Noch am selben Tag heißt es in einem Brief an Freund Pietsch:[9]

Ich habe heute angefangen, Spukgeschichten für den Bazar zu schreiben. Ich schicke sie zur Weiterbesorgung an Sie; es wird Sie interessieren. Auch für die Gartenlaube[10] habe ich einen Artikel über hiesigen Volksglauben heute abgesandt. Ich bin aber ganz krüselig von dem Geschreibe.

Keil reagierte postwendend mit der erwünschten Antwort:[11]

Sehr geehrter Herr!

Auf Ihre Zuschrift v. 29/9. kann ich gerne die Aufnahme des gesandten kleinen Artikels zusagen, doch nur unter der Bedingung, daß Sie mir erlauben einige Sätze der Einleitung, welche Ausfälle gegen die katholische Kirche enthält, zu streichen. Meine Zeitschrift wird zu viel von Katholiken gelesen, als daß ich – bei allem Festhalten des Prinzips – nicht einige Rücksicht nehmen sollte.

Welche Konsequenzen dies haben sollte, ahnte Storm offenbar nicht, denn er hat diese Bedingung stillschweigend akzeptiert, als er am 6. Dezember in einem Brief an Keil „die letzthin acceptierte kleine Arbeit“ nur am Rande erwähnte.[12]

Seinem Manuskript muss er eine ausführliche Einleitung vorangestellt haben, in der er nach Keil „Ausfälle gegen die katholische Kirche“ formulierte. Was er dort an religionskritischen Bemerkungen notiert hat, lässt sich nicht mehr rekonstruieren; allerding wird eine noch ausstehende Analyse seines Beitrags und der dabei verwendeten Quellen einige Rückschlüsse ermöglichen.

Keil oder einer seiner Redakteure jedenfalls strich die Einleitung Storms, setzte einen neuen Text an den Anfang und verknüpfte die reißerische Einleitung von einer grässlichen Mordtat in Prag ohne antikatholische Tendenzen geschickt mit Storms Erzählung.

Die Erzählung von den Lotterie-Träumen, die wohl Teil des Komplexes „Am Kamin“ war, von Storm aber während der Niederschrift wieder ausgeschieden wurde, erreichte bereits im Februar 1862 die große Leserschaft der „Gartenlaube“, ohne dass bekannt wurde, wer sich dahinter verbarg. Kurios erscheint die Tatsache, dass der Autor selbst das Erscheinen seines kleinen Textes im 7. Heft der Zeitschrift übersehen haben muss, denn Storm fragte am 15. Juli – da lag die Erzählung schon seit fast einem halben Jahr im Druck vor – bei Keil an: „Wo bleibt mein Volksglauben Artikel?“[13]

 

Anmerkungen


 

[1] Theodor Storm: Briefe in die Heimat (an die Eltern). Hg. v. Gertrud Storm. Berlin 1907, S. 172.

[2] Victoria. Illustrirte Muster- und Moden-Zeitung, Berlin 12. Jahrgang, Nummer 6 und 8 vom 8. und 22. Februar 1862.

[3] Storm schrieb an Ludwig Pietsch am 15. April 1862: „Können Sie nicht den Verleger der Victoria-Zeitung H. Haak gelegentlich bitten, mir die Nummern mit den Gespenstergeschichten zu schicken. Ich habe nicht einmal ein Manuskript.“ Blätter der Freundschaft. Aus dem Briefwechsel zwischen Theodor Storm und Ludwig Pietsch. Mitgeteilt von Volquart Pauls. 2. Aufl., Heide 1943, S. 85.

[4] Theodor Storm – Ernst Storm. Briefwechsel. Hg. von David Jackson. Berlin 2007, S. 52.

[5] Theodor Storm. Spukgeschichten und andere Nachträge zu seinen Werken. Hg. von Fritz Böhme. Braunschweig 1913. (Sämtliche Werke Band 9), S. 1-32.

[6] „Am 29. Sept. 1861 sandte Storm die Arbeit an Ernst Keil, den Verleger der Gartenlaube, nach Leipzig und erhielt von ihm am 1. Okt. 1861 den Bescheid, der Aufsatz sei angenommen, wenn Storm einige Änderungen der Einleitung gestatten würde. Storm muß diese Erlaubnis gegeben haben. – In der betr. „Gartenlaube“ befindet sich aber kein Aufsatz mit diesem Titel. Es liegt die Möglichkeit vor, daß eine auf Seite 104/5 stehende Arbeit „Zur Geschichte des Aberglaubens Nr. 6. Das Nummerträumen“ von St. herrührt.“ Fußnote in den Anmerkungen zu „Am Kamin“, S. 151.

[7] Albert Köster (Hg.): Theodor Storms sämtliche Werke. Achter Band. Leipzig 1920, S. 130.

[8] Theodor Storm an Ernst Keil, Heiligenstadt, 29. September 1861. (Briefabschrift, UB Leipzig)

[9] Theodor Storm an Ludwig Pietsch, ohne Datum (29. September 1861). Blätter der Freundschaft. Heide 1943, S. 68.

[10] Die Zeitschrift „Die Gartenlaube – Illustrirtes Familienblatt“ erschien ab 1853 in Leipzig im Verlag Ernst Keil. Sie erreichte nach Schätzungen zwischen zwei bis fünf Millionen Leser.

[11] Ernst Keil an Theodor Storm, Leipzig, 1. Oktober 1861; Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek, Kiel; Storm-Nachlass.

[12] Theodor Storm an Ernst Keil, Heiligenstadt, 6. Dezember 1861. (Briefabschrift, UB Leipzig)

[13] Theodor Storm an Ernst Keil, Heiligenstadt, 15. Juli 1862. (Briefabschrift, UB Leipzig)

 

 

Das Nummerträumen.

Unserm Leserkreise ist jedenfalls durch die Zeitungen die Nachricht von dem gräßlichen Morde, welchen im October des vergangenen Jahres ein Mann an seinen vier Kindern und sich selbst beging, bekannt geworden. Der Schauplatz dieser entsetzlichen Begebenheit war Prag; und so gern sich der Blick von solchen Trauerbildern wegwendet, so müssen wir doch darauf zurückkommen, weil die naturwidrige That eines Einzelnen einer ganzen Generation das Feld des Aberglaubens wieder gedüngt hat.

Der fünffache Mord, heißt es in der Donauzeitung, hat viele Personen veranlaßt, auf gewisse Zahlen in der Lotterie zu setzen.

Da die Leichen am 28. October aufgefunden wurden, die Zahl der ermordeten Kinder 4 betrug und der unglückselige Vater 43 Jahr alt war, so lag es nahe, die Zahl 28, 4 und 43 für die Lotterie zu wählen, und siehe da: in der letzten Brünner Ziehung wurden folgende Zahlen gezogen:

28, 4, 11, 18, 43.

Die Zahl der dadurch erzielten Gewinnste ist in Prag eine sehr bedeutende; in einer Collection allein wurden 200 Extraten, 30 Nominaten, 180 Ambo, 7 Ambo-Solo und 5 Ternen gewonnen. Unter den Gewinnsten sind mehrere von beträchtlicher Summe.

Es wird versichert, es seien von Seiten des Prager Lottoamts gegen 300,000 fl. [Österreichische Gulden] an Gewinnsten ausgezahlt worden, die durch die Besetzung der genannten Nummern gemacht wurden.

Die Traumbücher, Kartenschläger, die klugen Frauen (wir meinen, mit gütiger Erlaubniß unserer Leserinnen, damit speciell die ganz besondere Classe, die sich mit Kaffeesatz und der Erforschung der Zukunft aus Blei und Eiweiß beschäftigt) haben einen Triumph gefeiert, und lange Zeit hindurch werden mit wesentlicher Vorliebe diejenigen Zahlen im Lotto besetzt werden, die in irgend welchen Beziehungen zu ähnlichen Schauderthaten stehen.

Der Aberglaube hat frische Nahrung erhalten, und selbst mancher Gebildete und sonst unbefangen Urtheilende schüttelt den Kopf über den merkwürdigen Zufall:

„Es ist doch wohl mehr als Zufall – Sie sagen ja selbst, es giebt keinen Zufall.“

„Nein, es braucht auch keinen Zufall zu geben, – er ist gar nicht nöthig, wenn ein solcher Fall der Uebereinstimmung vorkommt.“

„Also meinen Sie doch, daß –“

„Nichts meine ich – aber beweisen will ich Ihnen, daß dergleichen wunderbar scheinende Fälle eintreffen müssen, und daß es viel merkwürdiger wäre, wenn von den Tausenden und Abertausenden von Träumen und Prophezeiungen und Anzeichen und altem Weibergeschwätz nichts eintreffen wollte, als wenn Jemand im Schlafe eine goldene Zahl sieht und darauf das große Loos gewinnt.“

Ich habe einen Verwandten – er muß jetzt sehr alt sein, wenn er überhaupt noch lebt – derselbe war Officier in ***’schen Diensten und hatte als solcher wohl den reglementmäßigen Magen, aber außer dem Mittagbrod wenig hineinzuthun. Das bekümmerte ihn – denn er war sehr arm und zu leichtsinnigem Schuldenmachen zu redlich. Die Aussichten auf Avancement waren auch nicht die besten, er war Oberlieutenant und blieb Oberlieutenant, und das verbitterte ihm vollends die Stimmung, so daß er nicht einmal zu dem Leichtsinn kommen konnte, um ein reiches Mädchen zu werben.

Seine einzige Hoffnung war die Lotterie, und doch getraute er sich nicht das Wagniß zu unternehmen. Das Risico war zu bedeutend. Wenn er nichts gewann, mußte er sich als den leichtsinnigsten Schwindler verabscheuen. Aber Tag und Nacht ging ihm das Glücksrad nicht ans dem Sinn. Er hörte alljährlich von großen Gewinnen und bereute nachher regelmäßig, die glückliche Nummer nicht besetzt zu haben. Da träumt ihm eines schönen Abends gegen Ende des Monats, es erschien ihm eine Fee. Sie kam, wie stets, in einer Wolke und trug einen unaussprechlich schönen, zarten und rosenrothen Anzug. „Hartmann,“ und dabei klopfte sie ihn mit einem Lilienstengel auf die Stirn, „Hartmann, Sie sollten doch in der Lotterie spielen – – Nun ja, ich weiß schon; sehn Sie nur, ob Sie nicht noch Einen dazu finden, ich sage nichts weiter, aber merken Sie sich die und die Nummer –“ und damit war sie verschwunden. Mein Vetter wachte auf, stand auf und schrieb sie auf – nämlich die Nummer für den Fall, daß er noch Einen dazu fände. Er fand ihn auch richtig, denn er war sehr beliebt, und so wurde denn das Loos genommen, – womit die Beiden durchfielen, daß ich’s kurz vermelde.

Der Eine lachte, und der Andere – das war unser Hartmann – ärgerte sich, und die Fee verlor sehr an Credit.

So verging wieder ein Jahr, und die Verhältnisse hatten sich noch nicht gebessert. Es kam wieder die Zeit der Hauptziehung.

Hartmann denkt nicht daran, sich zu betheiligen – „Träume sind Schäume“ – „sie kommen aus dem Magen“ – „Unsinn war’s schon das vorige Mal,“ – „es soll nicht sein.“ Mit solchen Gedanken legt er sich jeden Abend zu Bett.

Da wird’s plötzlich einmal in seinem Schlafzimmer hell um ihn, es wird heller und heller, und ehe er noch seine fünf Sinne zusammen bekommen kann, steht die Fee wieder vor ihm. „Lieber Hartmann,“ redet sie ihn an, und er richtet sich dabei im Bett halb auf, „seien Sie mir nicht böse, eine kleine Unvorsichtigkeit von meiner Seite – ich geb’s zu – aber wir können auch nicht allemal wie wir wollen, und Sie werden mir doch so was nicht nachtragen, Sie ständen sich selber im Lichte. Gehen Sie, nehmen Sie noch einmal ein Loos, die und die Nummer;“ weg war sie, aber in Goldschrift prangte vor Hartmann’s Augen die und die Nummer, welche dieselbe war, die er voriges Jahr besetzt hatte. „Einmal und nicht wieder!“ damit schlief er ein. Er konnte aber doch nicht unterlassen, seinen Traum des andern Tages an der Officiertafel zu erzählen. Man scherzte anfänglich darüber, dann fand man es doch wunderbar, daß gerade dieselbe Nummer wieder erschienen war, und nach kurzer Zeit erklärte sich eine Menge seiner Waffengefährten bereit, mit Hartmann das Loos zu spielen. Da er durchaus nicht darauf eingehen wollte, beschlossen die Uebrigen auf eigene Hand ihr Glück zu versuchen. Sie thaten’s, nahmen das Loos und – fielen durch.

Jetzt war Hartmann der, welcher lachte. Aber er lachte nicht mehr, als ihm das nächste Jahr, in der letzten Nacht vor der Ziehung, die Fee wieder erschien.

Diesmal redete sie nicht, sie schien überhaupt traurig und sah ihren Günstling so recht wehmüthig an, daß es ihm selbst leid that, ein so schönes Wesen, denn schön war sie, wie er jetzt erst merkte, vor dem ganzen Officiercorps compromittirt zu haben.

Er konnte die übrige Nacht nicht mehr schlafen, er wollte sich gern rechtfertigen, aber es war zu spät. Auch am andern Morgen brachte er die Erscheinung nicht aus dem Sinn, und in dieser seiner Unruhe kommt ihm der Gedanke, zum Collecteur zu gehen und zu fragen, ob das Loos von der bekannten Nummer noch zu haben sei. Er war zwar überzeugt, daß es längst verkauft sein würde, indessen glaubte er seiner schönen Freundin schon mit dieser Anfrage eine schuldige Artigkeit zu erweisen, und er fragt.

Wie erstaunt er aber, als er hört, daß unter der sehr geringen Anzahl der noch restirenden Loose das betreffende sich wirklich befindet. Das ist ihm zu deutlich gesprochen. Er kauft es, – und Jeder wird nun vermuthen, daß die Nummer zum dritten Male ungezogen bleibt – aber nein: am selben Tage noch fällt darauf der erste Gewinn. Der Oberlieutenant ist ein reicher Mann.

Ich erzähle rein Thatsächliches, wie ich es aus dem Munde meines Verwandten früher selbst erfahren habe, der in humoristischer Weise leicht darüber zu scherzen pflegte, wenn er das Thema berühren mußte; von selbst brachte er nie das Gespräch darauf. Die Sache mit den drei Träumen hat ihre Richtigkeit.

Es ist demnach thöricht, so kurzweg zu behaupten, daß Träume oder Prophezeiungen nie eintreffen. Ich habe zwei der eclatantesten Fälle dafür aufgeführt. Ich habe auch schon oben gesagt, daß von einem Zufall nicht die Rede ist, daß vielmehr eine natürliche Nothwendigkeit derartigen Eintreffens vorliegt, und da sich dies mit Zahlen mathematisch beweisen läßt, so wird hoffentlich der ärgste Materialist nichts dagegen haben.

Weil die beiden Beispiele, die wir gegeben haben, sich auf die Lotterie bezogen, und wir es also hier schon mit Zahlen zu thun haben, so wollen wir den Beweis, der uns zu führen obliegt, zunächst auch für solche Träume und Anzeichen führen, die sich auf dasselbe allgemein bekannte Spiel des Lotto’s oder der Lotterie beziehen.

Gesetzt, es betheiligten sich an einem Lotto, wo aus den Nummern 1 – 90 bei jeder Ziehung 5 Nummern gezogen werden, 300 Personen, alle leidenschaftlich mit dem Spiel beschäftigt. Es ist dann höchst wahrscheinlich, daß von diesen 300 Personen mindestens 180 in der Zeit, die der Ziehung vorherzugehen pflegt, Träume haben werden, in denen ihnen entweder direct Nummern erscheinen, oder die sich wenigstens auf Nummern deuten lassen; denn da sich der Geist solcher Spieler den ganzen Tag mit seiner Hoffnung beschäftigt, werden ihm auch Erinnerungen daran im Schlafe kommen. Den übrigen 120 aber wird wenigstens ein Anzeichen oder irgend ein kleines Ereigniß begegnen, es wird ein Glas zerbrochen, Einer wird einen Brief bekommen, ein Anderer wird ein Taschentuch vergessen, und da sich unter Geübten dergleichen Vorfälle alle in Zahlen von 1 – 90 ausdrücken lassen, so werden wir sicher darauf rechnen können, daß am Tage der Ziehung mindestens 300 geträumte oder gedeutete Nummern besetzt worden sind. Da es nur 90 Nummern giebt, so müssen mehrere der Spieler zusammen auf eine und dieselbe ihren Einsatz machen; und es ist eine Thatsache, die seit Jahrhunderten, seit überhaupt das Lotto bekannt ist, feststeht, daß, wenn eine große Anzahl Menschen einsetzen, ohne sich gegenseitig um die Nummern, die sie besetzen, zu kümmern, schließlich jede Nummer eine gleiche Anzahl Spieler und einen gleichen Einsatz repräsentirt.

In die 90 Nummern theilen sich nun auch unsere 300 Träumer; und da die allerverschiedensten Naturen und Charaktere, Gerechte und Ungerechte, Sanfte und Hitzige sich darunter befinden, so sind die Träume und Vorahnungen sehr verschieden von einander, und alle 90 Nummern werden sich durchschnittlich gleicher Einsätze erfreuen. Und das ist gut. Denn damit ist die Gewißheit gegeben, daß ungefähr 15 von den 300 Träumen in Erfüllung gehen. Fünf Nummern werden gezogen, 15 Spieler haben dieselben besetzt. Diese sind die Glücklichen. Gewiß kann man, da von 300 Träumen 15 – also 5 Procent – in Erfüllung gehen, nicht mehr davon reden, daß Träume nie einträfen. Ein solches Quantum ist aber nicht nur alles Mögliche, sondern vielmehr das Gewisse; und es würde noch größer ausfallen, wenn die Spieler, statt die Auswahl unter 90 Nummern zu haben, nur von 20 oder gar nur von 10 Nummern träumen dürften.

Daß nun bei jeder Lotterie der Fall eben so steht wie bei dem einfachen Lotto, liegt klar am Tage. Nur müssen, weil die Anzahl der Loose eine viel größere ist, als die Zahl der Nummern im Lotto, sich auch nothwendiger Weise mehr Menschen mit dieser geistigen Speculation befassen. Indessen hat dies keine Schwierigkeit; jeder Spielende träumt auch hier früher oder später einmal von seiner Nummer oder wenigstens vom Spiel und legt dies natürlich allemal so aus, daß ihm der „große Gewinn“ bevorsteht; oder wenn er nicht selbst träumt, so besorgt dies seine Frau oder eins seiner Kinder oder ein Bekannter; und man kann sicher rechnen, daß bei Weitem mehr Menschen das große Loos im Kopfe spukt, als sich wirklich am Spiel betheiligen. Etwas geschieht immer, was ein eifriger Spieler in Beziehung zu seinem Glücke setzen kann, und Alle diejenigen, die etwas von Bedeutung gewinnen, –wenn es auch nicht das erwartete große Loos ist, sondern vielleicht nur der hundertste Theil davon – haben also rechtschaffene Symptome gehabt und werden als „lebende Beispiele“ bewundert. Dazu kommt, daß diejenigen, welche auf ihre schönen Träume nichts gewonnen haben, still sind und sich damit trösten, daß sie wahrscheinlich nicht richtig beobachtet haben und das nächste Mal besser aufzupassen sich vornehmen. Reden sie aber ja von ihren „Ahnungen“, so werden sie todtgeschwiegen. Kurz, es kommt nur die Kunde von den „glücklichen Träumen“ zur Illustrirung der alten Geschichte in’s Volk.

Mit den zufälligen Ereignissen, die durch merkwürdige Umstände auffällig werden, ist es eben so. Wie viel geschieht nicht in der Welt, über das man sich wundern könnte! Hier ist’s eine Mißgeburt, dort ein Todesfall. Gleichviel, der Spieler übersetzt die ganze Natur in seine Zahlen. Einige davon müssen das Richtige treffen. Wenn man bedenkt, wie ungeheuer zahlreich die Vorfälle sind, auf welche hin „gesetzt“ wird, so ist es durchaus nicht wunderbar, sondern es erscheint nothwendig, daß einer davon einmal die Hoffnungen der Spieler realisirt, während tausend andere ähnliche Fälle vorher und tausend andere nachher sich als nichts bedeutend erwiesen. Daraus aber dann den Schluß ziehen, daß das Ereigniß selbst und die Lottoziehung in gewisser Verbindung und Abhängigkeit von einander ständen, das ist Aberglaube.

Der Traum hat mit der Lottonummer nichts zu thun. Daß die Zahlen, die sich aus ihm herauslesen lassen, auch gezogen werden, ist natürlich und nothwendig. Wie in jeder Compagnie einer immer der Liederlichste sein muß und diesem deshalb eigentlich kein Vorwurf darüber gemacht werden sollte, so muß eine Nummer auch den ersten Gewinn haben – und da sie schließlich alle geträumt waren, so ist ihr Spieler nicht besonders deswegen zu bewundern. Der beste Beweis, daß ein einzelner Traum keine Chance bietet, ist der große Gewinn, den die Lottocassen trotz aller Kartenschlägerei und Weissagerei und trotz alles Ahnens und Träumens machen.

„Aber noch eins,“ höre ich, „das kommt mir doch im höchsten Grade wunderbar vor, daß das Loos, auf welches der Herr Oberlieutenant den großen Gewinn erhielt, von noch Niemandem gekauft war; es scheint doch, als ob –“

„Richtig, das habe ich vergessen zu bemerken: der Collecteur hatte, weil jene Nummer bereits zweimal von dem Freunde unsers H. bezahlt worden war, diesem sie auch zum dritten Male zugeschickt. Da aber diesmal bis zum Ziehungstage Zahlung noch nicht eingegangen war, ließ sich der Collecteur kurz vor der Ziehung durch seinen Lehrling das Loos vom Herrn Lieutenant zurückerbitten.“

 

Nr. 6. Das Nummerträumen.

Die Gartenlaube. Leipzig 1862, Nr. 7, S. 104-106.