„Die Droste-Hülshof ist von allen dichtenden Frauen die respektabelste poetische Kraft“
Theodor Storm liest Annette von Droste-Hülshoffs Gedichte

 

Die Droste-Hülshof (so!) ist für mich von allen dichtenden Frauen die respektabelste poetische Kraft. Freilich, es fehlt auch hier die letzte Vollendung; aber der poetische „Instinkt“ ist enorm, und doch auch vieles trefflich durchgeführt.[1]

 

So äußerte sich der 52jährige Theodor Storm (1817-1888) in einem Brief an die zwei Jahrzehnte jüngere österreichische Schriftstellerin Ada Christen[2], von der er den Lyrikband Lieder einer Verlorenen[3] besaß. Da Storm von einigen ihrer Gedichte fasziniert war, in denen sie aus eigenem schmerzlichen Erleben mit erotischem Freimut eine sozialer Anklage an die Adresse des Bürgertums formuliert, bat er sie Anfang September 1869 um die Genehmigung, einige ihrer Gedichte in seine geplante Anthologie Hausbuch aus deutschen Dichtern aufnehmen zu dürfen.

Storms Vermutung, dass die Gedichte der jungen Frau mit „Herzblut“ und nicht aus bloßer Fantasie geschrieben waren, bestätigte die Lebensskizze, die sie ihm zugesandt hatte und in der die Tochter des Wiener Großkaufmanns Johann Friederik über das Schicksal der Familie berichtete.[4]

In seinem Dankbrief schrieb Storm am 21. Oktober 1869:

 

In Ihren Gedichten ist […] der Schrei der Verzweiflung, der bittere Trotz einer idealeren Natur, die Verhängnis und jugendliche Schuld in den Schlamm geworfen; in dieser Lebensskizze ist auch die sittliche Erhebung, die den Schlamm von den Flügeln schüttelt. […] In Ihren Liedern habe ich trotz der Reminiszenzen aus Heine auch eine solche kleine Zahl gefunden, die ihren eignen Ton haben und wenig zu wünschen übrig lassen. Wahrscheinlich wird nur die Droste-Hülshof außer Ihnen von den weiblichen Dichtern in meinem Buch vertreten sein, obgleich ich sie alle kenne.[5]

 

Dass Storm Gedichte dieser bürgerlichen Autorin, deren familiärer Hintergrund durch die gesellschaftlichen Konflikte der Revolutionszeit zerbrochen war, mit denen der Droste auf eine Stufe stellt, mag zunächst verwundern. Denn die Tochter adeliger Herkunft aus dem Münsterland konnte beim Schreiben auf einen ganz anderen gesellschaftlichen Hintergrund zurückgreifen als das Opfer der österreichischen Reaktion. Erst ein genauerer Blick auf die Metapher vom „Herzblut“ kann zeigen, welches Lyrikkonzept Storm bei seinem Vergleich zugrunde gelegt hat. Was Storm in diesem Zusammenhang mit „poetischem Instinkt“ meint, ist mehr als eine bloße Subjektivität, die es dem Dichter ermöglicht, im Prozess der Nachahmung lyrischer Muster zu einem eigenen Ton zu finden. Eine weitere Voraussetzung für den wirklichen Poeten stellt für Storm nämlich die Fähigkeit dar, nicht nur aus bloßer Fantasie zu schreiben, sondern vom Leben unmittelbar sinnlich berührt zu werden. Und in einer solchen Unmittelbarkeit des Erlebens treffen sich in seiner Wahrnehmung von Poesie die von so ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedingungen geprägten Dichterinnen der Biedermeier- und der Revolutionszeit.

 

Storm hat erst seit Mitte der 1850er Jahre eine Lyriktheorie entwickelt, in der er die für ihn bedeutsamen Gedichte explizit von der „Phrase“ abgrenzte und damit das während seiner Schulzeit eingeübte Regelsystem der Rhetorik überwand.[6] Nachdem er sich in den Jahren um 1840 intensiv mit Heinrich Heine auseinander gesetzt hatte, löste sich seine Lyrik von den traditionellen Themen und Formen des späten Rokoko, an denen er sich in seiner Schul- und Studienzeit orientiert hatte[7] und folgte einem eigenen Konzept, dem Idealtypus des rein lyrischen Gedichts, das phrasenhaft-rhetorische Reflexionen vermeidet und ohne didaktischen Anspruch auf die Unmittelbarkeit sensueller Präsenz setzt.[8] In einigen der kurzen Naturgedichte, so in den „Ritornellen“, die Anfang 1843 in einem poetischen Dialog mit seinem Studienfreund Theodor Mommsen entstanden sind, vollzieht sich ein grundlegender Wandel in der Darstellung der Naturwahrnehmung, und Storm findet zu einer eigenständigen neuen lyrischen Ausdrucksform.

Storms bevorzugte bei seinen Gedichten die liedhafte Form; Natur, Liebe und Tod blieben die beherrschenden Themen; den Höhepunkt seiner lyrischen Produktion erreichte er um 1850, danach entstanden nur noch wenige bedeutende Gedichte. Später rückte die Novellistik in den Mittelpunkt seines Schaffens, denn in der Erzählkunst entwickelte er in den Potsdamer Jahren zwischen 1853 und 1856 eine große Meisterschaft. Und nach seiner Rückkehr aus dem preußischen Exil fand er die Kraft, mehr als zwanzig Jahre auf gleichbleibendem Niveau Jahr für Jahr ein bis zwei Novellen zu schreiben. Auf dieser Erzählkunst gründet sein Ruhm; dennoch fühlte Storm sich zeitlebens vor allem als Lyriker. Am Konzept des autonomen Kunstwerks hielt er fest; neben seinen späten Novellen, die von einem resignativen Grundzug der Vergänglichkeit geprägt sind, schrieb er einige Todesgedichte von ergreifender Intensität und von lakonischer Schlichtheit. Storm ordnete seine besten Gedichte in die Tradition von Claudius, Goethe, Heine, Uhland und Eichendorff ein und hielt sich für den letzten bedeutenden Lyriker nach Mörike.

 

Als Herausgeber von Lyrik-Anthologien hat Storm heftige Kritik an der Flut von sprachlichen Ergüssen geübt, die nach 1850 die populären Publikationsmedien überschwemmten; von dieser Massenproduktion grenzte er in allen seinen theoretischen Äußerungen zur Lyrik solche Gedichte ab, in denen er die Darstellung von etwas Allgemeinem im Besonderen zu erkennen glaubte. Er unterschied sie von solchen Texten, in denen man auch das Sensuelle der Poesie dem Intellekt unterwerfen wollte. Im Unterschied zur Lyrik des von ihm sehr verehrten Eduard Mörike (1804-1875), dessen zumeist elegische Gedichte der 1840er Jahre noch ganz der Tradition der Erlebnislyrik der Goethezeit verpflichtet sind und die häufig von einer Selbstvergewisserung des lyrischen Ichs bestimmt werden, versuchte Storm, seine eigene Lyrikkonzeption durch das Modell einer „reinen“ Lyrik zu legitimieren. Er stellte sein Werk dabei bewusst in einen aktuellen Zusammenhang mit der Theorie des poetischen Realismus und grenzte seine Poesie deutlich vom traditionellen System der Rhetorik ab, indem er Allegorisches und Tendenziöses vermied, außer in den wenigen Beispielen seiner politischen Lyrik und in seinen Balladen.

 

Im Vorwort zu der Anthologie Hausbuch aus Deutschen Dichtern seit Claudius, die Storm 1870 auf dem Markt brachte, heißt es:[9]

 

Von einem Kunstwerk will ich, wie vom Leben, unmittelbar und nicht erst durch die Vermittlung des Denkens berührt werden; am vollendetsten erscheint mir daher das Gedicht, dessen Wirkung zunächst eine sinnliche ist, aus der sich dann die geistige von selbst ergibt, wie aus der Blüte die Frucht.

 

In dieser Zeit sah Storm nicht nur seine eigenen Gedichte kritisch durch, sondern sichtete die deutsche Lyrik seit Matthias Claudius daraufhin, was davon überzeitliche Gültigkeit beanspruchen kann. Die erste Lektüre der Gedichte der Droste lag nun schon dreißig Jahre zurück. Sie fiel in einen Lebensabschnitt, in dem sich der junge Storm nach Abschluss seines Studiums in seiner Heimatstadt Husum als Rechtsanwalt niedergelassen hatte und parallel zu seinem „Brotberuf“ eine eigenständige lyrische Sprache entwickelte. Storms poetische Versuche sind immer in der Auseinandersetzung mit seinen Vorbildern und später auch in Konkurrenz zur zeitgenössischen Lyrikproduktion entstanden. In Storms Lyrikrezeption trat Mitte der 1840er Jahre neben Heine und Mörike auch die Droste mit ihrer Naturdichtung hinzu. Eine Auseinandersetzung mit ihren Gedichten können wir seit 1844 annehmen; in Storms Bibliothek stand ihr im selben Jahr veröffentlichte Lyrikband.[10]

Jochen Grywatsch stellt die Bedingungen, unter denen sich die literarische Sozialisation der Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848) vollzog, folgendermaßen dar: „Historisch gesehen, lebte Droste in einer Zeit des Übergangs, im Spannungsfeld zwischen Revolution und Restauration, Biedermeier und Vormärz, als Brüche, Einschnitte und Neuordnungen die Signatur einer Epoche tiefgreifender politischer, territorialer und gesellschaftlicher Veränderungen bestimmten. Die Lebenswelt der Droste war entscheidend von diesen Veränderungen geprägt.“ Ihre „Zeitbilder“ sind dem restaurativen Denken der Metternich-Ära verpflichtet; die Autorin spricht aber in einer modernen, äußerst komplexen Sprache von traditionellen moralischen und religiösen Werten, die sie gegen den zeitgenössischen Wandel verteidigen will. Gedichte, in denen etwas von jenem enormen poetischen „Instinkt“ spürbar wird, den Storm ihrem Werk konstatiert, fand er in den „Haidebildern“ und vor allem in der Gruppe der Naturgedichte, die mit „Fels, Wald und See“ überschrieben sind. In ihnen nimmt die Droste „das Doppelbödige in den Blick, die Bedrohung der Idylle, die immanente Zersetzung. Dabei verschwimmt das Ich, wie es z. B. die Gedichte Im Grase und Im Moose eindrucksvoll gestalten, mit den Grenzen der Wirklichkeit.“ [11]

Bernd Kortländer beschreibt diesen „wirklich spannende(n) Teil der Droste-Lyrik“[12] als „den Prozess der Transformation selbst, um das Zwischenreich zwischen Zusammenbruch und Neubeginn, Gestern und Heute, Träumen und Wachen, Gefühl und Wissen.“ Indem die Autorin einem bewussten produktiven Schreibprozess ihre Erfahrungen von Natur und Geschichte in einem vom lyrischen Ich empfundenen „Schwebezustand“ ausspricht, entfernt sie sich von der romantischen Naturlyrik und es gelingt ihr, „die grundlegende Erfahrung vom Verschwinden einer sinnhaften, nur mit sich selbst in Einklang befindlichen Welt ins Bild zu setzen, die gleichzeitig aber als sehnsüchtige Erinnerung fortexistiert.“

 

Zur gleichen Zeit, als die Naturgedichte der Droste entstanden, entfaltete auch Storm zum ersten Mal seine „spezifische Konstellation von Subjekt und Welt“[13], die auch seine weitere Lyrik bestimmen wird. Dabei knüpfte er am „Erlebnisgedicht“ der Goethezeit nur an und machte sichtbar, wie sich das Erleben selber gewandelt hat. Die Gleichstimmung von Außen- und Innenwelt, wie sie für die Lyrik Eichendorffs noch bestimmend war, erscheint in vielen Gedichten Storms nicht mehr als harmonische Einheit von Welt und Ich. Das lyrische Ich erfährt die Welt als ein fremdes Gegenüber, das nicht zu ihm spricht und ihm nicht mehr in einem unmittelbaren Erleben einen „Sinn“ offenbart. Dennoch verstummt der Dichter nicht, wird das lyrische Ich nicht sprachlos; allerdings kann es die Naturerfahrung nur als Seelenzustand darstellen, das Erlebte also bloß mit den Mitteln der Poesie nachbilden, immer aber mit einem deutlichen Zeichen der Distanz, die gelegentlich auch den Ansatz einer Reflexion beinhaltet und dann – vor allem in Storms späteren Todesgedichten – verstummt.

Die Wertschätzung, die Storm den Dichtungen der Droste entgegenbrachte, bezog sich nicht nur auf die Lyrik; mit großem Nachdruck forderte er seinen Freund und Kollegen Paul Heyse dazu auf, Die Judenbuche in dessen Novellensammlung aufzunehmen. Seit 1871 gab Heyse gemeinsam mit Hermann Kurz die Reihe „Deutscher Novellenschatz“ (1871–1875, 24 Bände) heraus; die Judenbuche erschien im letzten Band.[14] Heinz Rölleke hat auf die „Produktive Rezeption“ dieser Erzählung in Storms Altersnovelle Ein Doppelgänger hingewiesen.[15]

 

Als Theodor Strom im Jahre 1870 seine Lyrikanthologie Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius zusammenstellte, wählte er aus dem Werk der Annette von Droste-Hülshoff drei Gedichte aus: Des alten Pfarrers Woche, Die Krähen (Auszug) sowie Im Moose. Es ist kaum anzunehmen, dass Storm ein Gedicht wie Des alten Pfarrers Woche als typisch empfundenes biedermeierliches Genrebild in seine Anthologie aufgenommen hätte.[16] Vielmehr hat ihn daran die lebendige Gestaltung und „das Hausbackene, sofern darin ein warmes Stück Menschenleben und dann gelegentlich und wie von selbst ein Stück Poesie zum Vorschein kommt“ interessiert.[17]

Die Beweggründe für Storms Auswahl können im Kontext seiner poetologischen Überlegungen und in der Entwicklung des poetischen Realismus erklärt werden. Hier sind es vor allem wirkungsästhetische Aspekte, die sich aus den Äußerungen Storms zur Lyrik rekonstruieren lassen und die seine eigene Lyrik, die vorzugsweise Natur, Liebe, Vergänglichkeit und Tod thematisiert, zu einer der bedeutendsten des deutschen Realismus werden ließ.

Das Gedicht Die Krähen aus den Haidebildern hat Storm – wie andere Herausgeber auch – auf Grund seiner Länge gekürzt. Winfried Woesler führt die Bevorzugung in zeitgenössischen Anthologien unter anderem auf die Entdeckung einer spezifischen, bis dahin nahezu unbeachteten oder nicht in adäquater lyrischer Form behandelten Landschaft und deren Literarisierung mit neuen sprachlich-formalen Mitteln zurück.[18]

Bei der Vorbereitung der „Erste(n) illustrirte(n) Ausgabe“ seiner Anthologie, die in aufwändiger Ausstattung 1875 im Verlag Wilhelm Mauke, Hamburg erschien, blieb diese Auswahl unverändert, allerdings stellte Storm nun das Gedicht Im Moose an den Anfang. Diese Reihenfolge behielt er auch in der vierten Auflage bei, die der Verleger George Westermann in Braunschweig 1878 herausbrachte. Für eine geplante fünfte Auflage, die nicht zustande kam, erwog Storm zusätzlich auch Die beschränkte Frau und Die junge Mutter aufzunehmen.[19]

Die Frage, warum Storm seit 1875 dem Droste-Gedicht Im Moose eine so exponierte Position zuwies, lässt sich mit einem Blick auf ein Gedicht Storms beantworten, das ein Jahrzehnt nach seiner ersten Begegnung mit der Lyrik der Droste entstand: Im Zeichen des Todes[20]. Eine vergleichende Lektüre belegt nämlich, dass Storms Text nicht nur von dem Droste-Gedicht angeregt wurde, sondern dass er in seinem Gedicht auf die dort dominierende Stimmung der Resignation antwortet. Storm befand sich in den 1840 und frühen 1850er Jahren auf der Suche nach einer weltanschaulichen Orientierung, bei der er sich vor allem mit der poetischen Tradition seines Jahrhunderts auseinandersetzte und sprachliche Formen erprobte, mit denen er seine Weltanschauung bildhaft und konkret darstellen konnte.

 

Die Parallellektüre der beiden Gedichte soll im Mittelpunkt folgender Überlegungen stehen; sie zeigt, wie Storm sich in dieser Lebensphase zu einem Weltbild durchringt, das von Gedanken zeitgenössischer weltanschaulicher Diskurse geprägt wurde und das ganz auf die Gegenwart des aktiven Lebens setzt. Dabei greift er Motive und Bilder der Droste auf und übernimmt die temporale Struktur ihres Gedichts. Dann füllt er die von der Droste offen gelassene Zeitstufe der Gegenwart und überwindet die „existenziell ausweglose Situation“[21], indem er dem lyrischen Ich statt der christlichen Hoffnung auf ein Fortleben im Jenseits eine Perspektive eröffnet, das Leben im Diesseits zu bestehen. Das Bewusstsein von der Vergänglichkeit verliert seinen Schrecken, und in der Auseinandersetzung mit den Problemen des Lebens bestimmt Storm die Liebe zwischen den Menschen als zentralen Wert.

 

 

Annette von Droste-Hülshoff

Theodor Storm

Im Moose[22]

 

Als jüngst die Nacht dem sonnenmüden Land
Der Dämmrung leise Boten hat gesandt,
Da lag ich einsam noch in Waldes Moose.
Die dunklen Zweige nickten so vertraut,
An meiner Wange flüsterte das Kraut,
Unsichtbar duftete die Heiderose.

 

Und flimmern sah ich durch der Linde Raum
Ein mattes Licht, das im Gezweig der Baum
Gleich einem mächt’gen Glühwurm schien zu tragen.
Es sah so dämmernd wie ein Traumgesicht,
Doch wußte ich, es war der Heimat Licht,
In meiner eignen Kammer angeschlagen.

 

Ringsum so still, daß ich vernahm im Laub
Der Raupe Nagen, und wie grüner Staub
Mich leise wirbelnd Blätterflöckchen trafen.
Ich lag und dachte, ach so Manchem nach,
Ich hörte meines eignen Herzens Schlag,
Fast war es mir, als sei ich schon entschlafen.

 

Gedanken tauchten aus Gedanken auf,
Das Kinderspiel, der frischen Jahre Lauf,
Gesichter, die mir lange fremd geworden;
Vergeßne Töne summten um mein Ohr,
Und endlich trat die Gegenwart hervor,
Da stand die Welle, wie an Ufers Borden.

 

Dann, gleich dem Bronnen, der verrinnt im Schlund,
Und drüben wieder sprudelt aus dem Grund,
So stand ich plötzlich in der Zukunft Lande;
Ich sah mich selber, gar gebückt und klein,
Geschwächten Auges, am ererbten Schrein
Sorgfältig ordnen staub'ge Liebespfande.

 

Die Bilder meiner Lieben sah ich klar,
In einer Tracht, die jetzt veraltet war,
Mich sorgsam lösen aus verblichnen Hüllen,
Löckchen, vermorscht, zu Staub zerfallen schier,
Sah über die gefurchte Wange mir
Langsam herab die karge Träne quillen.

 

Und wieder an des Friedhofs Monument,
Dran Namen standen, die mein Lieben kennt,
Da lag ich betend, mit gebrochnen Knieen,
Und – horch, die Wachtel schlug! Kühl strich der Hauch –
Und noch zuletzt sah ich, gleich einem Rauch,
Mich leise in der Erde Poren ziehen.

 

Ich fuhr empor und schüttelte mich dann,
Wie einer, der dem Scheintod erst entrann,
Und taumelte entlang die dunklen Haage,
Noch immer zweifelnd, ob der Stern am Rain
Sei wirklich meiner Schlummerlampe Schein
Oder das ew’ge Licht am Sarkophage.

 

In hoc signo vinces[23]

 

Noch war die Jugend mein, die schöne, ganze,
Ein Morgen nur, ein Gestern gab es nicht;
Da sah der Tod im hellsten Sonnenglanze,
Mein Haar berührend, mir in’s Angesicht.

 

Die Welt erlosch, der Himmel brannte trübe;
Ich sprang empor entsetzt und ungestüm.
Doch er verschwand. Die Ewigkeit der Liebe
Lag vor mir noch, und trennte mich von ihm.

 

Und heute nun – im sonnigen Gemache
Zur Rechten und zur Linken schlief mein Kind;
Des zarten Athems lauschend hielt ich Wache,
Und an den Fenstern ging der Sommerwind.

 

Da sanken Nebelschleier dicht und dichter
Auf mich herab; kaum schienen noch hervor
Der Kinder schlummerselige Gesichter,
Und nicht mehr drang ihr Atem an mein Ohr.

 

Ich wollte rufen; doch die Stimme keuchte,
Bis hell die Angst aus meinem Herzen schrie.
Vergebens doch; kein Schrei der Angst erreichte,
Kein Laut der Liebe mehr erreichte sie.

 

In grauer Finsterniß stand ich verlassen,
Bewegungslos und schauernden Gebeins;
Ich fühlte kalt mein schlagend Herz erfassen,
Und ein entsetzlich Auge sank in meins.

 

Ich floh nicht mehr; ich fesselte das Grauen,
Und faßte mühsam meines Auges Kraft;
Dann überkam vorahnend mich Vertrauen
Zu dem, der meine Sinne hielt in Haft.

 

Und als ich fest den Blick zurückgegeben,
Lag plötzlich tief zu Füßen mir die Welt;
Ich sah mich hoch und frei ob allem Leben
An deiner Hand, furchtbarer Fürst, gestellt.

 

Den Dampf der Erde sah empor ich streben,
Und ballen sich zu Mensch- und Tiergestalt;
Sah es sich schütteln, tasten, sah es leben,
Und taumeln dann und schwinden alsobald.

 

Im fahlen Schein im Abgrund sah ich’s liegen,
Und sah sich’s regen in der Städte Rauch;
Ich sah es wimmeln, hasten, sich bekriegen,
Und sah mich selbst bei den Gestalten auch.

 

Und niederschauend von des Todes Warte
Kam mir der Drang, das Leben zu bestehn,
Die Lust, dem Feind, der unten meiner harrte,
Mit vollem Aug’ ins Angesicht zu sehn.

 

Und kühlen Hauches durch die Adern rinnen
Fühlt’ ich die Kraft, entgegen Lust und Schmerz
Vom Leben fest mich selber zu gewinnen,
Wenn Andres nicht, so doch ein ganzes Herz. –

 

Da fühlt’ ich mich im Sonnenlicht erwachen;
Es dämmerte, verschwebte und zerrann;
In meine Ohren klang der Kinder Lachen,
Und frische, blaue Augen sahn mich an.

 

O schöne Welt! So sei in ernstem Zeichen
Begonnen denn der neue Lebenstag!
Es wird die Stirn nicht allzusehr erbleichen,
Auf der, o Tod, dein dunkles Auge lag.

 

Ich fühle tief, du gönnetest nicht allen
Dein Angesicht; sie schauen dich ja nur,
Wenn sie dir taumelnd in die Arme fallen,
Ihr Los erfüllend gleich der Kreatur.

 

Mich aber laß unirren Augs erblicken,
Wie sie, von keiner Ahnung angeweht,
Brutalen Sinns ihr nichtig Werk beschicken,
Unkundig deiner stillen Majestät.

Das lyrische Ich der Droste spricht in den acht sechszeiligen Strophen in langsam daher schreitenden fünfhebigen Jamben. Es ruht in der Abenddämmerung auf einem Moosbett im Wald. Die dem Ich vertraute Natur lässt an eine Waldlandschaft im Münsterland denken, der autobiographische Bezug legt das Gehölz nahe, das im Nordosten an die Gartenanlage des Rüschhauses anschließt, in dem die Droste von 1826 bis 1846 lebte. Von diesem Platz aus kann es ein „mattes Licht“ aus „meiner eignen Kammer“ wahrnehmen. Dadurch wird eine Verbindung zwischen dem realen Ort des Ichs in der Natur mit der Wohnung der Dichterin und ihrem Arbeitsraum, dem sogenannten Schneckenhäuschen, hergestellt.

Der fiktionale Ruheplatz ist in der Tradition des locus amoenus mit Naturmetaphern gestaltet und signalisiert die Geborgenheit, die das lyrische Ich in dieser Natur zunächst verspürt. Die Wahrnehmung der Natur verändert sich und ist negativ konnotiert durch der „Raupe Nagen“ und durch den Vergleich mit den wehenden Blättern, die ihm „wie grüner Staub“ erscheinen. Das Ich fühlt sich, als sei es bereits „entschlafen“, nicht bloß eingeschlafen. Sein Zustand im Bereich zwischen Schlaf und Wachsein verweist zugleich auf den Übergang vom Leben zum Tod und greift die antike Vorstellung vom Schlaf als Bruder des Todes auf.

In diesem Zustand treten Bilder aus der Kindheit hervor. Das Bewusstsein imaginiert zunächst das Vergangene als Erinnerung an Menschen, die ihm „lange fremd geworden“ sind, dann aber erscheint eine Vision der Zukunft: „Ich sah mich selber, gar gebückt und klein,/ Geschwächten Auges, am ererbten Schrein/ Sorgfältig ordnen staub'ge Liebespfande.“ Die Vorstellung von dem gealterten Ich und die Bilder der geliebten Menschen werden in einen Zusammenhang mit der Vergänglichkeit gestellt. Das Ich ordnet an seinem Lebensende auf der Schreibschatulle die aufbewahrten Artefakte. Da die Menschen, von denen die Erinnerungsstücke stammen, bereits tot sind, muss das Ich ihrer an den Grabmälern gedenken. Dem Ich erscheinen bereits ihre Bilder mit dem Tode verbunden, denn die veralteten Kleider und Locken sind „zu Staub zerfallen“. Die resignative Stimmung, in welche das Ich zurückgefallen ist, gipfelt in einem weiteren Bild, in dem es sich selbst beweint und in diesem Zustand des Selbstmitleids den eigenen Tod voraussieht: „Mich leise in der Erde Poren ziehen/ Und noch zuletzt sah ich, gleich einem Rauch“. Das ist die poetische Form des harten Ausspruchs Gottes, nachdem er Adam und Eva aus dem Paradies gewiesen hat: „Denn Staub bist du, zum Staub musst du zurück.“ (1. Buch Mose, Kapitel 3) Eine Perspektive, dass es vor dem Tod noch ein sinnvolles Leben gibt, fehlt dem Gedicht ganz. Im Alten Testament heißt es an der gleichen Stelle: „Gott, der Herr, schickte ihn aus dem Garten von Eden weg, damit er den Ackerboden bestellte, von dem er genommen war.“[24]

Rüdiger Nutt-Kofoth analysiert alle drei Zeitstufen, die das Ich in dem Gedicht durchläuft, und stellt fest, dass die Gegenwart und die räumliche Position, die das Ich in dem Gedicht einnimmt, voneinander wie Ufer und Welle getrennt erscheinen: „So steht das Ich jenseits zur Grenze der Gegenwart, die wie unbetretbar erscheint.“ Er fasst seine Analyse der temporalen Situierung des Gedichts folgendermaßen zusammen:[25] „Die Zukunft des Ichs in Im Moose ist in keiner Weise mit den geläufigen Vorstellungen von Zukunft gefüllt. Stattdessen erscheint sie als Vergangenheit der Gegenwart. Letztere aber ist im Gedicht ja gerade durch Leere repräsentiert, hat keinen Inhalt.“ Und er liest den Schluss des Textes als Darstellung einer Verschmelzung von Wachtraum und Realität, in den die Todeserfahrung „transportiert“ wird, und das Licht aus der eigenen Kammer sowie „das ew’ge Licht am Sarkophage“ zu einer Einheit verschmelzen.

Die Droste hat in vielen Gedichten Elemente ihres religiösen Fühlen und Erleben dargestellt; die ausweglose Situation, in die sich das Ich in dem Gedicht Im Moose durch seine Imagination von Vergangenheit und Zukunft gebracht hat, scheint Storm als Stachel empfunden zu haben, der ihn angeregt haben könnte, auf die Resignation des Droste-Gedichts zu antworten. In dieser Antwort entfaltet er einen Alternativentwurf, in dem das gegenwärtige Leben im Mittelpunkt steht.

 

Storm wählt das gleiche Versmaß wie die Droste; er stellt 16 vierzeilige Strophen zu einem balladesken Gedicht zusammen. Genau wie bei der Droste findet sich das Ich in einer Situation zwischen Traumwelt und Wirklichkeit. Das Ich begreift den Tod zweifach als die Negation des natürlichen Lebens, das ihm alles bedeutet. Dieses Leben erscheint zunächst als Erinnerung an die eigene Jugend, in der die „Ewigkeit der Liebe“ vor ihm lag, die ihm von der Präsenz des Todes trennte. An die Stelle des Ruheplatzes im Walde tritt als Ort des Gedichts das Bett im Schlafzimmer, in dem auch die beiden Kinder ruhen. Jetzt, in der mittleren Lebensphase, wird der Alltag von der Familie bestimmt; das Ich erwacht an einem Sommermorgen, nimmt die beiden Söhne wahr – von der Frau ist nicht die Rede–, für die es sich verantwortlich fühlt („hielt ich Wache“). Der autobiographische Bezug deutet auf das Wohnhaus in der Husumer Neustadt, das die Familie von 1846 bis 1851 bewohnte und in der die beiden ersten Söhne1848 und 1851 Storms zur Welt kamen.

So wie bei der Droste das Ich aus der Ruhe der sie umgebenden Natur durch das Nachdenken aufgeregt wird „Ich hörte meines eignen Herzens Schlag“, versinkt Storms Ich gegen seinen Willen „In grauer Finsterniß“ und fühlt – von allen Menschen isoliert – wie etwas sein „schlagend Herz erfassen“ will.

Ganz auf sich selbst zurückgeworfen („In grauer Finsterniß stand ich verlassen“) wird das vom Leben isolierte Ich von purem Entsetzen gepackt, als ihm der Tod leibhaftig entgegentritt. An die Stelle des Gottes der jüdisch-christlichen Tradition tritt in Storms Traumvision der Tod als „furchtbarer Fürst“ und erscheint in der Gestalt eines mittelalterlichen Herrschers. Hegel bezeichnet in der Phänomenologie des Geistes den Tod als den „absoluten Herrn“.[26] In der Furcht vor diesem absoluten Herrn zittert das Ich um seine Existenz. Im Bild des Auges, das ihn nun anblickt und seine Sinne „in Haft“ hält, zeigt sich die furchteinflößende Macht des absoluten Herrn, die brutal offenbart, dass alles Leben ein Sein zum Tode ist. Sein Auge signalisiert dem Ich zunächst die unheilvolle Kraft des bösen Blicks, vor dem es Angst hat und flüchten möchte, weil dieser Blick die Macht hat, ihn in Bann zu halten.

Der Philosoph Wolfgang Janke beschreibt einen solchen Zustand des Bewusstseins folgendermaßen: „Angesichts des Furchtbaren, des Todes, löst sich alles Bestehende auf. Dem Bewußtsein wird alles, woran es sich durchschnittlich und alltäglich hält, nichtig, weil es im Tode nicht bleibt, sondern entgleitet. Und weil die Todesfurcht das Vergehen unserer Zeit fühlbar macht, vergeht sie nicht mit der Zeit.“[27] In einer solchen Situation befindet sich auch das Ich des Gedichts. Was soll es jetzt tun? Es ist ja ganz und gar auf sich selbst zurückgeworfen und von jedem Bezug zum anderen getrennt, kann also auch von niemandem Hilfe erwarten.

Aber nun kommt die Wende; das Ich versucht nicht mehr zu fliehen, sondern hält dem Blick „mühsam“ stand. Es vermag sein eigenes Grauen zu „fesseln“, indem es die Auflösung seiner Bindung an das Leben nicht mehr nur wahrnimmt, sondern allmählich auch akzeptiert. „Die Furcht löst die Erstarrung einer Existenz innerlich auf, deren Geist im besorgenden Vorstellen der gegenständlichen Welt abgestumpft und abgestorben ist.“[28] Das Ich erkennt den Tod als seinen absoluten Herrn bedingungslos an. Dies wird in dem Moment deutlich, als es den Blick erwidert und damit ein anderes Verhältnis zum Gegenüber entwickelt. Die Erwiderung des Blicks leitet einen Prozess der gegenseitigen Anerkennung ein; das Ich erkennt den Tod als seinen Herrn an, und der Tod lässt dieses Ich aus der Haft frei.

Hegel hat eine solche Haltung in seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften als Gehorsam bezeichnet: „Der Gehorsam ist der Anfang aller Weisheit“. Danach erläutert er, dass mit dieser Haltung allein noch nichts gewonnen ist, „denn durch denselben läßt der das Wahre, das Objektive noch nicht erkennende und zu seinem Zwecke machende, deshalb noch nicht wahrhaft selbständige und freie, vielmehr unfertige Wille den von außen an ihn kommenden vernünftigen Willen in sich gelten und macht diesen nach und nach zu dem seinigen.“[29]

Die Furch schwindet und es setzt ein Prozess des zunehmenden Vertrauens ein. Nachdem das Ich „fest den Blick zurückgegeben“ hat, hebt der Tod den Bann auf und hält die Sinne des Ichs nicht mehr gefangen. Er gewährt diesem Ich vielmehr, gemeinsam mit ihm auf einer Warte zu stehen und in den Abgrund der Welt hinunterzublicken. Hand in Hand mit dem absoluten Herrn darf das endliche Ich nun die gegenwärtige Welt betrachten. Das Ich begreift, dass der Tod sein endliches Leben anerkannt hat und es erfährt, dass es jenseits von Furcht und Verzweiflung im Angesicht des Todes noch etwas anderes gibt: die Welt, in der das Ich und die Seinen real existieren.

Dieses Ich erkennt nun, dass es seine Aufgabe ist, in der Entwicklung seines Selbstbewusstseins das von der Warte des Todes aus Wahrgenommene nicht nur als Teil seiner selbst anzunehmen, sondern im Prozess des aktiven Handelns auch wirklich zu seinem eigenen Leben zu machen. Das macht das Ich frei, allerdings nur im Rahmen jener Bindung, die es im Prozess der Anerkennung der absoluten Macht des Todes und der Erkenntnis seiner eigenen Endlichkeit eingegangen ist. Dazu bedarf es nach Hegel des Willens, der als frei vorgestellt werden kann, sobald er sich vom „vernünftigen Willen“ außer sich bestimmen lässt.

In den beiden letzten Strophen des Gedichts grenzt sich das nun freie Ich von den anderen ab, denen der Tod sein „Angesicht“ nicht gönnt und die „von keiner Ahnung angeweht,/ Brutalen Sinns ihr nichtig Werk beschicken“. Denn in dem Moment, in dem es beginnt, seinem Herrn zu vertrauen, freilich zunächst noch „vorahnend“, überwindet es seine Selbstsucht, die es bisher „gleich der Kreatur“ blind ans Leben gefesselt hat, indem es „hoch und frei ob allem Leben“ an der Hand seines Herren wie dieser das Leben von einer hohen Warte aus betrachten darf.

Storm spricht damit dem Tod ein Attribut zu, dass in der christlichen Tradition Gott vorbehalten ist, der einerseits als allmächtig und andererseits als gut vorgestellt wird: Es ist eine Version des gütigen Todes. Später in seiner Altersnovelle „Der Schimmelreiter“ lässt er den sterbenden Vater von Hauke Haien sagen: „Du brauchst Dich nicht zu fürchten; wer bei mir ist, das ist nur der dunkle Engel des Herrn, der mich zu rufen kommt.“[30]

Von der hohen Warte des Todes kann das Ich auf das Ganze des Lebens blicken: „Und sah sich’s regen in der Städte Rauch;/ Ich sah es wimmeln, hasten, sich bekriegen,/ Und sah mich selbst bei den Gestalten auch.“ Auch diese Verse geben autobiographische Erfahrungen wieder. In seinem Brief an Mörike schreibt Storm über das Gedicht, dass es „zur stillen Abwehr gegen die Brutalität und Gemeinheit, wie sie nach Verhältnissen, welche wir hier gehabt, wohl überall zu Tage kommen“ geschrieben wurde; damit spiel der Verfasser auf die politischen Verhältnisse in den Herzogtümern Schleswig und Holstein nach der gescheiterten Erhebung von 1848 an.[31]

Aber die Bedeutung des Gesehenen geht weit über diese konkreten politischen Erfahrungen hinaus.[32] Das Ich gewinnt Bewusstsein von seiner Unabhängigkeit, wenn es „niederschauend von des Todes Warte“ das Leben bejaht, so wie es ist. Und das bedeutet nicht nur ein kontemplatives Betrachten der zunächst unbegreiflichen Zusammenhänge, sondern diese Haltung muss in ein aktives Tun umschlagen, in ein kraftvolles Eingreifen ins Leben, um sich „selber zu gewinnen“. Und im selben Moment spricht das Ich diese neue Empfindung aus, die alles ändern wird, denn da „Kam mir der Drang, das Leben zu bestehn“. Das selbstbewusste Ich weiß nun um seine Situation, es ist auch zu sich gekommen und kann vermöge seines Willens handeln. Nicht in der bloßen Betrachtung, sondern erst im regen Leben kann der Mensch zu sich selber finden und damit in der Anerkennung seiner Endlichkeit in „Lust und Schmerz“ Selbständigkeit gewinnen.

Im Gegensatz zur Droste, die in ihrem Gedicht keine Perspektive mehr auf das gegenwärtige Leben gewinnen kann, plädiert Storm in seinem Text für ein aktives Leben im Hier und Jetzt. Aber selbst in den euphorischen Zeilen „O schöne Welt! So sei in ernstem Zeichen/ Begonnen denn der neue Lebenstag!“ bleibt das Ich dem Leser eine inhaltliche Füllung dieses Lebensprogramms schuldig. Der Text deutet durch das Lachen der Kinder nur an, dass es die Familie ist, die das Ich nach seiner Rückkehr aus der anderen Welt zunächst wiederfindet: „Und frische, blaue Augen sahn mich an.“

Storms ganze Weltanschauung erschließt sich erst, wenn man weitere Texte aus unterschiedlichen Phasen seiner geistigen und seelischen Entwicklung in die Untersuchung einbezieht. Dann zeigt sich das durchgehende Spannungsgefüge zwischen der Ablehnung zentraler christlicher Heilslehren und einem lebenslangen metaphysischen Bedürfnis nach Überschreitung der menschlichen Endlichkeit.

Die Idee der christlichen Nächstenliebe entfaltet sich für Storm in der Liebe zu seiner Frau, zu den Kindern und zu den Eltern; die Familie wird so zur Gemeinschaft, in der die Gesellschaft gründet. Hinzu tritt eine großer, miteinander vielfach vernetzter Verwandtschafts- und Freundeskreis. So hat es der Dichter gelebt und vielfach in seiner Novellistik gestaltet. Storm sieht den Sinn des Lebens ganz allein im tätigen Leben selbst. Jeder hat sich zu der guten Tradition zu bekennen, in die er von Geburt gestellt ist. Er ist aber dieser Tradition auch verpflichtet und hat sich zu bewähren. Storm wusste auch von der Gefährdung des bürgerlichen Lebens, von den Widersprüchen zwischen der inneren Welt der Familie und dem harten Leben draußen. Das Gelingen und das Misslingen solcher Bewährungen schildert uns der Dichter in seinen Novellen am Beispiel der Lebenswege seiner Helden.

Wie intensiv seine Suche nach geistigem und seelischem Halt bereits in der 1840er Jahren war, zeigen Äußerungen in Briefen an seine Braut Constanze Esmarch wie diese vom 14. März 1846:[33] „O liebe, liebe Dange, hör niemals auf, ganz, ganz mein zu gehören. Dann wär es aus mit mir. Auch, wenn ich todt bin, mußt Du mein bleiben, ganz ewig. Was ist mir sonst das Leben, was bin ich mir selbst sonst!“

Storm formuliert zu diesem Zeitpunkt noch keine Position zur Frage der Unsterblichkeit, aber die hier erhobene Forderung nach Liebe über den Tod hinaus stellt eine Verabsolutierung der menschlichen Liebe gegen das bloß zeitlich begrenzte christliche Eheverständnis dar. Und zehn Jahre nach dem Gedicht Im Zeichen des Todes hat er sich ganz von der christlichen Erlösungslehre abgewandt; an seine Frau schreibt er am 29. Oktober 1863:[34]

 

Du weißt es ja, ich glaube, daß der Tod das völlige Ende des einzelnen Menschen ist. Trotzdem drängt mich etwas mich zu einem weitern Fluge noch über diese Grenze hinaus zu rüsten; drängt es mich, für diesen Flug ins Ungewisse, Grenzenlose mir eine Seele zu vermählen, die bereit, Alles mit mir zu theilen, bis an die letzte Grenze der Existenz nur unzertrennlich mir gehören wolle. Du bist diese Seele, die ich suche? Wolltest Du nicht meine Seele sein, wenn es so wäre und wenn es möglich – bis an das Ende aller Dinge?

 

Die Vorstellung von einer ewigen Beziehung endlicher Wesen erscheint widersprüchlich, sie ist aber im Kontext der Entwicklung von Storms Weltanschauung[35] die konsequente Fortentwicklung der Idee der verabsolutierten Liebe nach der Aufgabe des christlichen Glaubens.

 

Anmerkungen


 


[1] Storm als Erzieher. Seine Briefe an Ada Christen. Herausgegeben von Dr. Oskar Katann. Wien 1948, S. 22.

[2] Künstlername der Christi(a)na von Breden, geborene Fr(i)ederik (1839 - 1901).

[3] Ada Christen: Lieder einer Verlorenen. Hamburg 1868.

[4] Der Vater wurde wegen seiner Beteiligung an der Revolution von 1848 zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt und starb an deren Folgen. Dadurch geriet die Familie ins Elend und Christen Friederik musste ihren Unterhalt selbständig verdienen; sie war zunächst als Blumenmädchen und Näherin tätig, später zog sie als Angehörige eines Wandertheaters durch die österreichisch-ungarische Provinz.

[5] Storm als Erzieher, S. 2f.

[6] Vergl. Boy Hinrichs: Zur Lyrik-Konzeption Theodor Storms. Emanzipation von der rhetorischen Phrase und intertextueller Dialog. In: Stormlektüren. Festschrift für Karl Ernst Laage zum 80. Geburtstag. Hg. v. Gerd Eversberg, David Jackson u. Eckart Pastor. Würzburg 2000, S 281-299.

[7] Gerd Eversberg: Theodor Storm als Schüler. Mit vier Prosatexten und den Gedichten von 1833 bis 1837 sowie sechs Briefen. Heide 2006.

[8] Vergl. zum Folgenden Heinrich Detering: „Der letzte Lyriker“. Erlebnis und Gedicht – zum Wandel einer poetologischen Kategorie bei Storm. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 53(2004), S. 25-41.

[9] Storms Werke werden nach der Ausgabe zitiert: Theodor Storm, Sämtliche Werke, herausgegeben von Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier, 4 Bde, Frankfurt am Main 1987/88. (Im Folgenden abgekürzt als LL mit Band- und Seitenabgabe); LL 4, S. 393.

[10] Gedichte von Annette Freiin von Droste-Hülshof. Stuttgart und Tübingen 1844. – Später kam hinzu: Letzte Gaben. Nachgelassene Blätter von Annette Freiin von Droste-Hülshoff. Hannover 1860; danach auch die dreibändige Ausgabe: Gesammelte Schriften von Annette von Droste-Hülshoff. Herausgegeben von Lewin Schücking. Stuttgart 1878-1879.

[11] Jochen Grywatsch: Produktive Leerstellen. Anmerkungen zur Aktualität des dichterischen Werks der Annette von Droste-Hülshoff und zur Veränderlichkeit seiner Wertschätzung. In: »Zu früh, zu früh geboren«. Die Modernität der Annette von Droste-Hülshoff. Hg. von Monika Salmen und Winfried Woesler. Düsseldorf 2008, 29f.

[12] Im Nachwort der Ausgabe: Annette Droste von Hülshoff. Gedichte. Herausgegeben von Bernd Kortländer. Stuttgart 2003, S.192ff.

[13] So formuliert Heinrich Detering in seiner Neubewertung der lyrischen Entwicklung Storms (wie Anm. 8), S. 27.

[14] Deutscher Novellenschatz. Hg. von Paul Heyse und Hermann Kurtz. Serie 4, Bd. 6 (= Bd. 24). München 1876, S. 51-128.

[15] Heinz Rölleke: Theodor Storms „Ein Doppelgänger“ und Annette Droste-Hülshoffs „Die Judenbuche“. Produktive Rezeption in der Novellistik des Poetischen Realismus. In: Zeitschrift für deutsche Philologie, Bd. 111 (1992), Heft 2, S. 243-255.

[16] So erklärt Jochen Grywatsch die breite Rezeption dieses Textes in Anthologien der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; (wie Anm. 11), vergl. S. 25.

[17] Vorwort zum Hausbuch aus deutschen Dichtern, LL 4, S. 390. Die Erste Auflage Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius. Eine kritische Anthologie von Theodor Storm. (Hamburg, Wilhelm Mauke 1870) enthält folgende Gedichte der Droste: Des alten Pfarrers Woche, Die Krähen (Auszug) und Im Moose. Diese Auswahl blieb in der zweiten Auflage (Hamburg, Wilhelm Mauke 1870) unverändert. – In der dritten Auflage Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius. Eine kritische Anthologie von Theodor Storm. Erste illustrirte Ausgabe. Mit Holzschnitten nach Original-Zeichnungen von Hans Speckter ausgeführt von H. Kaeseberg. (Hamburg, Wilhelm Mauke 1875) stellte Storm Im Moose an den Anfang; so ist es auch in der vierten Auflage geblieben: Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius. Von Theodor Storm. Vierte durchgesehene Auflage. Braunschweig, Druck und Verlag von George Westermann. 1878.

[18] Winfried Woesler: Modellfall Rezeptionsforschung. Droste-Rezeption im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1980, Band 2, S.1057f.

[19] Vergl. die gründliche Analyse von Anne Petersen: Die Modernität von Theodor Storms Lyrikkonzept und sein „Hausbuch aus deutsche Dichtern seit Claudius“. Berlin 2015 im Kapitel „Der Literarische Kanon im illustrierten Hausbuch: Das Beispiel der Annette von Droste-Hülshoff“, S. 307-317.

[20] Erstdruck mit der Überschrift In hoc signo vinces in Storms erster Separatausgabe seiner Gedichte, Kiel: Schwers’sche Buchhandlung 1852. Seit der zweiten Auflage (Berlin: Schindler 1856) mit veränderter Überschrift: Im Zeichen des Todes.

[21] Rüdiger Nutt-Kofoth: Im Gestern halb und halb im heute. Aporien temporaler Situierung bei Annette von Droste-Hülshoff. In: Droste-Jahrbuch 9, 2011/2012, Hannover 2013, S. 235-247; hier S. 241.

[22] Gedichte von Annette Freiin von Droste-Hülshof. Stuttgart und Tübingen: Cotta’scher Verlag 1844, S. 97f. (Exemplar in Storms Bibliothek)

[23] Erstdruck in: Gedichte von Theodor Storm. Kiel 1851, S. 153-159. In einem Brief an Eduard Mörike vom 12. Juli 1853 schreibt Storm: „die Überschrift ist wohl verkehrt, weil sie leicht irre leitet; ich habe nur das Zeichen des Todes gemeint, nicht das constantinische christl. †.“

[24] Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, 1. Mose 3, 23.

[25] Rüdiger Nutt-Kofoth (wie Anm. 20), S. 241.

[26] Werner Marx: Das Selbstbewussten sein Hegels Phänomenologie des Geistes. Frankfurt am Main 1986, S. 83f.

[27] Wolfgang Janke: Historische Dialektik. Destruktion dialektischer Grundformen von Kant bis Marx. Berlin 1977, S. 328.

[28] Ebenda, S. 329.

[29] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), § 396, Zusatz.

[30] LL 3, S. 675.

[31] Storm an Mörike, 12. Juli 1853; vorher heißt es dort: „Bei dem Bruche zwischen Dännemark (so!) und den Herzogthümern habe ich natürlich zu meiner Heimath gehalten, namentlich aber nach Beendigung des Krieges es für meine besondre Pflicht geachtet, meine Mitbürger, so weit ich dazu Gelegenheit hatte, gegen die Willkühr der neu eingesetzten Königl. Dän<ischen> Behörden mit voller Rücksichtslosigkeit zu vertreten. So hat es denn kommen müssen, daß mir, trotz meines im Ganzen sehr von allem Oeffentlichen zurückgezogenen Lebens, wie fast allen jüngeren und tüchtigeren Collegen, die Bestallung cassirt worden ist, da es der jetzigen Regierung besonders daran gelegen ist, alle Elemente namentlich der unabhängigen, deutschen Bildung möglichst zu vernichten. In dieser Veranlassung und weil ich mich nicht, wie es leider jetzt von Vielen geschieht, zu Schritten herlassen kann, die meiner Ueberzeugung und den Pflichten gegen meine deutsche Heimath widersprechen, bin ich jetzt eben in Begriff nach Preußen überzusiedeln, das mir nach etwa ½jähriger Probezeit, die indeß wohl etwas länger ausfallen wird, eine Anstellung als Justizbeamter und dadurch ein, wenn auch knappes, Auskommen in Aussicht gestellt hat. Constanze mit den drei Knaben, deren jüngster erst zu Anfang des vorigen Monats geboren ist, wird vorläufig hier bei meinen, oder in Segeberg bei ihren Eltern zurückbleiben. – Die nächste Zukunft sieht daher etwas grau aus, zumal ich mit dem Gefühl von hier gehe, den Fremden oder Schlechten meinen Platz zu räumen; doch ist, da es nun einmal nicht anders sein kann, die Heiterkeit unsres Hauses bisher noch keinen Tag lang dadurch gestört worden.“ Theodor Storm – Eduard Mörike. Theodor Storm – Margarethe Mörike. Briefwechsel. Kritische Ausgabe mit Storms „Meine Erinnerungen an Eduard Mörike“. Hg. von Hildburg und Werner Kohlschmidt. Berlin 1978, S. 29.

[32] Vergl. Marianne Wünsch: Leben im Zeichen des Tode. Zu Theodor Storms Lyrik. In: Stormlektüren. Festschrift für Karl Ernst Laage zum 80. Geburtstag. Hg. v. G. E., David Jackson u. Eckart Pastor. Würzburg 2000, S. 255-270.

[33] Regina Fasold (Hg.): Theodor Storm – Constanze Esmarch. Briefwechsel. Kritische Ausgabe. Bd. 2 Berlin 2002, S. 213f.

[34] Regina Fasold (Hg.): Theodor Storm – Constanze Storm. Briefwechsel. Kritische Ausgabe. Berlin 2009, S. 277.

[35] Vergl. dazu Christian Demandt: Religion und Religionskritik bei Theodor Storm. Berlin 2010. (Husumer Beiträge zur Storm-Forschung, Bd 8.)