Drei Kinderbriefe von Theodor Storm

Theodor Storm gilt als einer der bedeutenden Briefschreiber des 19. Jahrhunderts. Im Husumer Storm-Archiv werden – als Original oder in Kopie – mehrer tausend Briefe aufbewahrt. Neben den geschäftlichen Korrespondenzen gibt es herausragende Briefwechsel mit Dichterkollegen und Freunden sowie eine Fülle von Familienbriefen, die drei Generationen umfassen. Aber auch der erfahrene Briefschreiber muss einmal bescheiden anfangen. Bisher waren nur wenige Briefe aus Storms Jugendzeit bekannt; jetzt sind drei Briefe aufgetaucht, die Storm bereits als Knabe verfasst hat.

Schon in der Familie hat es Schreibanlässe für Storm gegeben, die über bloße Übungen in der Schule hinausgingen. In der bürgerlichen Familie des 18. Jahrhunderts hatte sich eine Briefkultur entwickelt, die das schriftliche Gespräch kultivierte und ihm neue Funktionen im Kontext der Familienbeziehungen zuwies. Kinder schrieben an die Eltern und Großeltern, Studenten legten ihren Vätern Rechenschaft über ihr Studium ab, ausführliche Reiseberichte wurden nach Hause geschickt, Liebende korrespondierten manchmal mehrere Jahre miteinander. Man spricht nicht zu Unrecht von einen „Zeitalter des Briefes“, und es gehört noch in der der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den wichtigsten Aufgaben, die man Kindern nach dem Erlernen der Schreib- und Lesetechnik stellte, formale Briefe an nahe Angehörige zu hohen Festtagen zu verschenken. Das Verhältnis zu den Großeltern hatte ein neue Qualität bekommen; zu ihnen entwickelten die Enkel eine besondere Beziehung, die im Idealfall durch Höflichkeit, Wertschätzung und Aufmerksamkeit von Seiten der jungen und durch liebevolle Zuneigung der älteren Familienmitglieder geprägt war. Die Großeltern strebten im Gegensatz zu Mutter oder Vater eine eher wohlwollende Rolle an und vermittelten eine Atmosphäre der Geborgenheit, in der Elemente der Familientradition an die nächste Generation weitergegeben wurden. Storm zumindest hat dies nach eigenem Bekunden in seiner Familie so erfahren.

Es haben sich in Privatbesitz eine Reihe von Briefen erhalten, die von Theodor und seiner Schwester Helene (geb. 1820) an die Großeltern geschrieben wurden und Auskunft über den Stand der damaligen Schreibkompetenz geben können. Diese bisher unbekannten Briefe befinden sich in einem Album, das Casimir Storm (1865-1918), Sohn von Joannes Storm und Neffe des Dichters, im September 1877 aus alten Familiendokumenten zusammengestellt hat. Sie befinden sich in Privatbesitz und werden hier mit freundlicher Erlaubnis der Eigentümer wiedergegeben.

Storms erster erhaltener Brief wurde zum Jahreswechsel 1826/27 geschrieben. Er war ein Geschenk des 9jährigen Knaben an seiner Urgroßmutter Elsabe Feddersen (1741-1829):

 

1. Januar 1827

Meiner lieben Aeltermutter gewidmet zum Neuen Jahre 1827

Geliebte Aeltermutter

Mit Vergnügen denk ich wieder an das vergangene Jahr, in welchem Du uns so viele Wohlthaten erzeigt hast. Da ich Dir keinen Gefallen wieder erzeigen kann, so bitte ich daß Gott dir noch in diesem Jahr ein glückliches Leben schenke.

Dein Dich liebender Enkel T. Storm

Husum den 1ten Januar 1827.

 

 

Der Brief wurde nach einer Vorlage abgeschrieben und zeigt noch die unsichere Handschrift des Knaben. Dieses Ritual wiederholte sich auch in den folgenden Jahren; die beiden anderen erhaltenen Briefe des jungen Storm sind an seine Großmutter mütterlicherseits Magdalena Woldsen (1766-1854) gerichtet. Zu ihr hatte Storm eine intensivere Beziehung als zu seiner Mutter. Der zweite Brief des nun Zehnjährigen vom Jahreswechsel 1827/28 entspricht inhaltlich im Wesentlichen dem aus dem Vorjahr, weist aber bereits eine lebendigere Sprache auf; Storm besucht nun die Tertia der Gelehrtenschule.

 

2.      1. Januar 1828

Liebe Großmutter

Ich freue mich daß Du in dem zurückgelegten Jahre noch so gesund und wohl geblieben bist und wünsche, daß Du noch viele Jahre in demselben Zustande bei uns verleben mögest. Empfange denn meinen Dank für die vielen Wohlthaten, die Du uns im vorigen Jahre erwiesen hast; ich kann Dir meinen Dank zwar nicht anders zu erkennen geben als daß ich mich bestrebe Dir immer wohlgefalligend zu seyn.

Husum, den 1ten Jan.

Dein Enkel T. Storm

 

Ein Jahr später entstand aus gleichem Anlass der dritte Brief; der nun 11jährige Storm unterschreibt erstmals mit seinem vollen Namen, den er auch in den nächsten Jahren führen wird.

 

3.      Dezember 1828

Meiner lieben Großmutter gewidmet zum neuen Jahre 1829

Liebe Großmutter,

Ich sehe mich beim gegenwärtigen Jahreswechsel genöthigt, Dich für alles Gute und für alle Wohlthaten, die du mir im alten Jahre erzeigt hast zu danken. Diese kann ich dir freilich bei weitem nicht wieder erzeigen, aber ich will doch suchen, Dir durch mein Betragen so viel als möglich zu gefallen und immer besser zu werden. Gott möge dich auch noch lange zu unsrer Freude gesund und vergnügt erhalten. Nehme denn diese wenigen Zeilen als Wunsch aus reinem Herzen von

Deinem

gehorsamen Enkel

Hans Theodor Woldsen Storm an.

 

 

 

Die Entwicklung Storms in diesen drei Jahren zeigt, dass die Fähigkeit zum Briefschreiben früh erworben und geübt wurde. Bei der Entfaltung seines stilistischen Vermögens hat natürlich auch die Schule eine wichtige Rolle gespielt. Eltern, die ihre Kinder auf die Gelehrtenschule schicken wollten, vermittelten ihnen die Elementarkenntnisse in Lesen, Schreiben und Rechnen entweder durch Hauslehrer oder – wie im Falle Theodor Storms – durch den Besuch in einer privaten Schule, die als Winkel-, Neben- oder Klippschule bezeichnet wurde. Über die Zeit vor Storms Eintritt in die Gelehrtenschule seiner Vaterstadt haben wir nur durch seinen Hinweis in der autobiographischen Notiz „Aus der Jugendzeit“ Kenntnis, wo er schreibt: „Mit 4 Jahren kam ich in eine Klippschule, welche von einer alten Hamburger Dame gehalten wurde. Ein widriges Geschick hatte sie zur Kinderlehrerin gemacht. [...]Sie wurde von allen Kindern Mutter Amberg genannt.“

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es in Husum neben der Gelehrtenschule vier Bürgerschulen und eine Armenschule. Die Gelehrtenschule wurde in den Jahren von 1826 bis 1831 von 72 Schülern besucht, danach sank die Schülerzahl auf 56 und schwankte schließlich zwischen 34 (1838) und 45 (1845). Die Bürgerschulen (für Jungen und Mädchen) besuchten in diesem Zeitraum ca. 600 Kinder. Storm wurde Ostern 1826 mit 9 Jahren in die Quarta der Husumer Gelehrtenschule aufgenommen. Sie war als Reformationsgründung eine der humanistischen Bildungsanstalten im Herzogtum Schleswig und konnte 1827 bereits auf eine dreihundertjährige Tradition zurückblicken. Auch im 19. Jahrhundert blieb es Aufgabe der Gelehrtenschulen, junge Menschen auf das Studium an der Landesuniversität Kiel vorbereiteten, auf der man studieren musste, wenn man ein Amt als Arzt, Pastor, Lehrer oder Jurist in den Herzogtümern anstrebte; darüber hinaus vermittelte die Institution dem kaufmännischen Nachwuchs eine humanistische Grundbildung. Nach einem Jahr wechselte der Schuler Theodor Storm in die Tertia, die er wie die Sekunda drei Jahre besuchte, danach war er seit Ostern 1833 Primaner. Insgesamt verbrachte er neuneinhalb Jahre in der Gelehrtenschule seiner Vaterstadt. Seine ersten Briefe entstehen also in der Zeit des Übergangs zur Gelehrtenschule, wo für den fantasiebegabten Knaben der „Ernst des Lebens“ beginnt.

Storm hat den Brief später in einer Weise kultiviert, der für die bürgerliche Lebensart des 19. Jahrhunderts typisch ist; neben seiner Lyrik und Novellistik sind die Briefe das dritte literarische Genre, in dem er Herausragendes geleistet hat.

 

 Zu den Abbildungen:

Briefe aus Privatbesitz; Fotos: Storm-Archiv Husum.