„Das Thurmgemach“. Theodor Storm schreibt eine Gespenstergeschichte.

 

Als Theodor Storms im Herbst 1842 in seine Vaterstadt Husum zurückkehrte und hier Anfang des folgenden Jahres eine Rechtsanwaltspraxis eröffnete, legte er eine Sammlung von Märchen, Sagen und Spukgeschichten an, für die er regionale Chroniken auswertete. Diese Dokumente übermittelte er seinem Studienfreund Theodor Mommsen, unter dessen redaktioneller Leitung ein umfangreiches Konvolut von Liedern, Sprichwörtern, Märchen und Sagen aus den Herzogtümern Schleswig und Holstein zusammengetragen wurde. An dem Projekt arbeiteten neben einer Gruppe von Studienfreunden aus Kiel auch Pastoren, Lehrer und Heimatforscher in den Herzogtümern mit. Die umfangreiche Sammlung bildete den Grundstock für Karl Müllenhoffs Buch „Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg“, das 1845 in Kiel veröffentlicht wurde.

Diese damals als „Volkssagen“ bezeichneten zumeist kürzeren Texte enthalten nach dem Verständnis der Brüder Grimm, die mit Ihren „Deutschen Sagen“ (2 Bände 1816 und 1818) eine ganze Flut regionaler Sammlungen anregten, die „Kunde von Ereignissen der Vergangenheit, welche einer historischen Beglaubigung entbehrt.“[1]

In diesem Umfeld sammelte Storm auch Sagen von Spukerscheinungen sowie Gespenstergeschichten, die er zu einem Teil aus gedruckten Quellen zusammentrug, von denen er aber auch eine ganze Reihe nach mündlichen Erzählungen niederschrieb. Das zum Druck vorbereitete Manuskript, das er als „Neues Gespensterbuch“ bezeichnete, erschien aber zu seinen Lebzeiten nicht als Buch.

Unter den dort enthaltenen Texten befindet sich eine bisher nicht beachtete Erzählung, die mit dem Schloss vor Husum in Verbindung gebracht werden kann.

 

Das Thurmgemach[2]

(erzählt von Frl. Ch. v. K.)

Das Herrenhaus des Gutes A... auf Seeland ist ein sehr altes Schloß, welches von dem Gutsbesitzer, dem Grafen L. nur zum Theile benützt wird. – Vor einigen Jahren wurde in dem Flügel, wo sich das Schlafgemach der beiden Töchter des Gutsherrn befand, eine durchgreifende Reparatur erforderlich und der Graf sah sich genöthigt, den beiden jungen Damen in währender Zeit ein unbewohntes Zimmer in dem obern Stockwerke eines alten Thurms des Schlosses zum Schlafgemach einrichten zu lassen. – Den jungen Damen war diese Einrichtung zwar nicht ganz nach Wunsch, denn der Thurm lag am äußersten Ende des andern Flügels; indes die Sache war nicht zu ändern; auch nahm sich das alte Zimmer, nachdem die Comforts der jungen Damen hineingeschafft waren, gar so übel nicht aus. Den ersten Abend, an welchem die neuen Bewohnerinnen es bezogen, begaben sie sich zeitig zu Bette und versanken bald darauf in den gesunden Schlaf der Jugend. – Sie mochten einige Stunden geschlafen haben, als die Älteste durch ein Geräusch erweckt wurde, welches aus der Mauer zu kommen schien, an welcher ihr und ihrer Schwester Bett stand. Sie weckte diese nun gleichfalls und die beiden jungen Mädchen saßen bald ängstlich mit verhaltnem Athem horchend aufrecht im Bette. Das Geräusch hatte sich verloren; bald indeß schien es wieder aus der Tiefe herauf zu kommen, und sie vernahmen nun deutlich, als wenn in der Mauer Jemand langsam eine Treppe hinaufsteige; dazwischen klirrte es als wenn es eine schwere Kette trüge, die mitunter auf steinernen Treppenstufen hintenach schleppte oder zu beiden Seiten an eine Mauer schlüge. So tappte es langsam nach oben; dann stand es still und tappte dann eben so wieder hinunter tiefer und tiefer, bis endlich alles ruhig wurde.

Die jungen Damen fanden indeß vor Grauen den verlorenen Schlaf nicht wieder, und traten am andern Morgen mit ziemlich überwachten Gesichtern ins Wohnzimmer, wo sie beim Morgentee ihrem Vater sogleich die überstandne Angst mittheilten. Dieser wollte jedoch nichts davon wissen und behauptete, seine Töchter hätten geträumt; denn in jenem Thurme gäbe es keine Treppe, welche neben, geschweige denn in jener Mauer sich befinde; als sie ihn indeß darauf aufmerksam machten, daß sie beide ganz genau dasselbe gehört hätten und betheuerten, unter keiner Bedingung allein wieder in jenem Zimmer schlafen zu können, so versprach der Graf, die nächste Nacht bei ihnen zu wachen, um so die Sache selbst gehörig untersuchen zu können. – Dies geschah; die beiden jungen Damen begaben sich zu Bett, während ihr Vater sich mit Zeitunglesen an einem nahestehenden Tische beschäftigte. So verstrich einige Zeit nach Mitternacht; da rührte sich etwas wie in der Tiefe der Grundmauern; dann tappte es langsam, wie in der vorigen Nacht in der Mauer hinauf, welche die eine Wand des Zimmers bildete; dann stand es still; dann tappte es ebenso stufenweise wieder hinab; daneben klang es mitunter wie von einer eisernen Kette; tief unten endlich verschwand es. – Der Graf hatte Alles gehört; die Thatsache war nicht mehr zu bezweifeln. Er suchte daher seine beiden Töchter zu beruhigen, versprach sie nicht zu verlassen und brachte den Rest der Nacht schlafend in einem Lehnstuhl zu.

Am andern Morgen ließ der Graf Maurer kommen und von dem Zimmer aus ein Loch in die Mauer brechen. Bald bemerkte man, daß dieselbe hohl sei, und entdeckte nach vollendeter Arbeit einen Treppengang, welcher in die Tiefe hinabführte und so schmal war, daß sich kaum ein Mensch seitwärts darin hinabbewegen konnte. Zwei Maurer entschlossen sich mit einer Laterne in den Gang hinabzusteigen und die Obenstehenden hörten das Geräusch ihrer Tritte tiefer und tiefer wie unter den Grundmauern des Thurms verschwinden. Dann war’s eine Zeitlang still; die Obenstehenden hielten den Atem an. Plötzlich drang ein kreischender Schrei zu ihren Ohren, der aus der tiefsten Tiefe kam, und bald hörten sie die Schritte der Hinabgegangenen in augenscheinlicher Eile wieder nach oben kommen. Endlich stiegen sie mit entsetzten Gesichtern wieder hinauf ans Tageslicht und berichteten, der enge Gang führe immer in der Mauer durch den ganzen Thurm hinab und wohl noch tief unter denselben in ein enges von keinem Tageslicht berührtes Verlies. Als sie sich in demselben umgesehen, hätten sie in der einen Ecke ein altes Bettgestell mit etwas verfaultem Stroh erblickt und auf demselben in sitzender Stellung mit Ketten an Händen und Füßen das vollständig erhaltene Gerippe eines Menschen. Vor Entsetzen hätten sie den oben gehörten Schrei ausgestoßen, wobei ihnen die Laterne aus der Hand gefallen und das Licht erloschen sei.

 

Neben dieser Erzählung hat Storm auch drei weitere Texte mit einem Hinweis auf die Erzählerin „Frl. Ch. v. K.“ versehen: „Das Gesicht des Nachtwächters“, „Das Gelächter“ und „Die Karossen“.[3] Charlotte Christiane Rosine Sophie von Krogh[4] (1827-1913), die jüngste Tochter des Husumer Kammerherrn Godske Hans Ernst von Krogh, der als Amtmann im Schloss vor Husum residierte und eine Dienstwohnung im Nordflügel bewohnte, gehörte zum Freundeskreis Theodor Storms. Wie ihre ältere Schwester Auguste, genannt Guste, (1811-1885) sang sie in dem gemischten Chor mit, den Storm 1843 gegründet hatte. In den Jahren von 1844 bis 1848 verband das Mädchen eine Freundschaft mit dem jungen Rechtsanwalt, der im Oktober 1845 an seine Braut Constanze schrieb[5]:

 

Ich bin bis jetzt ohngefähr bei Kroghs gewesen, um Guste Adieu zu sagen; es war recht behaglich da, wir saßen alle um den erleuchteten Theetisch, auch die alte Kammerherrin Stemann, die ich nach ihrer Krankheit zum ersten Mal wiedersah; man wollte mich immer nicht weglassen, aber mich drängte es unaufhörlich nach Haus, um Deinen Brief zu lesen. Mir war übrigens ganz wunderbar in dem alten lang nicht gesehenen Kreise geworden, mir war’s als säß ich im Anfang einer romantischen Novelle von Fouqué; drinnen die freundliche stille Gesellschaft und draußen raste der Sturm um das alte Schloß, pfiff in den Kaminen und schlug mit den offenen Thüren. Endlich ging ich, mir war’s ganz spuckhaft; ich mußte erst zu Menschen, eh ich auf mein einsames Zimmer und ans Brieflesen ging.

 

Lotte, wie die jüngere Schwester in der Familie und im Freundeskreis genannt wurde, hatte eine Vorliebe für Gespenstergeschichten und erzählte ihrem damals seelenverwandten Freund, was sie an unheimlichen Berichten in Erfahrung bringen konnte. Ihr Vater stammt aus einem norwegisch-dänischen Adelsgeschlecht, wurde auf Schloss Gram (Gram Slot) geboren und wuchs in Åstrupgård bei Haderslev in Nordschleswig auf, einem Gut, das sich später im Besitz eines seiner Brüder befand. Zwei weitere Brüder bewirtschafteten die beiden in der Nähe liegenden Güter Nygård und Marielyst (Marienlust). Familiäre Verbindungen gab es zur Familie von Schack, die Schloss Gram sowie das Schloss Schackenborg in Møgeltønder bewohnte. Lotte brachte von ihren Reisen zu den Verwandten eine Reihe von Spukgeschichten mit, die sie ihrem Freund Theodor erzählte und die dieser nach ihren Angaben niederschrieb. Für die von Karl Müllenhoff veröffentlichten Sagen aus Schleswig-Holstein lieferte er die „Schacken-Sage“ (Nr. 27), „Das liebe Brot“ (Nr. 30), „Die Gräfin Schack“ (Nr. 37), „Das Gespenst auf Gram“ (Nr. 69) sowie den „Untergang der Schakenburg“ (Nr. 83).[6] Bei diesen Texten handelt es sich eigentlich um kurze Spukerzählungen, die Müllenhoff unter seine Sagen mischte, während er die längeren Gespenstergeschichten, die Storm ihm zugeschickt hatte, nach Husum zurücksandte.[7]

In der Müllenhoffschen Sammlung wird eine klare Trennung solcher Texte noch nicht vorgenommen, die von Hermann Bausinger als „Vorliterarische Formen“ bezeichnet werden. Damit sind Erzählungen wie Sage und Legende, Märchen und Schwank, Witz und Anekdote, Sprichwort und Rätsel sowie Spukgeschichten gemeint, „die in den weiteren Umkreis der Literatur gehören, die aber in wesentlichen Punkten der gängigen Vorstellung von Literatur nicht entsprechen. Sie werden in aller Regel anonym realisiert und verbreitet.“[8] Sie entstehen oft in kollektiven Prozessen und wurden „Volkspoesie“ genannt. Durch ihre Verschriftlichung im 19. Jahrhundert wurde ihre Variabilität beendet und der ausgewählte Textkorpus kanonisiert. Zugleich wurden diese Texte Gattungsbegriffen zugeordnet, wie es bereits die Brüder Grimm durch die Unterscheidung von Märchen und Sagen Anfang des Jahrhunderts vorgemacht hatten.

 

Während seiner Brautzeit besuchte Storm die Familie von Krogh häufig im Schloss vor Husum; dabei hat er Gespenstergeschichten mit dem jungen Mädchen ausgetauscht und sich wohl auch ausgedacht. Man plante sogar, ein gemeinsames Buch unter dem Titel „Theolot“ (ein Akronym aus Theodor und Lotte) zu schreiben.[9]

Die Spukgeschichte „Das Thurmgemach“ wurde durch ein Ereignis angeregt, über das Storm am 8. Juli 1846 an seine Braut Constanze berichtete[10]:

 

Im Zimmer der Kamm‹er›h‹e›rrin Stemann hat man beim Schloßbau den Eingang zu einem unterirdischen Gang aufgefunden; Br‹inkmann› und ich ließen uns gestern an einer Leiter mit einem der Maurer hinunter, erst ungefähr 15 F‹uß› tief, dann senkt er sich noch bis auf acht Fuß Tiefe mehr und geht nach Osten parallel mit der Norderstraße ohngefähr 35 Schritte fort, dann ist er eingestürzt. Wir hatten eine Laterne mit uns und mußten gebückt gehen, eine Menge Backsteine lagen am Boden, von denen man nicht sagen konnte, wie sie dahin gekommen; denn das Gewölbe des Ganges war einige Bröckeleien abgerechnet, gut erhalten; der Eingang von oben ist so eng, daß man sich eben durchdrängen kann. Der Kammerherr wird den Schutt wohl nicht wegräumen und das Ziel des Ganges verfolgen lassen, was sehr interessant wäre, da gar kein Zweck erkennbar ist. Uebrigens geht in der Schloßmauer, da wo der Gang anfängt eine Art schmaler Schornstein oder Gang von unten bis ans Dach hinauf; wenn man in den Stuben, wo dieser Gang vorbeileitet, das Getäfel wegnimmt, so kann man etwas in den unterirrdischen hineinwerfen. Das ist ein Räthsel, das die Vorwelt uns aufgiebt.

 

Storms Erlebnis steht im Zusammenhang mit einigen baulichen Sicherungsmaßnahmen, die 1846 ausgeführt wurden. Das Husumer Schloss war für Herzog Adolf von Schleswig-Holstein-Gottorf von 1577 bis 1582 außerhalb des Stadtbezirks erbaut worden. An der Stelle des heutigen Schlosses befand sich seit dem späten 15. Jahrhundert das sogenannte Graukloster, ein Kloster der Franziskaner. Ab dem 17. Jahrhundert wurde das bis dahin nur sporadisch genutzte Husumer Schloss zum Witwensitz der Herzöge. 1721 gingen Schloss und Stadt Husum infolge des verlorenen Nordischen Krieges in den Besitz des Königreichs Dänemark über. Der dänische König Friedrich V. ließ das Husumer Schloss in den großen Umbauarbeiten von 1750 bis 1752 modernisieren. Seit 1752 nahm das Schloss auch die Amtsverwaltung des Amtes Husum mit der Wohnung des Amtmannes auf. Dieser wohnte mit seiner Familie in den Räumen nördlich des Turms, wie auch die Familien anderer königlicher Beamter, darunter seit 1845 die Witwe des Kammerherrn Julius von Stemann. Die Amtsverwaltung bestand aus drei Räumen im Erdgeschoss. Für mögliche Aufenthalte des Königs waren die Räume vorgesehen, die südlich des Turms in beiden Etagen lagen. Die Amtsverwaltung verblieb im Schloss, die Nutzung durch das dänische Königshaus beschränkte sich auf wenige Besuche. Dennoch kam es im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts zu einer erneuten Vernachlässigung der Bausubstanz. 1792 musste der Hauptturm weitgehend abgetragen werden. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde das Schloss wieder vermehrt für königliche Besuche genutzt. König Friedrich VI. kam in den zwanziger Jahren häufig nach Husum und Christian VIII. ließ das Schloss in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts modernisieren. In Jahre 1846 erstellte der Ingenieur Meyer vom Bauinspektorat Schleswig einen Kostenvoranschlag für die „Instandsetzung des gänzlich delibirirten [entblößten] und in hohen Grade verfallenen Locales, welches ehemals als Schloßkapelle gedient; sowie Einrichtung desselben zu einem Speisezimmer“.[11]

In einem Brief an Pastor Nicolai C. Nielsen erinnerte sich Charlotte von Krogh im Jahre 1902: „Es gab im Husumer Schlossflügel in der Mauer ein merkwürdiges vergittertes Loch, wo eine Prinzessin eingemauert worden sei – so wurde erzählt.“[12]

Geschichten von eingemauerten Nonnen wurde im 19. Jahrhundert an vielen Orten Deutschlands und auch in Dänemark erzählt und von Sammlern aufgezeichnet. Folgendes Beispiel aus Gräfrath im Bergischen Land (heute Stadtteil von Solingen) wurde von Otto Schell 1897 veröffentlicht[13]:

 

Die eingemauerten Nonnen.

Im Keller des Gräfrather Klosters erblickt man noch verschiedene zugemauerte Nischen. Wie die Sage geht, wurden dort Nonnen lebendig eingemauert, welche sträfliche Liebesverhältnisse unterhielten und ihr Herz nicht ausschließlich dem himmlischen Bräutigam zuwandten.

 

Bei dem dauerhafte Einschließen von lebenden Menschen hinter einer neu errichteten Mauer handelt sich um einen Spezialfall des lebendig begraben Werdens. Das Motiv wird in diesen Erzählungen mit einem Vergehen und der zugehörigen mittelalterlichen Strafe verbunden. Man erzählt, das Entweichen aus dem Kloster und das damit verbunde Brechen des Gelübdes sei früher nach den Klosterregeln mit der Einmauerung bestraft worden.

In der Kunst ist die Einmauerung ein verbreiteter literarischer Topos, der bereits in der Tragödie Antigone des antiken griechischen Dichters Sophokles verwendet wird. Kreon, König von Theben, verbietet die Bestattung Polyneikes, da dieser gegen die Stadt Krieg geführt hat. Antigone, Polyneikes' Schwester, übertritt das Verbot; zur Strafe lässt Kreon sie lebendig einmauern.

In vielen Ortssagen, die im 19. Jahrhundert aufgezeichnet wurden, ist das Motiv enthalten. Die englische Schauerliteratur des 18. Jahrhunderts greift das Motiv auf, und es findet sich häufig in der deutschen Unterhaltungsliteratur der Aufklärungszeit, so auch in Johann Martin Millers empfindsamem Roman „Siegwart. Eine Klostergeschichte“ (Erstdruck: Leipzig: Weygand 1776)[14], der nach Goethes „Werther“ zum größten Erfolgsroman jener Zeit wurde. Siegwart liebt Mariane, doch die Liebenden dürfen sich nicht verbinden. Mariane flüchtet in ein Kloster, um sich dem Einfluss der Eltern zu entziehen. Siegwart will sie mit ihrem Einverständnis entführen, wird aber von der listigen Äbtissin getäuscht, indem sie das Gerücht ausstreut, Mariane sei gestorben.

Theodor Storm muss diesen Roman in den 1840er Jahren gelesen haben, denn eine entsprechende Ausgabe stand in seiner Bibliothek.[15] In der kulturhistorischen Skizze „Von Heut‘ und ehedem“ (1873) beschreibt er eine Reihe von graphischen Blättern, die im Hause seines Großvaters als Wandschmuck hingen. Darunter befand sich „ein Blatt, dem gewiß keine gefühlvolle Seele vorbeiging, die je bei Miller's berühmtem Siegwart Trost in Tränen gefunden hatte. Von zwei grimmig blickenden Mönchen wird eine in spanischer Männertracht entflohene Nonne in ihr Kloster zurückgeführt; die in zierlichen Schleifenschuhen steckenden Füßchen schreiten wie in Todesangst; entsetzt unter dem breiten Federhut blicken die Augen aus dem Bilde heraus. ‒ »Und nun soll sie lebendig eingemauert werden!« So hatte oft das Großmütterchen ihren Freundinnen das Bild erklärt. »Seht nur, dort wird schon an dem Glockenstrang geläutet!«“ [16]

Storms Freund und Kollege Christian Ulrich Beccau veröffentlichte im Jahre 1854 in seiner „Geschichte Husums“[17] Bruchstücke von damals in der Stadt erzählten Schloss-Sagen:

 

Die Sage von einer eingemauerten Nonne in den Kellergewölben von dem alten Kloster her, welches nur Mönche zu Bewohnern hatte, entbehrt jeglichen Grundes, so wie ein menschliches Skelet, welches einmal in den Gewölben gefunden sein soll, wohl nicht mit dem Schlosse und dessen Bewohnern in Verbindung stehn kann und eher aus den Begräbnissen des eingegangenen Kirchhofs herstammt. Indeß hängt das Volk nun einmal gerne an große Baulichkeiten seine wunderbaren Mährchen und so wird denn hier erzählt, es führe von dem Schlosse aus der Zeit der Mönche noch ein unterirdischer gewölbter Gang unter dem jetzigen Rathause durch nach der Marienkirche, dessen sich diese zum Besuch des Gottesdienstes bedient.

 

Aus solchen Erzählungen, der Lektüre von Schauerromanen und dem gemeinsamen Erlebnis mit seinem Freund, dem Amtssekretär Hartmuth Brinkmann, hat Storm die Spukgeschichte „Das Thurmgemach“ konzipiert und ihr durch den geographischen Hinweis auf ein „Herrenhaus des Gutes A... auf Seeland“ den Anschein gegeben, es handele sich um eine in Dänemark erzählte Gespenstergeschichte.

Sie beginnt mit der Schilderung eines unheimlichen Erlebnisses zweier Mädchen, womit Spannung erzeugt wird. Es folgt die Wiederholung dieses Erlebnisses durch den Vater und damit eine Beglaubigung. Schließlich kommt es zur Steigerung, indem die Wand, hinter der die Gewährsträger etwas Unheimliches gehört haben, geöffnet wird und zwei beherzte Männer in das Gemäuer hineinsteigen. Den Schlusseffekt bilden der Schrei des einen Maurers und der Bericht der Männer von einem Skelettfund.

Storm hat offenbar im Gespräch mit Charlotte von Krogh die Motive der damals umlaufenden Sagen vom Schloss vor Husum mit seinen weitläufigen Lektüre-Früchten und mit den gemeinsamen Erlebnissen bei den Renovierungsarbeiten am Schlossturm verknüpft, dabei sein „Abenteuer“ bei der Erkundung des unterirdischen Ganges eingeflochten und alles zu einer stimmigen und spannenden Gespenstergeschichte ausgestaltet. Er camoufliert seine Autorschaft, indem er einer wirklichen Erzählerin den Text mit einem Hinweis auf ein anderes Schloss in den Mund legt, wo diese die erzählten Begebenheiten nur vom Hörensagen erfahren haben will. Damit reiht er seine Erzählung in die Dokumente des „Neuen Gespensterbuchs“ ein, mit denen er zeigen will, „dass Spukgeschichten zwar dem heimischen Ort verpflichtet sind, aber weltweit und zu allen Zeiten in Erscheinung treten und somit ein Stück Menschheitsgeschichte darstellen.“[18]

 

Spukgeschichten galten im Gegensatz zu den Sagen als unheimliche Erzählungen, in denen Gespenster oder ähnliche Wesen eine bestimmende Rolle spielen. Wenn die Erscheinung des schauerlichen Wesens sich nicht naturwissenschaftlich erklären ließ, ordnet man solche Texte der Phantastischen Literatur zu. Die Gespenstergeschichten erzeugen im Leser den unheimlichen Zweifel, ob das Geschehen sich im Nachhinein erklären lässt oder ob es auf etwas Übernatürliches verweist.

Auch das Material, das Storm an Müllenhoff weiterleitete, enthielt Spukgeschichten, die der Herausgeber aber nicht drucken wollte. Allerdings nahm er die kurze Erzählung „Das erröthende Bild“ in seine Sagen-Sammlung auf[19]. In Storms Manuskript lautet sie folgendermaßen[20]:

 

Der sogenannte Rittersaal des Husumer Schloßes, war noch in meinen Knabenjahren dicht behangen mit den Porträts alter Ritter und Damen, meist in Lebensgröße. Jetzt sind die Bilder nach Kopenhagen geschafft. Darunter aber war das Bild eines Ritters, der mußte erröthen, wenn mans ansah; wir machten uns als Knaben oft mit heimlichem Grauen dieß Vergnügen.

 

Bei dieser kleinen Erzählung handelt es sich nicht um eine Sage, sondern um die Beschreibung eines wirklichen Erlebnisses, dessen Authentizität durch die Erzählinstanz beglaubigt wird, und die nun als Gespenstergeschichte auf die Leser wirken soll.

Auch in der Erinnerung von Charlotte von Krogh spukte der Ritter weiter, denn in ihrem bereits erwähnten Brief an Pastor Nielsen vom 13. Januar 1902 schreibt sie über das Schloss vor Husum: „Unter den verbrannten Bildern war ein großer Ritter; von diesem Bild wird gesagt. dass der Mann ein großes Verbrechen verübt hatte und dass das Gesicht (das bleich war) errötete, wenn man es länger betrachtete.“[21]

 

Die Erzählung „Das Thurmgemach“ im Konvolut „Neues Gespensterbuch“ erfüllt die gleichen Bedingungen, wie „Das erröthende Bild“, bei dem es sich um eine Spukgeschichte handelt, die auf unmittelbare Erlebnisse eines der Erzähler zurückgeht.

Als Karl Ernst Laage das „Neue Gespensterbuch“ in Buchform veröffentlichte, dokumentierte er Storms Hinweis im Inhaltsverzeichnis, in dem 37 der insgesamt 69 Texte durch ein Kreuz markiert sind: „Die mit x bezeichneten Nummern finden sich, hier zum ersten Mal nach mündlicher Ueberlieferung aufgezeichnet, bis auf wenige nach der Erzählung glaubwürdiger Augenzeugen.“ Trotz dieser Andeutung Storms wurden sämtliche Texte des „Neuen Gespensterbuchs“ von der Stormforschung als „kunstlose“ „Gespenstergeschichten, wie sie im Volke erzählt werden“[22] bezeichnet; man folgte damit Storms Intention, der durch die Angabe von Quellen auf Personen verwies, die wirkliche Ereignisse oder Erlebnisse glaubwürdig dokumentiert hätten. Genau um diese Glaubwürdigkeit ging es in der umfangreichen Gespenster-Literatur des beginnenden 19. Jahrhunderts, in der die Frage diskutiert wurde, ob Übersinnliches in die normale Erfahrungswelt hineinwirken kann und wie die Zuhörer darauf reagieren.[23]

Während Storm aus verschiedenen gedruckten Quellen Gespenstergeschichten herausschrieb, setzte er sich mit der im Jahre 1808 erschienenen Schrift „Theorie der Geisterkunde“ von Jung-Stilling auseinander.[24] In ihr beschreibt der Augenarzt, Wirtschaftswissenschaftler, Schriftsteller und Publizist Johann Heinrich Jung, genannt Jung-Stilling, (1740-1817) den Menschen als duales Wesen. Jung begreift Leib und Seele als zwei zwar aufeinander bezogene, aber gegensätzliche Substanzen. Der Körper unterliegt wie der ganze Kosmos der Naturkausalität. Die Seele ist ein unkörperliches, auch unabhängig vom Körper bestandsfähiges, unvergängliches, einheitliches Wesen. Er erkennt die naturwissenschaftlich Beschreibung der Gesetze an, weist aber darauf hin, dass sie nur für den Bereich gelten, von dem wir durch unsere Sinne Kenntnis haben, dass es sich also nur um Vorstellungsformen handelt.

Neben der materiellen Welt postuliert er eine Geisterwelt, in der Freiheit möglich ist. In sie geht die menschliche Seele nach dem Tode ein; in ihr regiert Gott, der als Schöpfer vorgestellt wird, und der in seine Schöpfung teleologisch eingreift. Neben den Seelen postuliert Jung-Stilling Engel, gute und böse Geister und entwickelt eine komplexe Ethik, die sich an der christlichen Tradition mit der Sünden- und Erlösungslehre orientiert.

 

Das mechanisch-philosophische System behauptet, daß das ganze Weltall, nach ewigen und unveränderlichen Gesetzen so wie ein Uhrwerk regiert werde, daß also die Freiheit des Willens bloße Einbildung und leere Täuscheng sey. Ich habe aber nun im vorhergehenden bewiesen, daß die ewigen und unveränderlichehn Naturgesetze blos Vorstellungen sind, die sich auf Raum und Zeit gründen, da nun diese bloße Denkformen sind, so sinds auch jene; […]. Gott regiert die Welt, durch alle Classen vernünftiger, und freyhandelnder Wesen; sein Geist lenkt den Willen eines jeden Geistes durch Vorstellung des Zweckmäsigen; er giebt ihnen alle Gesetze, die ihr ewiges Glück und Genuß der Seeligkeit begründen, aber er läst ihnen die freye Wahl zu folgen oder nicht.

(Geister-Kunde, S. 39)

 

Die aus der Kant’schen Philosophie entnommene Methode der Kritik im Sinne einer Überprüfung des Grundes, indem ein begrenzter Erfahrungsbereich abgeschritten wird, wendet er auf unerklärliche Phänomene menschlicher Erfahrung an. Für diese Äußerungen wurde Jung-Stilling vor allem aus theologischer Perspektive heftig kritisiert.

Der Zweck seiner Geisterkunde besteht darin, Geister-Erscheinungen natürlich zu erklären. Jung-Stilling referierte Beobachtungen und Erfahrungen, die er zumeist der Literatur des zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert entnommen hat, und erklärte sie mit Hilfe der Prinzipien, mit denen er sein Geisterreich beschrieb. Dabei setzte er sich sowohl mit der protestantischen als auch mit der katholischen Lehre auseinander.

Die von Jung-Stilling angestoßene Diskussion wurde in den 1820er und 1830er Jahren fortgesetzt. Noch 1835 erschien eine Beispielsammlung, die im Untertitel eine „Sammlung merkwürdiger Ahnungen und Träume; mit sehr interessanten Beispielen des Fernsehens und des zweiten Gesichts, und mit Erscheinungen des Magnetismus und der Geisterwelt“ verspricht[25], und die von mehreren Rezensenten kritisch wahrgenommen wurde.[26]

Auch Theodor Storm scheint Anfang der1840er Jahre noch an die Möglichkeit zu glauben, dass aus einer anderen Welt, die im Grunde mit der übereinstimmt, die Jung-Stilling als „Geister-Welt“ bezeichnet, etwas in unsere Erfahrungswelt eindringen kann. Mit seinem „Neuen Gespensterbuch“ wollte er Berichte von Ereignissen vorlegen, die ihm besonders glaubwürdig erschienen. Dafür gibt es in den Gespenstergeschichten eine Reihe von Belegen. So beginnt der Text „Die nächtliche Unruhe“ mit folgender Einleitung: „Daß der Inhalt der nachstehenden Erzählung wörtlich wahr ist, kann ich um so mehr verbürgen, als auch ich Einer der Zeugen der nächtlichen Unruhe gewesen bin.“[27]

Als Storm zwei Jahrzehnte später das Konvolut von Gespenstergeschichten wieder hervorholte, verarbeitete er mehrere der alten Aufzeichnungen als Beispiele in seinem Erzählkomplex „Am Kamin“.[28] In einer dieser Erzählungen, die von einem Gespensterbesen berichtet, hört ein Handwerksgeselle zunächst das Geräusch eines Besens, später sieht er von außen eine Gestalt hinter dem Fenster der Stube hocken: „ein Ding, ungestaltig und molkig, und guckte durch die Scheiben in den Garten hinab.“[29] Auf den Einwand, die Erzählung habe keine Pointe, erklärt der Erzähler: „Aber ein Teil dieser Geschichten tritt eben mit dem Reiz des Rätsels an uns heran, und drängt uns, den Dingen nachzuspüren, die, wenn gleich selber längst vergangen, noch solche Schatten aus dem leeren Raume fallen lassen.“

Neben dem „Gespensterbesen“ hat Storm noch zwei weitere Spukgeschichten für seine „Kamin“-Erzählung poetisiert: „Die verhängnisvolle Stelle“ und „Der Tod der Mutter“[30]. Beide Geschichten unterscheiden sich von ihren Vorlagen durch anschaulichere Beschreibungen der örtlichen Verhältnisse und durch die Schilderung der Umstände, die zu den berichteten Ereignissen geführt haben. Durch die Einbettung in den Dialog der Gesellschaft, in der die „Kamin“-Geschichten erzählt werden, verstärkt Storm die unheimliche Wirkung auf seine Leser.

Alain Cosic legt eine detaillierten Vergleich der Spukgeschichte vom „Gespensterbesen“ und seiner Quelle in Storms „Neues Gespensterbuch“[31] vor und fasst seine Ergebnisse folgendermaßen zusammen[32]: „In der Welt des Stormschen Gesellen bedeutet der Spuk tatsächlich den Einbruch einer ‚anderen‘ Realität, die unerklärt bleibt und allem Anschein nach unerklärbar ist, die schließlich furchterregend – also unheimlich – ist, obwohl die Erscheinung nicht unmittelbar aggressiv ist. Wir haben es mit der Gegenüberstellung von zwei Sphären zu tun: Die eine repräsentiert das gewöhnliche, mit den üblichen Wertvorstellungen und Kriterien der Vernunft erfaßbare Leben, die andere, indem sie mit der ersteren kollidiert, gefährdet sie. Das Phantastische bei Storm – das Phantastische überhaupt? – kann als Transgression des Alltäglichen bezeichnet werden.“

Während Storm 1862 noch der Ansicht war, dass die Spukgeschichten „nicht zu meinen gesammten Werken zählen sollen“[33], hatte er seine Meinung geändert, nachdem sein Verleger George Westermann ihm im Oktober 1869 mitteilte, er hoffe, bei Storms Gesamtausgabe „im Frühjahr zu einer zweiten Auflage schreiten“ zu können.[34] Westermann wollte neue Novellen an die bisherigen Werke anschließen und brachte seinen Autor damit in Verlegenheit. Da erinnerte er sich daran, „daß ich vor 8-10 Jahren in der Victoria-Zeitung eine kleine wirklich hübsche Arbeit abdrucken ließ“ und bat seinen Sohn Ernst, der zu dieser Zeit in Kiel studierte, nach dem Zeitschriftenabdruck zu suchen.[35]

Nun charakterisierte er die Komposition seiner Spukgeschichten ganz anders, indem er seinem Sohn erklärte:

 

Ich meine „Am Kamin“ eine Reihe trefflicher und sehr sorgfältig in meiner Art (besser als Göthe die seinigen in den Gesprächen Deutsch‹er› Auswandrer erzählt) erzählter Geschichten. Da der Rahmen, der das Ganze umgiebt, so viel ich mich entsinne, in heiterster Weise unser derzeitiges Zusammenleben abspiegelt, so ist das zugleich eine Art biographischen Beitrags.

 

Diese positive Charakterisierung lässt sich auch auf die Spukgeschichte vom Thurmgemach übertragen, die allerdings keinen Platz in „Am Kamin“ fand.

Da Storm aber falsche Jahreszahlen nannte, fand Ernst den Abdruck von „Am Kamin“ nicht. Dabei plante Storm „auch ein Separatausgäblein davon erscheinen lassen“, wofür er den Schleswiger Verleger Hermann Heiberg gewonnen hatte. Im Brief an Ernst heißt es dazu:

 

ich hab schon ein zierlich Vorwort dazu geschrieben. Darin heißt es unter andern gegen „eine moderne Kritik (Jul‹ian› Schmidt) die ohne viel Federlesens diese Geschichten unter der Rubrik ‚materiellen Grauens‘ aus der Poesie hinausgewiesen.“

 

In seinem verschollenen Vorwort hat sich Storm offenbar mit der Kritik auseinandergesetzt, die der Literaturhistoriker Julian Schmidt in seiner „Geschichte der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert“ an Tendenzen der Spätromantik übt.

Schmidt fordert in einer polemischen Auseinandersetzung mit den literarischen Übergangsformen der Restaurationszeit, in den Dichtungsformen, „die sich sowohl durch ihren Gegenstand als ihrem Stil der Nachahmung der Wirklichkeit nähern“, das Wunderbare kategorisch auszuschließen. Im Abschluss an Hoffmanns Spukgeschichten schreibt er[36]:

 

Seitdem haben uns seine Nachfolger in Deutschland und Frankreich so mit Nachtwandlern, Vampyren und dergl. überschüttet, daß man sich keinen Augenblick sicher fühlt, aus irgend einer dunklen Ecke eines dieser unheimlichen Geschöpfe hervortreten zu sehen. Es ist das eine sehr ungesunde Poesie, weil sie das Geistige ganz in Materialismus erstickt, und man kann sie zuletzt handwerksmäßig betreiben, indem man die gegebenen Elemente des Grauens willkürlich combiniert. Am deutlichsten zeigt sich die Geistlosigkeit dieses Treibens, wenn sich der Dichter bemüht, philosophische Reflexionen an seine phantastischen Einfälle zu knüpfen, wenn er von dem doppelten Princip des Lebens spricht und die überirdische Welt analysirt. Es ist das leerste Gefasel und die unbegreiflichste Trivialität.

 

Diesen Angriff auf eine poetische Tradition und auf eine Erzähltechnik, wie sie Storm in den Jahren um 1860 gerade erprobte, müssen den Dichter tief getroffen haben. Sind es doch gerade die Streitgespräche der Erzählinstanzen in „Am Kamin“, die sich deutlich von solchen Reflexionen unterscheiden, gegen die Julian Schmidt polemisiert hatte.[37]

Der Schweizer Literaturwissenschaftler Philipp Theisohn merkt dazu an[38]: „Vergleichen wir Storms Herangehensweise an die Spukgeschichte mit deren romantischer Ausprägung, wie sie uns paradigmatisch in Hoffmanns Nachtstücken (1816/17) begegnet, dann wird uns schnell bewusst, dass es Storm beim Spuk gerade nicht um die ‚Phänomene‘ geht. Er will eigentlich nichts erklären, es ist ihm nicht um naturwissenschaftliche oder parawissenschaftliche Spekulation zu tun. Stattdessen wird hier zum Gegenstand der Diskussion, ob dem Kursieren dieser Geschichten überhaupt noch eine Bedeutung zukommen kann, und, wenn ja, worin diese Bedeutung liegen könnte. Die ‚Modernität‘ dieses Erzählens (und das, was es vom frühen 19. Jahrhundert trennt) liegt im Hinterfragen seiner Sinnhaftigkeit, im Zweifel daran, ob sich in ihm ein Wissen ausbreitet, das irgendeinen Wert für das Publikum besitzt.“

Vielleicht ging es Storm damals aber doch um die beschriebenen Phänomene. Denn nach einem einem Besuch bei Ernst Storm in Toftlund, wo Vater und Sohn sich Gespenstergeschichten erzählt und über das sogenannt zweite Gesicht gesprochen haben, also über die Gabe, Zukünftiges vorauszusehen, äußerte sich der Dichter im Sommer 1882 gegenüber Gottfried Keller[39]

 

Ich stehe diesen Dingen im einzelnen Falle zwar zweifelnd oder gar ungläubig, im allgemeinen dagegen sehr anheimstellend gegenüber; nicht daß ich Un- oder Übernatürliches glaubte, wohl aber, daß das Natürliche, was nicht unter die alltäglichen Wahrnehmungen fällt, bei weitem noch nicht erkannt ist.

 

Holger Borzikowsky hat nachgewiesen, dass es für die Gespenstererscheinungen im Schloss vor Husum rationale Erklärungen gibt[40].

 

Was Storm nicht deuten konnte, fand seine Erklärung im Jahre 1976. Bei bauarchäologischen Untersuchungen wurde das Schacht- und Gangsystem wiedergefunden. Es wurde erkennbar, dass es mit sogenannten „Privets“ oder „Retraits“ in Verbindung gestanden hatte, also Abtritten, die sich ebenfalls im Mauerwerk befanden. Diese werden übrigens noch in Schlossinventaren des 18. Jahrhunderts genannt. Das System stand mit dem Schlossgraben in Verbindung und wurde durch ihn geflutet. Man glaubte in den 1970er-Jahren, den Hintergrund der Sage von den Gängen im Erdreich um das Schloss, die aufgrund entsprechender unerklärlicher Bodenfunde schon vor der Generation von Beccau und Storm bestanden haben mag, aufgedeckt zu haben, aber die Sage erweist sich als sehr lebenskräftig und beständig ...

 

Und er berichtet von Skelettfunden auf dem einstigen Friedhof des Minoritenklosters im südwestlichen Schlossareal. Diese bestätigen, was Christian Ulrich Beccau schon im Jahre 1845 überlieferte, dass nämlich auch ein früherer Skelettfund „aus den Begräbnissen des eingegangenen Kirchhofs herstammt.“

 

Die Spukgeschichte „Das Thurmgemach“ in Storms Handschrift (Ausschnitt). Storm-Archiv, Husum.

 

Anmerkungen


 

[1] Grimm’sches Wörterbuch, Stichwort „Sage“.

[2] Neues Gespensterbuch. Beiträge zur Geschichte des Spucks. Storm-Archiv, Husum; 74 Blätter verschiedener Formate (Folio 21:33 cm und Halbfolio 21:16,5 cm), unterschiedliches Papier, teilweise beidseitig beschrieben; Blatt 1: Titel, Blatt 2 (beidseitig beschrieben) Register mit 69 Titeln, im Archiv nummeriert ab Blatt 3: Blattnummern 1-136.

[3] Theodor Storms Neues Gespensterbuch. Beiträge zur Geschichte des Spuks. Hrsg. von Karl Ernst Laage. Heide 2011, S. 99f, 104f. und 119f. Unter der Überschrift der Erzählung „Das Gesicht des Nachtwächters“ lese ich in Storms Manuskript „erzählt von Frl. Ch. Sof.“, das meint Charlotte Sophie von Krogh.

[4] Vergl. Dörte Nicolaisen: Von Husum nach Hadersleben. Die Malerin Charlotte von Krogh (1827-1913). Fra Husum til Haderslev. Malerinden Charlotte von Krogh (1827-1913). Ausstellungskatalog. Museum Sønderjylland – Arkæologie Haderslev, Museumsverband Nordfriesland, Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek, Kiel 2007.

[5] Theodor Storm – Constanze Esmarch. Briefwechsel. Hrsg. von Regina Fasold. 2 Bde, Berlin 2002, Bd. 1, S. 346. Vergl. Karl Ernst Laage: Theodor Storm und das Schloß vor Husum. In: Nordelbingen. Beiträge zur Kunst- und Kulturgeschichte Schleswig-Holsteins. Bd. 75, Heide 2006, S. 191-201.

[6] Vergl. Theodor Storm: Anekdoten, Märchen, Sagen, Sprichwörter und Reime aus Schleswig-Holstein. Texte, Entstehungsgeschichte, Quellen. Hrsg. von Gerd Eversberg. Heide 2005.

[7] Theodor Storm an Theodor Mommsen, Brief vom 1. März 1844 (Archiv der Humboldt-Universität, Berlin; Müllenhoff-Nachlass): „Sind nicht unter den Manuscripten, die ich Ihnen gesandt, Gespenstergeschichten, und wenn, wollen Sie mir die nicht mit nächster Fahrpost senden?“

[8] Hermann Bausinger: Vorliterarische Formen. In: Fischer Lexikon Literatur, hg. von Ulfert Ricklefs, Frankfurt am Main 1996.

[9] Anfang der 1860er Jahre schrieb Charlotte von Krogh (sie war Malerin geworden) an Theodor Storm: „Erinnern Sie noch, als wir im sogenannten Kl<einen> Schloßgarten über den Plan sprachen ein Buch „Theolot“, mit lauter Spuckgeschichten zu schreiben? Sie werden an meinem Briefstyl erkennen, daß ich klüger gethan habe, den Pinsel zu ergreifen – und Ihnen die Feder zu überlassen!“ Unveröffentlichter Brief, Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek, Kiel; zitiert nach Dörte Nicolaisen: Von Husum nach Hadersleben (wie Anm. 4), S. 24.

[10] Theodor Storm – Constanze Esmarch, Bd. 2, S. 348.

[11] Landesarchiv Schleswig, Abt. 32, Nr. 1; zit. nach Konrad Grunsky (Hrsg.): Schloß vor Husum. Husum 1990, S. 164.

[12] Brief vom13. Januar 1902, aus dem dänischen Original (Dansk Centralbibliotek for Sydslesvig, Flensburg) übersetzt von Almut und Jens Faaborg, Haderslev. Vergl. auch den Ausstellungskatalog: Die Malerin Charlotte von Krogh (wie Anm. 4). Frau Dr. Nicolaisen, die mir diese Übersetzung zur Verfügung gestellt hat, danke ich für wertvolle Hinweise auf diesen Lebensabschnitt Storms und für ihren kritischen Anmerkungen. Der Briefausschnitt wird auch zitiert in: Holger Borzikowsky: Im Schloss vor Husum. Sinnbild, Sage und Spuk. Husum 2009, S. 86. Dort finden sich weitere Hinweise auf Spukerzählungen im Umkreis des Schlosses von Husum, die ich für diesen Aufsatz dankbar verwendet habe.

[13] Bergische Sagen. Gesammelt und mit Anmerkungen herausgegeben von Otto Schell 1897. Neudruck: Remscheid 1978, S. 126.

[14] Johann Martin Miller: Siegwart. Leipzig 1776. Storm ließ sich 1877 von Erich Schmidt eine von Daniel Chodowiecki illustrierte Ausgabe besorgen. Über Millers Roman äußerte er sich anerkennend in einem Brief vom 9. Oktober 1879: „Übrigens ‒ man spricht immer nur von dem thränenreichen Siegwart; aber es sind auch Partien darin, die an grober antisentimentaler Objectivität nichts zu wünschen lassen ‒ so Siegwarts Besuch bei dem Edelmann ‒, wenn sie auch freilich wohl nur zur Gegenüberstellung dienen sollen.“ Theodor Storm – Erich Schmidt. Briefwechsel. Hrsg. von Karl Ernst Laage. 2 Bde. Berlin 1972 und 1976; Bd 1, S. 119.

[15] Siegwart, eine Klostergeschichte. Lieblingsbibliothek aus der Zeit des Siegwart, Hasper a Spada, Rinaldo etc. Sammlung der beliebtesten Räuber-, Ritter-, Geister-, Kloster-, Liebes- und anderer Romane, Sagen und Geschichten jener Periode. Für alte und junge Freunde derselben herausgegeben durch Otto von Friedheim. 3 Theile. Stuttgart 1844.

[16] Von Heut’ und ehedem (Zerstreute Kapitel); in: Theodor Storm, Sämtliche Werke, hrsg. von Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier, 4 Bde, Frankfurt am Main 1987/88. – Bd. 4, S. 199.

[17] Versuch einer urkundlichen Darstellung der Geschichte Husums bis zur Ertheilung des Stadtrechtes; von Christian Ulrich Beccau. Schleswig 1854, S. 213.

[18] Karl Ernst Laage in Theodor Storms Neues Gespensterbuch. Beiträge zur Geschichte des Spuks, S. 156.

[19] Karl Müllenhoff (Hg.): Sagen, Märchen und Lieder, S. 547.

[20] In Storms Sammel-Handschrift „Meine Gedichte“ (Storm-Archiv, Husum), S. 108. Storm hat das Motiv des errötenden Bildes später in seiner Novelle „Im Schloss“ (1862) verwendet.

[21] Brief an Pastor Nicolai C. Nielsen (wie Anm. 12), vergl. auch den Ausstellungskatalog: Die Malerin Charlotte von Krogh (wie Anm. 4).

[22] Karl Ernst Laage, Neues Gespensterbuch 2011, S. 171.

[23] Vergleiche meinen Beitrag „Das Nummerträumen“. Eine unbekannte Erzählung Theodor Storms und ihre Bedeutung für das Verständnis seiner Spukgeschichten. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 64 (2015), S. NN.

[24] Theorie der Geister-Kunde, in einer Natur- Vernunft- und Bibelmäsigen Beantwortung der Frage: Was von Ahnungen, Gesichten und Geistererscheinungen geglaubt und nicht geglaubt werden müße. Von Dr. Johann Heinrich Jung genannt Stilling. Nürnberg im Verlag der Rawꞌschen Buchhandlung 1808.

[25] Der Zusammenhang der Seele mit der Geisterwelt. Von Professor W. Stilling. Ludwigsburg 1834.

[26] So heißt es z.B. im Repertorium der gesammten deutschen Literatur. Hg. von E. G. Gersdorf, Leipzig 1834, S. 534: „Die Einleitung und der Schluss bemühen sich, aus den geheimnissvollen , mystischen, nicht abzuleugnenden, aber auch nicht hinlänglich verbürgten Erscheinungen des Seelenlebens Ueberzeugungsgründe für den ‚Zusammenhang der Seele mit der Geisterwelt‘, namentlich für die Unsterblichkeit abzuleiten. Den Hauptinhalt bilden aber dergleichen Beispiele selbst, welche hier in ziemlich bunter Auswahl zusammengestellt sind. Erscheinungen, Geistersehereien, Träume, besonders vorbedeutende, magnetisches Fern-Sehen und Wirken, Todesahnungen, zweites Gesicht (23 Beispiele) u.s.w., erhalten hier ihre Belege. Nur selten sind die Quellen, aus welchen der Vf. geschöpft hat, angegeben; Einiges mag wohl auch Glauben verdienen; Anderes aber ist höchst zweifelhaft, […]. Wer also dieses Buch auch nur als Materialsammlung benutzen will, wird Vorsicht anwenden müssen.“

[27] Karl Ernst Laage, Neues Gespensterbuch 2011, S. 85.

[28] „Am Kamin“ erschien in: Victoria. Illustrirte Muster- und Moden-Zeitung, Berlin 12. Jahrgang, Nummer 6 und 8 vom 8. und 22. Februar 1862.

[29] Theodor Storm: Am Kamin. In: Theodor Storm, Sämtliche Werke, hrsg. von Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier, 4 Bde, Frankfurt am Main 1987/88. – Bd. 4, S. 59.

[30] Die Vorlagen bei Karl Ernst Laage, Neues Gespensterbuch 2011, S. 29f. und S. 118.

[31] Die Vorlage Karl Ernst Laage, Neues Gespensterbuch 2011, S. 83f.

[32] Alain Cozic: „Der Gespensterbesen“: Von der Quelle zur „Kamin“-Geschichte. Zu Storms Auffassung vom Phantastischen. In: Stormlektüren. Festschrift für Karl Ernst Laage zum 80. Geburtstag. Hrsg. v. Gerd Eversberg, David Jackson und. Eckart Pastor. Würzburg 2000, S. 313-323; hier S. 322.

[33] Theodor Storm an Hartmuth und Laura Brinkmann, Anfang März 1862. Theodor Storm – Hartmuth und Laura Brinkmann. Briefwechsel. Hrsg. von August Stahl. Berlin 1986, S. 115.

[34] George Westermann an Theodor Storm, Braunschweig, Donnerstag, 14. Oktober 1869. Verlagsarchiv Westermann.

[35] Theodor Storm an seine Sohn Ernst, Husum, 17. Januar 1870. Theodor Storm – Ernst Storm. Briefwechsel. Hrsg. von David Jackson. Berlin 2007, S. 52.

[36] Julian Schmidt: Geschichte der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert. Dritter Band, zweite Auflage, Leipzig 1855, S. 380f.

[37] Karl Friedrich Boll hat bereits im Jahre 1960 auf die Bedeutung hingewiesen, die das Unheimliche und Spukerscheinungen für Storms Leben und seine Novellistik besaßen, und diese mit modernen parawissenschaftlichen Forschungen verglichen. Vergl. Ahnungen und Gesichte bei Theodor Storm. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 9 (1960), S. 9-23.

[38] Philipp Theisohn: Spörenkieken. Storm und das Wissen der Geister. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 63 (2014), S. 23-39; hier S. 31.

[39] Theodor Storm – Gottfried Keller. Briefwechsel. Hrsg. von Karl Ernst Laage. Berlin 1992, S. 92.

[40] Holger Borzikowsky: Im Schloss vor Husum, S. 85 mit dem Hinweis auf drei Artikel in den Husumer Nachrichten vom 5.8.1958, vom 17.7.1976 und vom 21.4.1978.