Storms lyrische Vorbilder: Die Wochenblattpoesie
Die ersten Gedichthandschriften Storms datieren von 1833; in den beiden folgenden Jahren hat er eine ganze Reihe von lyrischen Texten verfasst, bei denen er sich an Vorbildern im Husumer Wochenblatt orientierte. Hier fand er auch Gedichte von Christian Ulrich Beccau (1809-1867), einem jungen Advokaten in Husum, ebenfalls ein ehemaliger Schüler der Gelehrtenschule, mit dem er später Freundschaft schloss. Beccaus Gedichte erschienen 1836 im Verlag des Husumer Wochenblattes als Buch.
Aber auch an anderen Vorbildern orientierte sich der angehende Dichter, so an Henriette Freese, einer mit der Hamburger Schriftstellerin Amalia Schoppe befreundeten Dichterin, die ihre Gedichte vor allem in Schleswig-Holsteinischen Wochenblättern veröffentlichte. Von ihr sind während der Schulzeit Storms in verschiedenen Jahrgängen der Husumer Wochenblätter eine Reihe konventioneller Gedichte erschienen. Ihr widmete er folgendes Poem, das allerdings nicht zum Druck kam:
An Henriette Freese bei Übersendung eines Lorbeerzweigs. Nimm hin, o Dichterin, berühmt in Deutschlands Gauen, Nimm hin den Musenlohn, bekränze dir das Haupt! Ein Zeichen sei es dir, d<a>ß <au>ch in Husums Auen, Man an d. schöne Kunst der holden Musen glaubt. |
Die erhaltenen Gedichte aus dieser Zeit zeigen, dass Storm mit Formen und Vermaßen experimentierte; so enthält seine Handschrift Beispiele für alle damals beliebten Rätselgedichttypen, aber auch Paraphrasen von antiken Texten, in denen er verschiedene klassische Versmaße nachahmte. Bis Ende 1835 hat Storm 42 Gedichte in sein Büchlein „Meine Gedichte“ eingetragen; etwa ein Drittel davon lassen Einflüsse des Unterrichts an der Husumer Gelehrtenschule erkennen, die übrigen sind Rätselgedichte und Liebeständeleien, die der bis in die 1830er Jahre wirksamen Anakreontik nachempfunden wurden.
Die Wochenblattpoesie dieser Jahre war der Lyrik des späten 18. Jahrhunderts orientiert, so dass Storms erste Versuche wie verspätetes Rokoko anmuten. Natürlich schrieb Storm auch eine Reihe von Liebesgedichten, darunter mehrere, die vielleicht fiktiven, vielleicht auch wirklichen Geliebten gewidmet waren. Dass der junge Dichter zu diesem Zeitpunkt bereits versucht, seine Verliebtheit in konventionellen literarischen Gesellschaftsspielen zu überhöhen, zeigen einige bisher unbeachtete Spuren im Husumer Wochenblatt. Im „Briefkasten“, einer das Heft mit dem Impressum abschließenden Spalte mit oft nur für den entsprechenden Einsender von Gedichten und Erzählungen verständlichen Nachrichten, findet sich am 3. Mai 1835 folgender Hinweis: „‚Der Entfernten’ soll nächstens das volle Herz des Sängers zu Füßen gelegt werden.“ Das Gedicht selber hat der Buchdrucker Heinrich August Meyler, der das „Königlich privilegirte Wochenblatts“ seit 1813 herausgab, aber erst im November 1836 veröffentlicht. Da befand sich Storm bereits in Lübeck und besuchte dort das Katharineum.
Der Entfernten
Eilende Winde
Wieget euch linde
Säuselt mein Liedchen der Lieblichen vor;
Vögelein singet,
Vögelein bringet
Töne der Lust an ihr lauschendes Ohr.
Oeffne dich, Rose,
Schwellet, ihr Moose,
Reiht euch, ihr Blumen, zum duftigen Kranz;
Weilt ihr am Herzen,
Horcht ihren Schmerzen,
Scheuchet den nagenden Kummer hinaus.
Schimmernde Sterne,
Strahlt aus der Ferne
Himmlischer Höhen ihr Freude und Lust,
Freundliche Sterne,
Wärt ihr nicht ferne,
Leuchtet ihr tröstend der trauernden Brust.
Es handelt sich um das dritte der bisher ermittelten Gedichte Storms, das er am 6. November 1836 im Husumer Wochenblatt veröffentlich hat. Das erste gedruckte Gedicht Storms, „Sängers Abendlied“, erschien bereits im Juli 1834. Und am 26. Juli 1835 folgte ein Silbenrätsel, das bisher nicht mit Storm in Verbindung gebracht worden ist.
Charade An Auguste.
Wie mancher fühlt' als Dich er sah |
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Die Lösung der Charade wird eine Woche später veröffentlich: „Herzhaft.“
Dass Storm der Verfasser dieses Rätselgedichts ist, liegt nahe, da es üblich war, derartige spielerische Tändeleien mit den Vornamen der beteiligten Personen zu zeichnen, um eine gewisse Pikanterie im Freundes- und Bekanntenkreis zu erzeugen.
Charaden sind Rätsel in Gedichtform; gesucht ist ein Wort, das aus mehreren Silben besteht. Das Gesuchte ist derart verschlüsselt, dass die Auflösung zwar Scharfsinn und ein gewisses Sachwissen erfordert, aber grundsätzlich möglich ist. Die Verschlüsselungen beruhen oft auf einer semantischen Mehrdeutigkeit oder Paradoxie. Im 18. Jahrhundert wurde das Rätsel vor allem Gegenstand der Kinderliteratur, hatte aber dann noch einmal im frühen 19. Jh. eine gesellschaftliche Funktion wie unser Beispiel aus Husum. Storm hat sich in allen Formen des Rätselgedichts versucht, er orientierte sich dabei an Vorbildern im Husumer Wochenblatt und er hatte ein Buch aus der Bibliothek der Gelehrtenschule ausgeliehen, in dem er Rätselgedichte fand. Dies wissen wir aus dem Namenseintrag Storms in dem Buch des Heider Lehrers H.J. Jacobsen, das auch Charaden enthält.
Storm hatte bereits im Februar desselben Jahres eine Charade im Wochenblatt veröffentlicht, das zweite überhaupt gedruckte Gedicht des jungen Poeten:
Charade.
Bald wird die Ruh’ der Ersten
Drei entschwinden,
Läßt du die Vierte jemals sie empfinden;
Denn schlägt das Ganze erst die unheilbare Wunde,
So ist das Leben Pein, Vernichtung jede Stunde.
Die Lösung dieses Rätselgedichts lautet „Gewissensbiß“.
Da weder im Freundeskreis noch im Husumer Wochenblatt der Name Theodor noch einmal vorkommt, ist die Autorschaft Storms sehr wahrscheinlich. Wer mit „Auguste“ gemeint war, wussten nur Eingeweihte. Vermutlich handelte es sich um Auguste von Krogh, die Tochter des Husumer Amtmanns, zu deren Familie die Storms eine sehr herzliche Beziehung hatte. Hans Ernst Godsche von Krogh (1778-1852) war seit 1826 Amtmann der Ämter Husum und Bredstedt mit Sitz in Husum sowie Oberstaller von Eiderstedt. Aus seiner Ehe mit Agnes von Warnstedt – sie starb 1829 – waren vier Kinder hervorgegangen. Ferdinand Christian Hermann von Krogh (geboren 1815) war Mitschüler Storms an der Gelehrtenschule; Auguste (geboren 1811) war die älteste von drei Schwestern (Louise, geb. 1819 und Charlotte, geb. 1827). Zu Auguste muss der junge Storm eine tiefe Zuneigung gehabt haben. Die Freundschaft mit den Kindern der Familie von Krogh setzte Storms auch nach seinem Studium in Kiel fort; in der 1840er Jahren organisierte die Jugend der beiden Familien gesellige Veranstaltungen, und man traf sich in Storm Gesangverein.
Ob Storm sich später, als er 1870 seine autobiographische Skizze „Der Amtschirurgus – Heimkehr“ für die „Zerstreuten Kapitel“ konzipierte, an diese Auguste erinnert hat, muss Vermutung bleiben, jedenfalls beschreibt er seinen eigenen Auftritt bei den alljährlich Ende September zu Michaelis stattfindenden Redefeierlichkeiten der Husumer Lateinschüler: „Was blieb endlich mir übrig, der ich schon damals in einigen Versen gesündigt hatte? Ich, selbstverständlich: »besang«. »Mattathias, der Befreier der Juden«, so hieß meine Dichtung, welche der Rektor mir ohne Korrektur und mit den lächelnd beigefügten Worten zurück gab, er sei kein Dichter.“ Dann aber erwähnt er eine ganz persönliche Wahrnehmung: „unter den Zuhörerinnen hatte ich ein Paar wohlbekannte vergißmeinnichtblaue Augen entdeckt, die mit dem Ausdruck zarter Fürsorge auf mich gerichtet waren.“
Neun Jahre später, am 5. Mai 1844, heiratete „Guste“, wie sie im Freundeskreis genannt wurde, den zweiten Stadtsekretär von Altona, Johann Christian Hilmers. Anlässlich dieser Hochzeit widmete Storm, der zu diesem Zeitpunkt bereits mit Constanze Esmarch verlobt war, ihr das Gedicht „An Auguste von Krogh“, in dem es heißt:
So löst du denn, was früher du verbunden,
Und schließt auf’s Neu den innigsten Verein –
Nimm dies zum Abschied: alle guten Stunden,
Die ich dir danke, sollen mit dir sein!
Doch darfst du nicht so leicht von hinnen gehen,
So leicht erwerben nicht dein neues Glück;
Den Himmel mußt du erst durch Tränen sehen;
denn viele Liebe läßt du hier zurück.
Allerdings war Auguste von Krogh sechs Jahre älter als Storm und wird im Jahre 1835 die Zuneigung des noch nicht achtzehnjährigen Primaners kaum erwidert haben. Denkbar als Adressantin ist auch Auguste Hedwig Rehder, die Tochter des Kaufmanns, Ratsherren und Abgeordneten der Schleswigschen Ständeversammlung Peter Heinrich Rehder. Auch dieses Mädchen gehörte zu seinem Bekanntenkreis, ihr Vater war mit Storms Vater befreundet und ihr Bruder Franz Heinrich Simon (1821-1908) besuchte die Husumer Gelehrtenschule. Wahrscheinlich kann aber mit der öffentlichen Ansprache im Wochenblatt nur eine reife Frau gemeint sein.
Abbildungen
Charade. In: Husumer Wochenblatt vom 26. Juli 1835. (Nissenhaus Husum)
„An Henriette Freese“. Gedichthandschrift von Theodor Storm. (Storm-Archiv Husum)
Christian Ulrich Beccaus (1809-1867) Gedichte erschienen 1836 im Verlag des Husumer Wochenblattes. (Bibliothek der Hermann-Tast-Schule Husum)
Auguste Adele Charlotte von Krogh (1811-1885). (Foto: Storm-Archiv Husum)
Ein Exemplar in der Bibliothek der Hermann-Tast-Schule Husum mit Storms Namenseintrag.