Über die Modernität von Theodor Storms Gespenstergeschichten

 

Im Oktober 1869 teilte der Verleger George Westermann seinem Autor Theodor Storm mit, er hoffe, bei Storms Gesamtausgabe „im Frühjahr zu einer zweiten Auflage schreiten“ zu können.[1] Westermann wollte neue Novellen an die bisherigen Werke anschließen und brachte seinen Autor damit in Verlegenheit. Da erinnerte dieser sich daran, „daß ich vor 8-10 Jahren in der Victoria-Zeitung eine kleine wirklich hübsche Arbeit abdrucken ließ“ und bat seinen Sohn Ernst, der zu dieser Zeit in Kiel studierte, nach dem Zeitschriftenabdruck zu suchen.[2] Denn er hatte nie ein Belegexemplar erhalten.

Da Storm aber falsche Jahreszahlen nannte, fand Ernst den Abdruck von „Am Kamin“ nicht. Dabei plante er „auch ein Separatausgäblein davon erscheinen [zu] lassen“, wofür er den Schleswiger Verleger Hermann Heiberg gewonnen hatte. Im Brief an Ernst schreibt er weiter: „ich hab schon ein zierlich Vorwort dazu geschrieben.“

Da die Separatausgabe nicht zustande kam, ist das geplante Vorwort verloren gegangen. Darin wollte sich Storm unter anderem gegen eine „moderne“ Kritik wenden, „die ohne viel Federlesens diese Geschichten unter der Rubrik ‚materiellen Grauens‘ aus der Poesie hinausgewiesen“ habe.

In seinem verschollenen Vorwort hat sich Storm mit der Kritik auseinandergesetzt, die der Literaturhistoriker Julian Schmidt in seiner Geschichte der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert an Tendenzen der Spätromantik übt. Schmidt fordert in seiner Literaturgeschichte Mitte der 1850er Jahre in einer polemischen Auseinandersetzung mit den literarischen Übergangsformen der Restaurationszeit, in den Dichtungsformen, „die sich sowohl durch ihren Gegenstand als ihren Stil der Nachahmung der Wirklichkeit nähern“, das Wunderbare kategorisch auszuschließen. Im Anschluss an E.T.A. Hoffmanns Spukgeschichten schreibt Schmidt[3]: „Seitdem haben uns seine Nachfolger in Deutschland und Frankreich so mit Nachtwandlern, Vampyren u. dgl. überschüttet, daß man sich keinen Augenblick sicher fühlt, aus irgend einer dunklen Ecke eines dieser unheimlichen Geschöpfe hervortreten zu sehen. Es ist das eine sehr ungesunde Poesie, weil sie das Geistige ganz in Materialismus erstickt, und man kann sie zuletzt handwerksmäßig betreiben, indem man die gegebenen Elemente des Grauens willkürlich combinirt.“

Diesen Angriff auf eine poetische Tradition und auf eine Erzähltechnik, wie sie Storm in seiner Erzählung „Am Kamin“ um 1860 erprobt hatte, müssen den Dichter tief getroffen haben. Sind es doch die Streitgespräche der Erzählinstanzen in „Am Kamin“, die sich deutlich von solchen Reflexionen unterscheiden, gegen die Julian Schmidt polemisiert hatte.[4]

Und Schmidt verdammt auch diejenigen Reflexionen, wie sie Storms Spuk-Erzählung durchgehend enthält und kritisiert damit das, was dem Husumer Dichter in seinem Text so wichtig war: „Am deutlichsten zeigt sich die Geistlosigkeit dieses Treibens, wenn sich der Dichter bemüht, philosophische Reflexionen an seine phantastischen Einfälle zu knüpfen, wenn er von dem doppelten Princip des Lebens spricht und die überirdische Welt analysirt. Es ist das leerste Gefasel und die unbegreiflichste Trivialität.“[5]

Welche der Schriften von Julian Schmidt Storm bei der Abfassung seines Vorworts gekannt hat, lässt sich konkret nicht mehr bestimmen: Möglicherweise den Beitrag in den Grenzboten von 1861, in dem der Verfasser unter der Überschrift „Zerstreute Gedanken über Seele und Gott“ über den Begriff der Seele schreibt: „insofern Ich das Vermögen der Freiheit habe, bin Ich – das Wesen, das sich als identisch mit sich selbst unmittelbar weiß“, also ein Selbstbewusstsein, das Schmidt „Seele“ nennt. Schmidt führt weiter aus: Von dem, was mein Geist ist, habe ich kein Wissen, sondern ich kann nur an die Unsterblichkeit der Seele glauben. „Aber der Glaube wird zum Aberglauben, sobald er aus dem Gebiet des Jenseits ins Diesseits überspielt, sobald aus Seelen Gespenster werden. Diesen Aberglauben hat die Wissenschaft zu bekämpfen, denn er schadet allen Kräften des Menschen, dem Verstand, dem Willen, dem Gemüth.“[6]

 

Um Schmidts Polemik und Storms entschiedene Reaktion darauf zu verstehen, müssen wir in die 1840er Jahre zurückblicken.

Als Theodor Storm im Herbst 1842 nach Abschluss seines Studiums in seine Vaterstadt Husum zurückkehrte und hier Anfang des folgenden Jahres eine Rechtsanwaltspraxis eröffnete, legte er eine Sammlung von Märchen, Sagen und Spukgeschichten an, für die er regionale Chroniken auswertete. Diese Dokumente übermittelte er seinem Studienfreund Theodor Mommsen in Kiel, unter dessen redaktioneller Leitung ein umfangreiches Konvolut von Liedern, Sprichwörtern, Märchen und Sagen aus den Herzogtümern Schleswig und Holstein zusammengetragen wurde. An dem Projekt arbeiteten neben einer Gruppe von Studienfreunden aus Kiel auch Pastoren, Lehrer und Heimatforscher in den Herzogtümern mit. Die umfangreiche Sammlung bildete den Grundstock für Karl Müllenhoffs Buch Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg, das 1845 in Kiel veröffentlicht wurde.

Diese damals als „Volkssagen“ bezeichneten zumeist kürzeren Texte enthalten nach dem Verständnis der Brüder Grimm, die mit Ihren Deutschen Sagen (2 Bände 1816 und 1818) eine ganze Flut regionaler Sammlungen anregten, die „Kunde von Ereignissen der Vergangenheit, welche einer historischen Beglaubigung entbehrt.“[7]

In diesem Umfeld sammelte Storm auch Sagen von Spukerscheinungen sowie Gespenstergeschichten. Einen Teil dieser Texte schickte er an Müllenhoff in Kiel, der einige davon in die Sagensammlung aufnahm. Dabei nicht verwendete erbat Storm sich Anfang März zurück „Sind nicht unter den Manuskripten, die ich Ihnen gesandt, Gespenstergeschichten“?[8]

In den 1840er Jahren stellte Storm aus diesem Material ein Konvolut zusammen, das er als „Neues Gespensterbuch“ bezeichnete; es besteht aus Texten, die aus gedruckten Sammlungen und Zeitschriften herausgeschrieben sowie aus kurzen Erzählungen, die nach mündlichen Berichten aufgezeichnet wurden. Bei einigen der Spukgeschichten handelt es sich um kurze Erzählungen, die nach eigenen Erlebnissen Storms oder ihm mitgeteilten Wahrnehmungen konzipiert und im Prozess der Niederschrift erstmals ausformuliert wurden. [9]

Das gilt für die Spukgeschichten Der Gespensterbesen sowie für ein Dutzend weitere Erzählungen der Sammlung, die bisher alle nicht in den Kanon der Storm‘schen Erzählpoesie aufgenommen wurden.[10]

 

Der Gespensterbesen[11]

Als mein Großvater noch als Schuhmachergesell wanderte, erzählte mein Barbier, kam er eines Tags in einer kleinen Stadt zu einem Meister, dessen Gesellen, wie er hörte, immer nach einigen Wochen wieder fremd geworden waren. Der Meister war ein freundlicher behäbiger Mann und setzte meinem Großvater gleich nach seiner Ankunft ein tüchtiges Abendessen vor, daß er gar nicht begreifen konnte, wie es bei einem solchen Meister nicht sollte auszuhalten sein. Nach dem Essen wurde ihm oben in dem hintern Teile des Hauses ein kleines saubres Zimmer als Schlafkammer angewiesen, das ihn nach seiner mühsamen Wanderschaft recht freundlich zur Ruhe einlud. Ins Bett und in den Schlaf kam daher wie Blitz und Schlag. Er mochte indessen kaum einige Stunden geschlafen haben, so wurde er von einem Geräusch geweckt, als wenn die ganze Stube mit einem steifen Reisbesen gekehrt würde. Er erhob sich, wischte sich die Augen, sah aber nichts, als die wenigen alten Stühle, die vom Mondlicht beschienen an den kahlen Wänden herumstanden. Das Kehren dauerte indessen wohl eine Stunde ununterbrochen fort, und mein Großvater fand trotz seiner Furchtlosigkeit in dem noch übrigen Theile der Nacht den Schlaf nicht wieder. Als er am Morgen zum Meister an die Arbeit ging, wußte er freilich wohl, weshalb dieser keine Gesellen zu halten vermochte. Er beschloß jedoch zu schweigen und auszuhalten. So gings denn auch wohl ein ganzes halb Jahr lang seinen Gang; Gesell und Meister vertrugen sich aufs Beste; aber auch der Gespensterbesen verrichtete jeden Abend sein Geschäft; die ganze Mitternachtsstunde kehrte und rumorte es, ohne jedoch meinem Großvater irgend ein Leides anzuthun.

Da passirte es einst, daß er spät in der Nacht von einem Tanze nach Haus kam. Sein Schlafzimmer sah mit dem Fenster nach dem Garten; und er war eben durch die Gartenpforte gegangen, um so von hinten ins Haus und auf sein Zimmer zu gelangen, als er zufällig einen Blick nach dem Fenster hinaufwarf. Aber das Fenster war nicht dunkel wie die in dem untern Stockwerk; es saß etwas davor, weiß, wie eine Wolke oder eine Bettdecke und sah in den Garten hinab. – Mein sonst so mutiger Großvater hatte nicht das Herz auf sein Zimmer hinaufzugehen; er kehrte für die Nacht in die Herberge zurück und wurde Tags darauf fremd.

 

Das zum Druck eingerichtete Manuskript erschien nicht als Buch. Eine Reihe von Spukgeschichten veröffentlichte Storm aber in den Jahrgängen 1847-1849 der Volksbücher für die Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg.

In der Müllenhoffschen Sammlung wird eine klare Trennung solcher Texte noch nicht vorgenommen, die von Hermann Bausinger als „Vorliterarische Formen“ bezeichnet werden. Damit sind Erzählungen wie Sage und Legende, Märchen und Schwank, Witz und Anekdote, Sprichwort und Rätsel sowie Spukgeschichten gemeint, „die in den weiteren Umkreis der Literatur gehören, die aber in wesentlichen Punkten der gängigen Vorstellung von Literatur nicht entsprechen. Sie werden in aller Regel anonym realisiert und verbreitet.“[12] Sie entstehen oft in kollektiven Schreibprozessen und wurden im 19. Jahrhundert als „Volkspoesie“ bezeichnet. Durch ihre Verschriftlichung wurde ihre teilweise durch mündliche Überlieferung begründete Variabilität beendet und der ausgewählte Textkorpus kanonisiert. Zugleich ordnete man diese Texte Gattungsbegriffen zu, wie es bereits die Brüder Grimm durch die Unterscheidung von Märchen und Sagen Anfang des Jahrhunderts vorgeführt hatten.

Im Gegensatz zu den Sagen gelten Spukgeschichten als unheimliche Erzählungen, in denen Gespenster oder ähnliche Wesen eine bestimmende Rolle spielen. Wenn die Erscheinung des schauerlichen Wesens sich nicht naturwissenschaftlich erklären lässt, ordnet man solche Texte der Phantastischen Literatur zu. Die Gespenstergeschichten erzeugen im Leser den unheimlichen Zweifel, ob das Geschehen wirklich stattgefunden hat, oder ob es auf etwas Übernatürliches verweist.

Neben der Gespensterliteratur der Romantik, die wie die Erzählungen E.T.A. Hoffmanns Material für Storms Sammlung lieferten, erschien um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert eine umfangreichen Gespenster-Literatur, darunter kommentierte Textsammlungen, in denen die Möglichkeit der Existenz einer Geisterwelt diskutiert wurde. Es ging dabei vor allem um die Frage, ob Übersinnliches in die normale Erfahrungswelt hineinwirken kann und wie die Zuhörer darauf reagieren.

Zwei Jahrzehnte später holte Storm das Konvolut von Gespenstergeschichten wieder hervor und verwendete mehrere der alten Aufzeichnungen für seinen experimentellen Erzählkomplex Am Kamin,[13] darunter auch Der Gespensterbesen.[14]

 

Mein Barbier – von dem hab’ ich diese Geschichte – ist der Sohn eines Tuchmachers. Als der Vater noch jung war, kam er eines Abends auf seiner Gesellenwanderung in eine kleine schlesische Stadt. Auf der Herberge erfuhr er, daß er bei einem der ältesten Meister in Arbeit treten könne. Will nur hoffen, daß es mit Dir Bestand haben wird, setzte der Herbergswirt hinzu. – Mit Gunst Herr Vater, entgegnete der Gesell, traut Ihr mir nicht, oder fehlts da wo im Hause bei den Meistersleuten? – Der Wirt schüttelte den Kopf. – Was denn aber, Herr Vater? – Es ist nur, sagte der Alte, seit sie da drei Gesellen haben wollen, ist der dritte nach Monatsfrist allezeit wieder fremd geworden. Unser Geselle ließ sich das nicht anfechten, sondern ging noch an demselben Abend zu seinem neuen Meister. Er fand ein paar alte Leute, die ihn freundlich ansprachen, und zur Stärkung nach der Wanderung ein solides bürgerliches Abendbrot. Als es Schlafenszeit war, führte der Meister ihn selbst durch einen langen Gang des Hintergebäudes in das obere Stockwerk und wies ihm dort seine Schlafkammer an. Der Gelaß für die beiden andern Gesellen befinde sich unten; es sei aber darin nicht Platz für ein drittes Bett.

Als der Meister ihm gute Nacht gewünscht, stand der junge Mann noch einen Augenblick und horchte, wie sich die Schritte des Alten über die Treppe hinab entfernten und dann unten in dem langen Gange allmälig verloren. Hierauf besah er sich sein neues Quartier. – Es war eine lange äußerst schmale Kammer mit kahlen weißen Wänden; unten, die ganze Breite der Querwand einnehmend, stand das Bett; daneben ein kleiner Tisch und ein kleiner Stuhl aus Föhrenholz; das war die ganze Ausstattung. Das einzige sehr hohe Fenster mit kleinen in Blei gefaßten Scheiben schien, soviel er bei dem Mondschein draußen erkennen konnte, nach einem großen Garten hinaus zu liegen. – Aber er hatte das Alles mit schon träumenden Augen angesehen, und nachdem er sich unter das derbe Deckbett gestreckt und das Licht ausgelöscht hatte, fiel er bald in einen tiefen Schlaf.

Wie lange derselbe gedauert, konnte er später nicht angeben; er wußte nur, daß er durch ein Geräusch, was mit ihm in der Kammer war, auf eine jähe Art erweckt worden sei. Und bald hörte er deutlich ein Kehren wie mit einem scharfen Reisbesen, das von der Richtung des Fensters her allmälig sich nach der Tiefe der Kammer zu bewegte. Er richtete sich auf und blickte mit aufgerissenen Augen vor sich hin; die Kammer war fast hell vom Mondschein; die eine Wand war ganz davon beleuchtet; aber er vermochte nichts zu sehen, als den völlig leeren Raum.

Plötzlich, und ehe es noch ganz in seine Nähe gekommen, war Alles wieder still. Er horchte noch eine Weile und suchte sich vergebens einen Vers darauf zu machen; endlich, ermüdet wie er war, fiel er aufs neue in einen festen Schlaf. Am andern Morgen, als zwischen ihm und dem Meister die Sache zur Sprache kam, erfuhr er von diesem, daß allerdings Einzelne, welche vor ihm in der Kammer geschlafen, ein Aehnliches dort gehört haben wollten; es sei indeß immer nur zur Zeit des Vollmonds gewesen und übrigens Niemandem etwas dadurch zu nahe geschehen. ‒ Der junge Tuchmacher ließ sich beruhigen; und in den Nächten, die nun folgten, wurde auch sein Schlaf durch Nichts gestört. Dabei ging ihm im Hause Alles nach Wunsch; Arbeit und Verdienst war regulär und auch mit seinen beiden Nebengesellen hatte er sich auf guten Fuß gestellt.

So ging ein Tag nach dem andern hin; bis endlich wieder die Zeit des Vollmonds herangekommen war. Aber er hatte nicht darauf geachtet, denn es war schwere bedeckte Luft und kein Schein fiel in die Kammer, als er sich am Abend schlafen legte. – Da plötzlich erweckte ihn wieder jener schon halb vergessene Ton. Eifriger noch und schärfer, so dünkte es ihn, als das erste Mal kehrte und fegte es bei ihm in der Kammer, und seltsamer Weise, jetzt, wo es fast dunkel war, meinte er gegen das Fenster hin einen sich bewegenden Schatten zu sehen. Aber, wie zuerst, wurde auch jetzt nach einer Weile Alles wieder still, ohne daß es sein Bett erreicht oder daß er etwas Genaueres zu erkennen vermocht hätte. Er konnte indessen dies Mal den Schlaf sobald nicht wieder finden, und hörte vom Kirchthurm eine Stunde nach der andern schlagen; endlich brach draußen der Mond durch die Wolken und schien in die Kammer, aber er beleuchtete nur die nackten weißen Wände.

Der Gesell, so wenig angenehm ihm diese Dinge waren, beschloß bei sich, gegen Jedermann zu schweigen, am wenigsten aber sich von jenem Unheimlichen vom Platze verdrängen zu lassen. – Wie gewöhnlich gingen auch die nun folgenden Nächte ohne Störung vorüber. – Nach Verlauf eines Monats kehrte er spät in der Nacht von einem benachbarten Orte zurück, wohin ihn sein Meister mit einem Geschäfts-Auftrage gesandt hatte. Er ging, als die Stadt erreicht war, nicht durch die Straßen, sondern an der Stadtmauer entlang, um durch den Garten in das Hinterhaus zu gelangen, wozu er den Schlüssel von seinem Meister erhalten hatte. Es war heller Mondschein. Schon in der Nähe des Hauses, während er zwischen den Rabatten auf dem geraden Stiege des Gartens entlang ging, warf er zufällig einen Blick nach dem Fenster seiner Kammer hinauf. – Da saß oben ein Ding, ungestaltig und molkig, und guckte durch die Scheiben in den Garten hinab.

Der junge Mann verlor plötzlich die Lust, mit solcher Gesellschaft noch länger in Quartier zu liegen. Er kehrte um und suchte sich für diese Nacht ein Unterkommen in der Herberge. Am andern Morgen aber – so erzählte mir sein Sohn – nahm er seinen Abschied und verließ die Stadt, ohne jemals erfahren zu haben, womit er so lange in einer Kammer gehaust habe.

 

Aus der ursprünglich kurzen Gespenstergeschichte ist nun eine längere Erzählung geworden, in der Storm das Handlungsgerüst und die darin skizzierten Ereignisse vollständig übernimmt und in seinem Erzählstil episch ausweitet. Der Text wird im Kreis einer Gesellschaft mit bürgerlichem Wissenshintergrund vorgetragen und im Zusammenhang mit anderen Spukgeschichten diskutiert. Der Stil der „Kamin“-Geschichte ist insofern experimentell, als Storm ganz auf einen personalen Erzähler verzichtet und den Rahmen für die eingestreuten Geschichten als puren Dialog konzipiert. Die von verschiedenen Teilnehmern der Gesellschaft beigetragenen Spukgeschichten weisen zum Teil eine komplexe Erzählstruktur auf.

Der Ich-Erzähler kennt die Geschichte vom „Gespensterbesen“ von seinem Barbier. Dieser erzählt von einem Erlebnis seines Vaters, das der Tuchmacher erst mehrere Jahre nach den Ereignissen in seiner Gesellenzeit an den Sohn weitergeben konnte. Das Erzählte liegt also um ein gutes halbes Jahrhundert vor dem Zeitpunkt, in dem es vom „alten Herrn“ den Teilnehmern der Kamin-Gesellschaft mitgeteilt wird. Durch die Aneinanderreihung mehrerer Erzählinstanzen mit einer tiefen zeitlichen Staffelung schafft der Erzähler des Erzählrahmens, der als zeitlich letzte Erzählinstanz völlig hinter den Dialogen der fiktiven Gesellschaftsmitglieder zurücktritt, eine erhebliche Distanz zu den erzählten Ereignissen. Zugleich entsteht aber auch ein Problem für die Glaubwürdigkeit von Erscheinungen, von denen er nur aus dritter Hand berichten kann. Umso wichtiger ist es, die Wahrhaftigkeit des ersten Erzählers zu bekräftigen.

Der Barbier hat seinen Vater als einen mutigen Menschen und genauen Beobachter in Erinnerung behalten. Das demonstriert der Erzähler, indem er den „jungen Mann“ nach der Einleitung („Hierauf besah er sich sein neues Quartier“) die Schlafkammer genau beschreiben lässt. Trotz des schwachen Kerzenscheins sieht der Geselle von der Tür her detailliert, was sich vor ihm befindet: „eine lange äußerst schmale Kammer mit kahlen weißen Wänden; unten, die ganze Breite der Querwand einnehmend, stand das Bett; daneben ein kleiner Tisch und ein kleiner Stuhl aus Föhrenholz.“ Außer der spärlichen Ausstattung kann er aber noch mehr sehen: „Das einzige sehr hohe Fenster mit kleinen in Blei gefaßten Scheiben schien, soviel er bei dem Mondschein draußen erkennen konnte, nach einem großen Garten hinaus zu liegen.“

Nun legt sich der müde Mensch zur Ruhe. Als er nach kurzem Schlaf „auf eine jähe Art“ erwacht, sieht er nichts anderes als zuvor, als er die Kammer in Augenschein genommen hatte: „er vermochte nichts zu sehen, als den völlig leeren Raum“. Aber nun hört er etwas in der Stille der Nacht, „deutlich ein Kehren wie mit einem scharfen Reisbesen, das von der Richtung des Fensters her allmälig sich nach der Tiefe der Kammer zu bewegte.“

Dann ist die Erscheinung verschwunden: „Plötzlich, und ehe es noch ganz in seine Nähe gekommen, war Alles wieder still.“ Der Tuchmacher kann nicht wieder einschlafen und „hörte vom Kirchthurm eine Stunde nach der andern schlagen“.

Hören und Sehen sind ihm nun vergangen und er „suchte sich vergebens einen Vers darauf zu machen“. Das zeigt, dass der genaue Beobachter auch ein analytischer Denker ist, der aber nach dem akustischen Ereignis keine Ursache für die Geräusche sehen kann, obwohl der Erzähler sagt: „die Kammer war fast hell vom Mondschein; die eine Wand war ganz davon beleuchtet“.

Am anderen Morgen spricht er gegenüber seinem Meister über das Beobachtete, lässt sich von diesem aber fürs erste beruhigen. Dass regelmäßig etwas Unerklärliches passiert, gibt der Meister zwar zu, da aber „Niemandem etwas dadurch zu nahe geschehen“ ist, siedelt er das Wahrgenommene eher dem Bereich der Fantasie zu.

Ihm stellt sich offenbar die Frage nicht, ob der Spuk deshalb und nur dann erscheint, weil ein Fremder in seinem Reich schläft. Die Erscheinung findet immer im selben Raum statt; will sie etwas durch das Kehren beseitigen, will sie dem Eindringling in sein Reich etwas mitteilen, wie das in anderen Gespenstergeschichten Storms geschieht? [15]

Beim nächsten Vollmond wiederholt sich die Erscheinung: „Da plötzlich erweckte ihn wieder jener schon halb vergessene Ton.“ Diesmal erscheint ihm das Gehörte „eifriger noch und schärfer“. Aber das ist nicht alles, denn weiter heißt es: „jetzt, wo es fast dunkel war, meinte er gegen das Fenster hin einen sich bewegenden Schatten zu sehen.“

Aber diese zweite Wahrnehmung wird sogleich wieder durch die Weise des Für-wahr-Haltens relativiert, denn beim einfachen Meinen schwingt immer ein Zweifel mit. Bloßes Meinen erhebt keinen Anspruch auf objektive Begründbarkeit im Gegensatz zum Wissen, bei dem dieser unverzichtbar ist. Wissen entsteht erst im Prozess des Nachdenkens durch eine methodische Begründung.

An Schlaf ist nicht zu denken, und der junge Mensch liegt bis zum Morgenschein wach. Der Erzähler teilt uns das Ergebnis seiner Grübeleien mit: „Der Gesell, so wenig angenehm ihm diese Dinge waren, beschloß bei sich, gegen Jedermann zu schweigen, am wenigsten aber sich von jenem Unheimlichen vom Platze verdrängen zu lassen.“

Als „unheimlich“ erscheint ihm das Gehörte, weil er sich vergebens um eine rationale Erklärung des Ereignisses bemüht hat. Das Unheimliche ist ein Gefühl, das Angst und Grauen erregt. Es entsteht durch intellektuelle Unsicherheit gegenüber Fremdem und Unvertrautem, die er anderen Menschen gegenüber verschweigen will. Über die Ursache der Geräusche lässt der Erzähler auch den Leser vorerst im Unklaren.

Aber schon beim nächsten Vollmond wird eine Erklärung für das akustische Rätsel angeboten. Diesmal blickt der Geselle bei nächtlicher Heimkehr unten vom Garten hinauf auf das Fenster seiner Kammer und sieht („Es war heller Mondschein“) etwas, das der Erzähler so beschreibt: „Da saß oben ein Ding, ungestaltig und molkig, und guckte durch die Scheiben in den Garten hinab.“

Diesmal wird keine Reflexion über das Gesehene erwähnt; der Erzähler überlässt es dem Leser, die Kausalität der beiden Ereignisse – des Gesehenen und des vorher zweimal Gehörten – herzustellen. Es heißt nur: „Der junge Mann verlor plötzlich die Lust, mit solcher Gesellschaft noch länger in Quartier zu liegen. Er kehrte um und suchte sich für diese Nacht ein Unterkommen in der Herberge.“ Damit wird das Rätsel aber nicht gelöst, es wird nur der Gesinnungswandel des jungen Mannes beschrieben.

Was das „Ding“ war, „womit er so lange in einer Kammer gehaust“ hat, erklärt uns der Text nicht; es bleibt bei der vagen Beschreibung durch die beiden Adjektive „ungestaltig“ und „molkig“. Diese Angabe unterscheidet sich wesentlich von der vorher erfolgten detaillierten Schilderung der Kammer (äußerst schmal „kahlen weißen Wänden“) und ihrer Ausstattung („unten“ ein Bett, ein „kleiner“ Tisch „und ein kleiner Stuhl aus Föhrenholz“) sowie des Fensters (sehr hoch „mit kleinen in Blei gefaßten Scheiben“).

Vielleicht hat der Meister das Gespenst provoziert, indem er den Gesellen immer wieder die abseits gelegene Kammer zuwies und auf die Klage des jetzigen Bewohners antwortete, dass bisher „Niemandem etwas dadurch zu nahe geschehen“ sei. Wenn das Gespenst mit dem Besen den Eindringling aus seinem Reich verscheuchen will, bedeutet sein Kehren, ihn aus seinem Territorium „wegzuwischen“. Sein Erscheinen im Fenster wäre dann eine Warnung an den Eindringling, dass er nicht länger friedlich bleiben wird.

Der Geselle zieht am Ende lieber den Kürzeren, entscheidet sich plötzlich doch für die Existenz des Übernatürlichen und geht weg. Dafür war der zweite Verdrängungsversuch des Spuks entscheidend, denn zuerst hieß es: „er beschloss bei sich, gegen Jedermann zu schweigen, am wenigsten aber sich von jenem Unheimlichen vom Platz verdrängen zu lassen.“

Eine vernunftbezogene Erklärung der nächtlichen Erscheinung wird auch in dieser Kamin-Erzählung ganz dem „Scharfsinn“ der Zuhörer überlassen[16]. Die Schemen, die der Erzähler beschreibt, entsprechen denen eines Gespenstes des Volksglaubens. Solche Phantome erscheinen traditionell in einer besondere Weise, die als „Spuk“ gedeutet werden kann.

Storms Gespenst kann von außerhalb der Kammer in nebelhaft durchsichtiger, nur angedeuteter menschlicher Gestalt wahrgenommen werden. Damit wird es zu einem Phänomen, das nicht nur in der Einbildung des ihn Hörenden vorhanden ist, sondern ganz real dem Gesichtssinn erscheint, nachdem es zuvor nur vom Gehör alleine wahrgenommen werden konnte. Das also ist das „Wissen“ von einem Gespenst, das den Gesellen nun bestimmt: „Am andern Morgen aber“ – heißt es am Schluss der Erzählung – „nahm er seinen Abschied und verließ die Stadt, ohne jemals erfahren zu haben, womit er so lange in einer Kammer gehaust habe.“

Alain Cozic fasst seinen Vergleich dieser Spukgeschichte mit der Quelle in Storms „Neues Gespensterbuch“ folgendermaßen zusammen: „In der Welt des Stormschen Gesellen bedeutet der Spuk tatsächlich den Einbruch einer ‚anderen‘ Realität, die unerklärt bleibt und allem Anschein nach unerklärbar ist, die schließlich furchterregend – also unheimlich – ist, obwohl die Erscheinung nicht unmittelbar aggressiv ist. Wir haben es mit der Gegenüberstellung von zwei Sphären zu tun: Die eine repräsentiert das gewöhnliche, mit den üblichen Wertvorstellungen und Kriterien der Vernunft erfaßbare Leben, die andere, indem sie mit der ersteren kollidiert, gefährdet sie. Das Phantastische bei Storm – das Phantastische überhaupt? – kann als Transgression des Alltäglichen bezeichnet werden.“ [17]

Als der junge Mann den Ort des Geschehens verlässt, sind die Fragen, was das Gespenst ist und warum es erscheint, nicht gelöst. Möglicherweise hält es der Geselle für zwecklos, sich rational mit seinem Meister darüber auseinanderzusetzen. Es sind keine Spuren des Kehrens vorhanden, die es ermöglichten, das Erlebte des Gesellen und den Erklärungsversuch des Meisters miteinander zu vermitteln. Eine Kommunikation über Gespenster findet innerhalb der Erfahrungswelt des Gespenstigen nicht statt; die Begegnung mit dem Auslöser des Unheimlichen bleibt ein individuelles Phänomen. Der nächste Geselle wird genau wieder das Gleiche erleben, was seine Vorgänger vertrieben hat, da der Meister nie erfährt, was seine Gesellen zu ihrer Flucht veranlasst hat.

Dies ist aber kein Mangel der Erzählung, sondern garantiert, dass die Wirkung des Spuks innerhalb der Erzählung nun auch auf die Zuhörer übertragen wird, obwohl sie nur ein Erlebnis aus dritter Hand geboten bekommen. Die Lektüre oder der Vortrag einer Spukgeschichte tritt an die Stelle eigener Spukerfahrung. Und die serielle Wiederholung der Spukerscheinung suggeriert, dass es solche Erscheinungen vielleicht doch gibt, weil alle das Gleiche erlebt haben.

Während Storm auch 1862 noch der Ansicht war, dass die Spukgeschichten „nicht zu meinen gesammten Werken zählen sollen“[18], hatte er seine Meinung mittlerweile geändert.

Nun – im Januar 1870 – charakterisiert er die Komposition dieser Erzählungen ganz anders, indem er seinem Sohn erklärt: „Ich meine ‚Am Kamin‘ eine Reihe trefflicher und sehr sorgfältig in meiner Art (besser als Göthe die seinigen in den Gesprächen Deutsch‹er› Auswandrer erzählt) erzählter Geschichten.“[19]

Diese „sorgfältige“ Art, mit der Storm seine Gespenstergeschichte formuliert hat, zeigt auch „Der Gespensterbesen“. Der Handlungsort wird detailliert beschrieben. Die Kammer liegt im oberen Stockwerk des Hintergebäudes und ist vom Haupthaus, in dem die Familie des Meisters und die anderen Gesellen leben, durch eine Treppe und durch einen langen Gang getrennt. Erst in der Entfernung von anderen Menschen und in der Einsamkeit kann dem Gesellen das Unheimliche begegnen. Und es begegnet – wie auch schon seinen Vorgängern – nur ihm allein.

Erstaunlich ist, dass der Meister, der doch von dem Gespensterhaften gehört hat und weiß, dass es bei Vollmond erscheint, nicht wenigstens versucht, der Sache auf den Grund zu gehen Schließlich verliert er doch immer wieder seine Gesellen. Das Gespenst erscheint ja nicht nur, wenn ein Geselle im Zimmer nächtigt, denn unser Geselle sieht es doch von außen.[20]

 

Theodor Storms Interesse an Gespenstergeschichten ist zunächst seinem Interesse an Grauen und Gruseln zu verdanken. Theodor Fontane erinnerte sich an einen Abend bei dem Berliner Kunsthistoriker Franz Kugler, an dem Storm zunächst sein Gedicht In Bulemanns Haus vortrug und dann eine Gespenstergeschichte erzählte: „Er war ganz bei der Sache, sang es mehr, als er es las, und während seine Augen wie die eines kleinen Hexenmeisters leuchteten, verfolgten sie uns doch zugleich, um in jedem Augenblicke das Maß und auch die Art der Wirkung bemessen zu können. Wir sollten von dem Halbgespenstischen gebannt, von dem Humoristischen erheitert, von dem Melodischen lächelnd eingewiegt werden. […] Denselben Abend erzählte er auch Spukgeschichten, was er ganz vorzüglich verstand, weil es immer klang, als würde das, was er vortrug, aus der Ferne von einer leisen Violine begleitet.“ [21]

 

Darüber hinaus interessierte Storm aber auch etwas anderes. Während er um 1845 aus verschiedenen gedruckten Quellen Gespenstergeschichten herausschrieb und einige Spukgeschichten aus eigenem Erleben oder aus Erzählungen anderer erstmals ausformulierte, beschäftigte er sich intensiv mit der im Jahre 1808 erschienenen Schrift Theorie der Geisterkunde von Jung-Stilling.[22] In ihr beschreibt der Augenarzt, Wirtschaftswissenschaftler, Schriftsteller und Publizist Johann Heinrich Jung, genannt Jung-Stilling, (1740-1817) den Menschen als ein duales Wesen.

Jung setzte sich mit der Leibnitz-Wolff’schen Philosophie auseinander und überprüfte die Grundgedanken der kopernikanischen Lehre mit Hilfe von Kants „Kritik der reinen Vernunft“. Hieraus leitete er seine Überzeugung ab, dass die menschliche Vernunft auf Widersprüche stößt, wenn sie Dinge aus eigenen Prinzipien beurteilen will, die jenseits der Sphäre der Erfahrung liegen. Er begreift Leib und Seele als zwei zwar aufeinander bezogene, aber gegensätzliche Substanzen.[23] Der Körper unterliegt wie der ganze Kosmos der Naturkausalität. Die Seele ist ein unkörperliches, auch unabhängig vom Leib bestandsfähiges, unvergängliches, einheitliches Wesen. Jung-Stilling erkennt die naturwissenschaftliche Beschreibung der Gesetze an, weist aber darauf hin, dass sie nur für den Bereich gelten, von dem wir durch unsere Sinne Kenntnis haben, dass es sich also nur um Vorstellungsformen handelt.

Neben der materiellen Welt postuliert er eine Geisterwelt, in der Freiheit möglich ist. In sie geht die menschliche Seele nach dem Tode ein; in ihr regiert Gott, der als Schöpfer vorgestellt wird, und der in seine Schöpfung teleologisch eingreift. Außer den Seelen beschreibt er Engel, gute und böse Geister und entwickelt eine komplexe Ethik, die sich an der christlichen Tradition mit der Sünden- und Erlösungslehre orientiert.

„Das mechanisch-philosophische System behauptet, daß das ganze Weltall, nach ewigen und unveränderlichen Gesetzen so wie ein Uhrwerk regiert werde, daß also die Freyheit des Willens bloße Einbildung und leere Täuschung sey. Ich habe aber nun im vorhergehenden bewiesen, daß die ewigen und unveränderlichen Naturgesetze blos Vorstellungen sind, die sich auf Raum und Zeit gründen, da nun diese bloße Denkformen sind, so sinds auch jene; […]. Gott regiert die Welt, durch alle Classen vernünftiger, und freyhandelnder Wesen; sein Geist lenkt den Willen eines jeden Geistes durch Vorstellung des Zweckmäsigen; er giebt ihnen allen Gesetze, die ihr ewiges Glück und Genuß der Seeligkeit begründen, aber er läst ihnen die freye Wahl zu folgen oder nicht.“ (S. 39f.)

Die aus der Kant’schen Philosophie entnommene Methode der Kritik im Sinne einer Überprüfung des Grundes, indem ein begrenzter Erfahrungsbereich abgeschritten wird, wendet Jung-Stilling auf unerklärliche Phänomene menschlicher Erfahrung an. Der Zweck seiner Geisterkunde besteht darin, Geister-Erscheinungen natürlich zu erklären. Jung-Stilling referiert Beobachtungen und Erfahrungen, die er zumeist der Literatur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entnommen hat, und erklärt sie mit Hilfe der Prinzipien, mit denen er sein Geisterreich beschreibt. Dabei setzt er sich sowohl mit der protestantischen als auch mit der katholischen Lehre auseinander. Für diese Äußerungen wurde Jung-Stilling vor allem aus theologischer Perspektive heftig kritisiert.

Die von Jung-Stilling Anfang des Jahrhunderts angestoßene Diskussion wurde in den 1820er und 1830er Jahren fortgesetzt. Noch 1835 erschien eine Beispielsammlung, die im Untertitel eine „Sammlung merkwürdiger Ahnungen und Träume; mit sehr interessanten Beispielen des Fernsehens und des zweiten Gesichts, und mit Erscheinungen des Magnetismus und der Geisterwelt“ verspricht[24], und die von mehreren Rezensenten kritisch wahrgenommen wurde[25].

Animalischer Magnetismus, auch Mesmerismus genannt, ist die Bezeichnung für eine dem Elektromagnetismus analoge Kraft am Menschen, die von Franz Anton Mesmer (1734–1815) eingeführt wurde. Der Begriff leitet sich vom Lateinischen animal (dt. Geschöpf, Lebewesen, Tier) her. Daher nannte ihn Mesmer auch „tierischen Magnetismus“. Die davon abgeleitete Heilmethode, das „Mesmerisieren“, war eine Hypnosetechnik und erfuhr große öffentliche Beachtung. Sie war von erheblicher medizinischer und geisteswissenschaftlicher Bedeutung, wurde aber seit Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend als unwissenschaftlich abgelehnt. Nachfolgetechniken haben bis heute eine gewisse Bedeutung in der Alternativmedizin und in der Esoterik.

Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dominiert ein positivistisches Weltbild unsere abendländische Zivilisation. Danach erscheint uns die Welt genau so, wie sie ist; sie wird von den Naturwissenschaften richtig beschrieben und von der Technik angemessen beherrscht. Sie ist eine materielle Welt, in der Naturgesetze herrschen; sie ist genau das, was wir von ihr wissen.

Damit wird die Bedeutung des Geistigen zurückgedrängt und als bloße Funktion der materiellen Welt angesehen, zu der auch der Mensch gehört. Viele Forscher vertreten bis heute die These, dass das Bewusstsein nur eine Funktion der Gehirntätigkeit ist und mit dem sterbenden Körper verschwindet. Dem Geistigen in der Welt wird eine untergeordnete, nebensächliche Rolle zugewiesen.[26]

Andere Wissenschaftler nehmen in der Nachfolge von Platons Begriff von der Seele[27] an, dass es unabhängig von der Existenz des Menschen neben Energie und Materie, die in Raum und Zeit durch vier Kräfte miteinander interagieren, noch ein zweites Phänomen in der Welt gibt, das die Gesetzmäßigkeit der Natur verursacht bzw. erhält, ein Prinzip, das als „vernünftig“ bezeichnet werden kann und von dem das menschliche Bewusstsein möglicherweise ein Teil ist bzw. das ihm im Wesentlichen entspricht.[28]

Im poetischen Realismus finden wir trotz der Ablehnung von unerklärlichen und unheimlichen Phänomenen durch die Literaturkritik und ihre Relativierung des Phantastischen Beispiele der Behandlung von Wunderbarem und Unheimlichen[29], so z. B. in Stifters Katzensilber (1853) und in Paul Heyses Geisterstunde (1892).

 

Im Jahre 1861 nahm sich Storm während der Arbeit an den Kamin-Geschichten Jung-Stillings Geisterkunde erneut vor und setzte sich mit der Geschichte des Aberglaubens auseinander, zu dem er in der „Gartenlaube“ einen polemischen Essay veröffentlichte, in dem er die vermeintlichen Zusammenhänge von Ahnungen, Träumen, Wahrsagungen und Lottozahlen als puren Unsinn bezeichnet. [30]

Aber trotz dieser Kritik am Unwesen der Kartenschlägerei glaubt Storm bis zu seinem Tode an die Möglichkeit, dass aus einer anderen Welt, die im Grunde mit der übereinstimmt, die Jung-Stilling als „Geister-Welt“ bezeichnet, etwas in unsere Erfahrungswelt eindringen kann. Das zeigt sich nicht nur in Erzählungen wie Der Gespensterbesen, sondern auch noch in der Novelle Der Schimmelreiter, über deren Spukelemente in der Storm-Forschung heftig diskutiert wurde. Dabei vertrat er die von Kant formulierte Ansicht, die Seele sei ein immaterielles Geistwesen mit Bewusstsein und Verstand, das mit anderen Seelen kommunizieren und auch ohne materiellen Körper als reiner Geist existieren kann. Im Gegensatz zu Julian Schmidt war Theodor Storm davon überzeugt, dass Geistiges nicht nur als Selbstbewusstsein bestimmt werden, sondern dass „Geist“ auch unabhängig vom Körper existieren und vielleicht in unsere erfahrbare Wirklichkeit hineinwirken kann.

 

Mit seinem „Neuen Gespensterbuch“ wollte Storm Berichte von Ereignissen solcher parapsychologischen Kommunikation vorlegen, also der jenseits des normalen Wachbewusstseins liegenden psychischen Fähigkeiten, die das gängige Erkenntnisvermögen überschreiten. Das können Traumwahrnehmungen sein, die mit gegenwärtigen, aber räumlich entfernten Ereignissen verbunden sind, solche, in denen räumlich getrennte Menschen miteinander kommunizieren oder Visionen, in denen ein zukünftiges Geschehen sensiblen oder medial veranlagten Menschen offenbart wird. Während seiner Sammeltätigkeit suchte er vor allem nach Erzählungen, die ihm besonders glaubwürdig erschienen. Dafür gibt es in den Gespenstergeschichten eine Reihe von Belegen. So beginnt der Text Die nächtliche Unruhe mit folgender Einleitung: „Daß der Inhalt der nachstehenden Erzählung wörtlich wahr ist, kann ich um so mehr verbürgen, als auch ich Einer der Zeugen der nächtlichen Unruhe gewesen bin.“ Genau um diese Frage ging es den meisten Herausgebern der zeitgenössischen Gespenster-Anthologien, wie es in den Titel der von Storm verwendeten Text-Sammlungen bereits anklingt:

 

Museum des Wundervollen: oder Magazin des Außerordentlichen in der Natur, der Kunst und des Menschenlebens.[31]

Die Seherin von Prevorst. Eröffnungen über das innere Leben des Menschen und über das Hineinragen einer Geisterwelt in die unsere.[32]

Eine Erscheinung aus dem Nachtgebiete der Natur: durch eine Reihe von Zeugen gerichtlich bestätigt und den Naturforschern zum Bedenken.[33]

 

In seinem Erzählexperiment Am Kamin erklärt Storm nicht, was Wahrträume und Gespenster bedeuten, wie es in der Literatur der Romantik üblich war, sondern nur, wann und wo sie erscheinen. Das Warum lässt er den fiktiven Kreis der Zuhörer erörtern. Die Spukgeschichte ist nicht mehr nur eine Geschichte über den Spuk, sondern gewinnt selbst spukhafte Gestalt, mit der sie sowohl auf die Zuhörer innerhalb der Erzählwelt als auch auf die Leser einzuwirken vermag.

Neben den eigentlichen Spukgeschichten führt er dem Leser vor, wie eine gebildete Gesellschaft über die Wirkungsweise von Schauergeschichten diskutiert, indem das Genre „Spuk“ an ihnen selbst erprobt wird. Zunächst wird gefragt, was Spuk sei und was nicht, und an mehreren Traumgeschichten überprüft. Danach wird angedeutet, dass es neben der Wirklichkeit, dem Traum und der Phantasie noch etwas Weiteres geben könnte, in dem Geistiges existiert und wirksam werden kann.[34]

Auf den Einwand, die Geschichte vom Gespensterbesen habe keine Pointe, erklärt der Erzähler: „Aber ein Teil dieser Geschichten tritt eben mit dem Reiz des Rätsels an uns heran, und drängt uns, den Dingen nachzuspüren, die, wenn gleich selber längst vergangen, noch solche Schatten aus dem leeren Raume fallen lassen.“

Was Storm an seinen erfundenen Erzählern und Zuhörern erprobt, gewinnt im Leser selbst durch die suggerierte unheimliche Rätselhaftigkeit des Vorfalls eine gespenstige Substanz.

 

Am Schluss meiner Überlegungen stellt sich die Frage, ob es Storm überhaupt um naturwissenschaftliche oder parawissenschaftliche Spekulation ging.[35] Will er seinen Lesern die erzählten Spukphänomene erklären oder diskutiert seine fiktive Gesellschaft nur, ob der Verbreitung solcher Geschichten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts überhaupt noch eine Bedeutung zukommen kann? Und worin könnte diese Bedeutung liegen? Damit läge die ‚Modernität‘ dieses Erzählens in romantischer Tradition darin, die Sinnhaftigkeit einer eigenen fiktionalen Welt zu befragen, ob sich also in ihr ein Wissen finden lässt, das einen erkenntnistheoretischen Wert für das Publikum haben könnte.

Ich meine nach meiner Analyse allerdings, dass es Storm damals nicht nur darum ging, die Wirkung von Fiktion auf den Leser spürbar zu machen und zu beobachten – also durch Identifikation die kritische Reflexion zu wecken, sondern auch um die beschriebenen Phänomene selber[36]. Denn nach einem Besuch bei Ernst Storm in Toftlund, wo Vater und Sohn sich Gespenstergeschichten erzählt und über das sogenannte zweite Gesicht gesprochen haben, also über die Gabe, Zukünftiges vorauszusehen, äußerte sich der Dichter im Sommer 1882 gegenüber Gottfried Keller[37]: „Ich stehe diesen Dingen im einzelnen Falle zwar zweifelnd oder gar ungläubig, im allgemeinen dagegen sehr anheimstellend gegenüber; nicht daß ich Un- oder Übernatürliches glaubte, wohl aber, daß das Natürliche, was nicht unter die alltäglichen Wahrnehmungen fällt, bei weitem noch nicht erkannt ist.“

 

Storm arbeitet sich in seiner „Kamin“-Erzählung an den Normen und Vorgaben des poetischen Realismus ab, aber er ignoriert das naturwissenschaftlich geprägte Realitätspostulat nicht nur, sondern führt es in seinen Spukgeschichten sogar ad absurdum. Indem er Julian Schmidts Wirklichkeits-Begriff eine erweiterte Realitätsauffassung entgegenstellt und in seinem fiktiven Salon diskutieren lässt, erweist er sich – so die Ankündigung des Symposions – „als widerspenstiger Erfolgsautor des deutschen Realismus“.

 

Anmerkungen


 


[1] Brief von George Westermann an Theodor Storm, Braunschweig, Donnerstag, 14. Oktober 1869. Verlagsarchiv Westermann, Braunschweig.

[2] Brief von Theodor Storm an seinen Sohn Ernst, Husum, 17. Januar 1870. Theodor Storm – Ernst Storm. Briefwechsel. Hrsg. von David Jackson. Berlin 2007, S. 52.

[3] Julian Schmidt: Geschichte der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert. Zweiter Band, zweite Auflage, Leipzig 1855, S. 380f.

[4] Karl Friedrich Boll hat bereits im Jahre 1960 auf die Bedeutung hingewiesen, die das Unheimliche und Spukerscheinungen für Storms Leben und seine Novellistik besaßen, und diese mit modernen parawissenschaftlichen Forschungen verglichen. Vergl. Karl Friedrich Boll: Ahnungen und Gesichte bei Theodor Storm. In: STSG 9 (1960), S. 9-23.

[5] Julian Schmidt (wie Anm. 8), S. 381.

[6] Julian Schmidt: Zerstreute Gedanken über Seele und Gott. In: Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik und Literatur, 20. Jg. 1861, S. 508-513; hier S. 510f.

[7] Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, http://dwb.uni-trier.de/de/die-digitale-version/, Stichwort „Sage“.

[8] Brief an Karl Müllenhoff vom 1.3.1845. In: Peter Goldammer (Hg.): Theodor Storm. Briefe Bd. 1, S. 72.

[9] Storms sämtliche Gespenstergeschichten habe ich kürzlich neu ediert: Theodor Storm: Spuk- und Gespenstergeschichten – Kritische, kommentierte Ausgabe. Herausgegeben von Gerd Eversberg. Berlin 2017.

[10] Storms eigenständige Leistung bei der Niederschrift eines Teils seiner Spukgeschichten ist exemplarisch in dem Aufsatz dokumentiert Gerd Eversberg: Das Thurmgemach. Theodor Storm schreibt eine Gespenstergeschichte. In: Beiträge zur Husumer Stadtgeschichte 2016, Band 15, S. 108-122.

[11] Handschrift von Theodor Storm im Konvolut „Neues Gespensterbuch“ (NG) Nr. 32 mit der unterstrichenen Überschrift „Der Gespensterbesen“, darunter „erzählt von B.“, Blattnummern 87 – 88. Gedruckt in: Theodor Storm: Spuk- und Gespenstergeschichten (wie Anm. 8), S. 49.

[12] Hermann Bausinger: Vorliterarische Formen. In: Fischer Lexikon Literatur, hrsg. von Ulfert Ricklefs, Frankfurt am Main 1996., S. 1979.

[13] Am Kamin erschien in der Victoria. Illustrirte Muster- und Moden-Zeitung, Berlin 12. Jahrgang, Nummer 6 und 8 vom 8. und 22. Februar 1862.

[14] Der Abdruck folgt meiner Edition Theodor Storm: Spuk- und Gespenstergeschichten (wie Anm. 8), S. 106f.

[15] In einer von Storm im Jahre 1844 aufgeschriebenen Gespenstersage erscheint den Leuten ein Gespenst, das einen Pfahl auf dem Nacken trägt, aber keinem etwas zu Leide tut. Nachdem jemand es fragt, was es will, schlägt es den früher verrückten Grenzpfahl wieder ein und ist erlöst. „Das Gespenst mit dem Grenzpfahl“. In Eversberg 2017, S. 93.

[16] Ihr hat Storm folgenden Dialog nachgestellt: „Kann ich mir auch nichts bei denken. – Geht mir ebenso, alter Herr. – Ich dächte doch, das wäre eine ächte rechte Spukgeschichte; oder was fehlt denn noch daran? – Sie hat keine Pointe. – So? – – [] Nun, und Ihre Geschichte? – Will ich ganz dem Scharfsinn der Damen überlassen, und Ihnen lieber etwas Anderes erzählen, wo ein solcher Zusammenhang sich von selbst ergiebt, indem der Reflex der Begebenheit mit dieser selbst scheinbar in einen Moment zusammenfällt.“ Zitiert nach Theodor Storm: Spuk- und Gespenstergeschichten (wie Anm. 8), S. 107f.

[17] Alain Cozic: „Der Gespensterbesen“: Von der Quelle zur „Kamin“- Geschichte. Zu Storms Auffassung vom Phantastischen. In: Stormlektüren. Festschrift für Karl-Ernst Laage zum 80. Geburtstag. Würzburg 2000, S. 313-323; hier S. 322.

[18] Brief von Theodor Storm an Hartmuth und Laura Brinkmann, Anfang März 1862. Theodor Storm – Hartmuth und Laura Brinkmann. Briefwechsel. Hrsg. von August Stahl. Berlin 1986., S. 115. Storm betrachtete sie als Texte, die er entweder aufgrund mündlicher Überlieferung niedergeschrieben oder gar auf der Grundlage schriftlicher Vorlagen nur redigiert habe. Sie zählen somit nach Storms späterem Verständnis von Poesie nicht zu seinen eigentlichen Werken.

[19] Brief von Theodor Storm an seinen Sohn Ernst, Husum, 17. Januar 1870 (wie Anm. 2), S. 52.

[20] Vgl. Kleist, Bettelweib von Locarno. Robert Leroy und Eckart Pastor: Die Brüchigkeit als Erzählprinzip in Kleists „Bettelweib von Locarno“. In: Etudes Germaniques 1979, S. 164-175. Wiederabdruck (in Teilen) in einer interessanten Gegenüberstellung zu anderen Interpretationen dieser Gespenstergeschichte in: Deutsch. Das Oberstufenbuch. Duden Schulbuchverlag. Berlin/Mannheim 2009, S. 34-37.

[21] Theodor Fontane: Von Zwanzig bis Dreißig. Erste Ausgabe 1898. Berlin 2016, S. 144f.

[22] Theorie der Geister-Kunde, in einer Natur- Vernunft und Bibelmäsigen Beantwortung der Frage: Was von Ahnungen, Gesichten und Geistererscheinungen geglaubt und nicht geglaubt werden müße. Von Dr. Johann Heinrich Jung genannt Stilling. Nürnberg im Verlag der Raw’schen Buchhandlung 1808.

[23] „Die bisherige allgemeine Vorstellung von der menschlichen Natur bestand darin, daß man sich den Menschen als ein Wesen dachte, das aus Leib und Seele bestünde; […]. Die Seele nannte man Geist, von dem man nun weiter ganz und gar nichts wußte, als daß man seine Wirkungen empfand, und dieß ist auch wieder vollkommen wahr, denn seine Substanz gehört nicht in die Sinnen-, sondern in die Geisterwelt, und kann also von uns im gegenwärtigen Zustand nicht empfunden werden.“ Ebenda, S. 470.

[24] Der Zusammenhang der Seele mit der Geisterwelt. Von Professor W. Stilling. Ludwigsburg 1834.

[25] „Repertorium der gesammten deutschen Literatur“. Hg. von E. G. Gersdorf, Leipzig 1834, S. 534: „Die Einleitung und der Schluss bemühen sich, aus den geheimnissvollen, mystischen, nicht abzuleugnenden, aber auch nicht hinlänglich verbürgten Erscheinungen des Seelenlebens Ueberzeugungsgründe für den ‚Zusammenhang der Seele mit der Geisterwelt‘, namentlich für die Unsterblichkeit abzuleiten. Den Hauptinhalt bilden aber dergleichen Beispiele selbst, welche hier in ziemlich bunter Auswahl zusammengestellt sind. Erscheinungen, Geistersehereien, Träume, besonders vorbedeutende, magnetisches Fern-Sehen und Wirken, Todesahnungen, zweites Gesicht (23 Beispiele) u.s.w., erhalten hier ihre Belege. Nur selten sind die Quellen, aus welchen der Vf. geschöpft hat, angegeben; Einiges mag wohl auch Glauben verdienen; Anderes aber ist höchst zweifelhaft, […]. Wer also dieses Buch auch nur als Materialsammlung benutzen will, wird Vorsicht anwenden müssen.“.

[26] Das Wort „Bewusstsein“ wurde zuerst von René Descartes in einem allgemeineren Sinn gebrauch; der Begriff hat im Sprachgebrauch eine sehr vielfältige Bedeutung, die sich teilweise mit den Bedeutungen von „Geist“ und „Seele“ überschneidet.

[27] In Platons Philosophie ist die Seele (ψυχή psychḗ) als immaterielles Prinzip des Lebens individuell unsterblich. Ihr Dasein ist von dem des Körpers gänzlich unabhängig; sie existiert vor seiner Entstehung und besteht nach seiner Zerstörung unversehrt fort. Phaidros 250c.

[28] Eine solche Position vertritt Max Scheler in seiner Schrift Die Stellung des Menschen im Kosmos. Schelers Standardwerk von 1928 liegt als Studienausgabe (nach der 3. durchges. Aufl. 1995 der Gesammelten Werke, Bd IX herausgegeben von Manfred Frings) in der 18. Auflage 2010 vor. Sie wird zurzeit im Zusammenhang mit kosmologischen Grundfragen erneut diskutiert in dem Beitrag von Hedda Hassel Mørch: Is Matter Conscious? Why the central problem in neuroscience is mirrored in physics. In: Nautilus, April 6, 2017. http://nautil.us/issue/47/consciousness/is-matter-conscious. Deutsche Übersetzung aus dem Englischen von Matthias Rugel: Wie kommt der Geist in die Natur? Von Hedda Hassel Mørch. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 14. Januar 2018, Nr. 2, S. 64f.

[29] Vergl. Christian Begemann in: Hans Richard Brittnacher und Markus May (Hrsg.:) Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 1913, S. 100ff.

[30] Gerd Eversberg: „Das Nummerträumen“. Eine unbekannte Erzählung Theodor Storms und ihre Bedeutung für das Verständnis seiner Spukgeschichten. In: STSG 64 (2015), S. 74 – 109.

[31] Leipzig : Baumgärtner. 1803-1818.

[32] Mitgeteilt von Justinus Kerner. Stuttgart 1832.

[33] Mitgeteilt von Justinus Kerner. Stuttgart 1836.

[34] Eine solche Annahme wird übrigens von den meisten von uns stillschweigend als richtig unterstellt, wenn wir uns Filme und Fernsehserien anschauen, in denen Geister erscheinen oder – wie im Fall der Matrix-Trilogie – eine zeitlich begrenzte Trennung von Leib und Seele dargestellt wird.

[35] Philipp Theisohn hat dazu angemerkt: „Vergleichen wir Storms Herangehensweise an die Spukgeschichte mit deren romantischer Ausprägung, wie sie uns paradigmatisch in Hoffmanns Nachtstücken (1816/17) begegnet, dann wird uns schnell bewusst, dass es Storm beim Spuk gerade nicht um die ‚Phänomene‘ geht.“ Spökenkieken. Storm und das Wissen der Geister. In: STSG 63 (2014), S. 23-39; hier S. 31.

[36] Für die kritische Lektüre meiner Überlegungen und die kollegiale Diskussion danke ich meinem Freund Jean Lefebvre, Reinsbüttel.

[37] Theodor Storm – Gottfried Keller. Briefwechsel. Hrsg. von Karl Ernst Laage. Berlin 1992, S. 92.