Die Puppenspiele in Storms Novelle „Pole Poppenspäler“

 

In seiner 1874 geschriebenen Novelle „Pole Poppenspäler“ führt uns Theodor Storm zurück in die Vergangenheit; wir erleben eine Kleinstadt am Rande des deutschen Kulturraums um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, deren Alltag noch ganz von Kaufleuten und Handwerken bestimmt wird und die inmitten einer landwirtschaftlich geprägten Umgebung liegt.

Umschlag einer Ausgabe des Westermann-Verlages (nach 1900)

In dieser kleinen Lebenswelt ist alles wohlgeordnet; die ehrbaren Handwerksmeister gehen ihrer Arbeit nach und liefern solide Produkte an ihre Kunden; die Frauen verwalten den Hauhalt und erziehen die kleinen Kinder. Die größeren gehen in die Schule und erledigen am Nachmittag ihre Hausaufgaben. Einer von ihnen ist der etwa 12jährige Paul Paulsen; nachdem er seinen schulischen Pflichten nachgekommen ist, beschäftigt er sich in seiner Freizeit nicht etwa mit Sport oder sonst einem Hobby, sondern er erprobt seine Fertigkeiten in einem der Handwerksbetriebe, was seinen Vater dann auch dazu bestimmen wird, für den Sohn eine Handwerksausbildung als Drechsler zu wählen. Die Karriere ist klar vorgezeichnet: Der fleißige Geselle wird hinausgehen in die Fremde und sich schließlich zum Meister ausbilden, damit er nach dem Tode des Vaters dessen Werkstatt übernehmen und das Familienunternehmen zu neuer Blüte führen kann.

Illustrationen der Erstausgabe der Novelle in: Deutsche Jugend. Leipzig 1874.

In dieser Idylle bricht nun die Unordnung aus. Zunächst kommt ein kleines Fuhrwerk angefahren, das eine ärmliche Familie mit ihrem seltsamen Hausrat in die Kleinstadt transportiert, deren Fremdartigkeit den jungen Paulsen mächtig interessiert.

Es war ein zweirädriger Karren, der von einem kleinen rauhen Pferde gezogen wurde. Zwischen zwei ziemlich hohen Kisten, mit denen er beladen war, saß eine große blonde Frau mit steifen hölzernen Gesichtszügen und ein etwa neunjähriges Mädchen, das sein schwarzhaariges Köpfchen lebhaft von einer Seite nach der anderen drehte; nebenher ging, den Zügel in der Hand, ein kleiner, lustig blickender Mann, dem unter seiner grünen Schirmmütze die kurzen schwarzen Haare wie Spieße vom Kopfe abstanden. So, unter dem Gebimmel eines Glöckchens, das unter dem Halse des Pferdes hing, kamen sie heran.

Am nächsten Morgen kündigt der Stadt-Ausrufer mit seiner Bierstimme an:

Der Mechanikus und Puppenspieler Herr Joseph Tendler aus der Residenzstadt München ist gestern hier angekommen und wird heute Abend im Schützenhof-Saale seine erste Vorstellung geben. Vorgestellt wird Pfalzgraf Siegfried und die heilige Genovefa, Puppenspiel mit Gesang in vier Aufzügen.

Paul lernt das Töchterchen der Puppenspieler kennen, kann ihr einen Gefallen tun und darf in der ersten Vorstellung auf einem der vorderen Plätze sitzen. Das Marionettentheater hat eine gewaltige Wirkung auf die Fantasie des Knaben, die Puppen laufen ihm nicht nur, wie sein Vater sagt „in die Schule nach“, sondern sie bevölkern auch seine Träume. Die vertraute Welt droht ihm aus den Fugen zu geraten; eine seltsame Sehnsucht beherrscht ihn, die Sehnsucht nach Ausbruch, nach dem Fremden, Unbekannten, nach Abenteuer. Und der Erzähler hält nicht lange hinter dem Berg und lässt uns Leser schnell erkennen, dass der Knabe aber eigentlich nicht so sehr die Puppen liebt, sondern Lisei, die Tochter der Puppenspielers, begehrt.

Da haben wir wieder einmal eine jener Kindfrauen, wie wir sie in Storms Erzählungen häufiger treffen. Ein noch vorpubertäres Mädchen, das in dem Knaben eine Ahnung von Erotik und Liebe erzeugt und ihm für die Zukunft etwas verspricht, was der arme Junge jetzt noch gar nicht kennt. Storm spricht in diesem Zusammenhang gerne von einer „phantastischen Ahnung“. In anderen Texten schildert der Dichter uns konkreter, was sich hinter dieser Formel verbirgt und entfaltet einen lebendigen Bilderkomplex von hoher erotischer Spannung. In unserer Novelle allerdings, die ja als Lektüre von Jugendlichen gedacht war, überlässt Storm diese Details der Fantasie seiner Leser. Wir erfahren nur, wie der erwachsene Paul Paulsen einige Jahre später das nun auch zur hübschen Frau herangewachsene Lisei in der Gosse aufliest und rettet, indem er sie zu Frau nimmt.

Und etwas Belehrendes hat Storm in seine Novelle hineingeschrieben, damit die jugendlichen Leser im deutsche Kaiserreich auch ja keine Zweifel an der Gefährlichkeit des unsteten Lebens des Fahrenden Volkes beschleicht: Zwar handelt es sich bei den Tendlers um durchaus ehrbare Leute, aber der Puppenspieler scheitert schließlich mit seinem Gewerbe und ihm wird symbolisch der Kasperl mit ins Grab gegeben: Mit ihm ist die Zeit des Gaukelspiels vorbei. Natürlich wird dieser Frevel von einem der missratenen Söhne des schlechtesten und verkommensten Handwerkers der Stadt ausgeführt, während Paul Paulsen eben der Prototyp des geachteten Handwerksmeister geworden ist, denn sein Versuch, selber die Marionetten zu bedienen, endete schon beim ersten Versuch damit, dass der den Kasperl zerbrach. Und so, wie sein Vater, der Drechslermeister, und nicht etwas der alte Tendler, der sich selber als „Mechannikus“ bezeichnete, die Mechanik der Marionette reparieren konnte, so rettet Paul später Lisei, als das Familiengeschäft am Ende ist und sie nicht mehr aus noch ein weiß.

Doch nicht das Motiv der Rettung eines Mädchens aus der Gruppe der Fahrenden Leute ist hier Thema, die von der Ständegesellschaft so lange ins Abseits geschoben wurden, zu den Spitzbuben, Beutelschneidern, Zuhältern, Totengräbern und Abdeckern, bis sie aus Not selber das Klischee der unehrenhaften Leute erfüllen mussten. Storm führt uns im ersten Teil der Novelle einen Teil des kulturellen Lebens vor, das den Menschen im deutsche Kulturraum des 18. und auch noch des 19. Jahrhunderts sehr vertraut war, das der fahrenden Marionettenspieler.

Eine Marionette ist eine Gliederpuppe, die von einem Marionettenspieler mit Hilfe von Fäden bewegt wird, die an den einzelnen Gliedern befestigt sind. Das Baumaterial war früher in der Regel Holz. Für die Köpfe wurde häufig Lindenholz verwendet, da es eine feine Maserung aufweist, weich genug ist um einfach bearbeitet zu werden, und hart genug um langlebig stabil und bruchfest zu bleiben. Im Gegensatz zu Handpuppen kann hier die ganze Figur dargestellt und bewegt werden, also auch der Unterkörper, bzw. die Beine, was eine naturgetreuere Darstellung der Figur zulässt. Außerdem kann der Spieler völlig verdeckt agieren, sodass nur die scheinbar eigenständige Figur für das Publikum sichtbar bleibt. Diese Umstände führten im 19. Jahrhundert zu einer Mode, Theaterstücke oder auch Opern unmittelbar auf die Marionettenbühne zu übertragen und „kleine Menschlein“ handeln zu lassen, was weder den Stücken noch dem Medium Figurentheater gerecht wurde.

Lithographie von 1829. in: Kölner Geschichtsjournal 1.1976, S. 10.

Die komplizierteste Marionette muss scheitern, verlangt man von ihr die Fähigkeiten eines Menschen. Direkte Handlungen wie z.B. Greifen, innige Umarmungen oder auch kraftvolles Zuschlagen in einer Rauferei liegen ihr ursprünglich nicht, da sie nur den Pendelgesetzen und der Schwerkraft gehorcht. Mit eigens dafür entwickelten Figuren sind natürlich auch solche Situationen zu bewerkstelligen, dann aber entwickelt sich das Spiel unter Umständen eher zur Artistik. Geht es dagegen um Indirektes und vor allem um Gestalten, die sich von der Schwerkraft lösen, ist die Marionette naturgemäß jedem Schauspieler überlegen.

Das Marionettentheater lässt sich im deutschen Kulturraum bis in das 16. Jahrhundert zurückverfolgen; wahrscheinlich sind die Gliederpuppen von italienischen Gauklern aus Asien eingeführt worden. Zunächst waren es die Wanderschauspieler, die bei schlechtem Wetter in ihren Buden die Holzpuppen auspackten und mit ihnen die gleichen Stücke aufführten, die sie sonst auf der Bretterbühne mit menschlichen Schauspieler darboten. Im 18. Jahrhundert entwickelte sich das Marionettentheater als fester Bestandteil von Jahrmärkten, das zur Unterhaltung von Erwachsenen und Kinder diente. Diese Puppentheater waren mobil, zogen also mit den Schaustellern von Ort zu Ort. Themen der Aufführungen waren vor allem Sagen, Märchen sowie bekannte Opern wie die Zauberflöte oder Theaterstoffe wie der des „Faust“.

Wie wir es bei einem Autor wie Theodor Storm erwarten dürfen, hat er die Welt des Marionettenspiels nicht nur nach seinen eigenen Erfahrungen und  Erlebnissen im Husum der 1820er und 30er Jahre gestaltet, sonder er hat sorgfältig recherchiert, als er der Bitte des Verlegers Julius Lohmeyer nachkam, der ihn gebeten hatte, für seine  neue Zeitschrift „Deutsche Jugend“ eine Erzählung zu liefern.

1. Seite von Storms Manuskript (Storm-Archiv, Husum).

Bei der Durchsicht älterer Jahrgange des ,,Husumer Wochenblatts“ muss Storm auch auf den Namen ,,Geißelbrecht“ gestoßen sein, der uns in der Novelle als Schwiegervater von Tendler begegnet und der als ,,berühmter“ Puppenspieler vorgestellt wird. Der 1762 in Hanau geborene Johann Georg Geißelbrecht war in der Tat ein berühmter Marionettenspieler, der sich auch als Darsteller von ,,Ombres Chinoises“, das sind Schattenspiele, einen Namen gemacht hatte. 1817, im Geburtsjahr Storms, reiste er durch die Herzogtümer Schleswig und Holstein und gastierte auch in Husum. Vom 27. April bis 15. Juni zeugen sieben Anzeigen in der ,,Beilage zum koniglich privilegirten Wochenblatt“„ von seinen Aktivitäten; unter anderen Stücken kündigte er auch ,,Doctor Faust, eine Zauberkomödie in 5 Aufzügen“ an.

Biographische Einzelheiten über den Mechanikus, nach dessen Vorbild Herr Tendler konzipiert wurde, und nähere Informationen über Geißelbrechts ,,Faust“ fand Storm in der Ausgabe des Faust-Puppenspiels von Karl Simrock, das 1846 in Frankfurt am Main im Druck erschienen war. Geißelbrecht galt als geschickter Mechanikus, der seine großen ,,reichgekleideten Kunstfiguren“ nicht bloß überzeugend zu führen wusste, sondern sie auch mit allerlei technischer Raffinesse auszustatten verstand. In Storms Bibliothek stand noch ein weitere Fassung eines Faust-Puppenspiels, das von Wilhelm Hamm 1850 in Leipzig nach dem Manuskript von Guido Bonneschky veröffentlicht hatte. Die beigegebenen Holzschnitte vermittelten dem Dichter eine Vorstellung von der Technik des Marinonettenspiels.

Storm hat also auch bei den Arbeiten an ,,Pole Poppenspäler“ Erlebnisse aus seiner Kindheit und Jugend mit dem Material verknüpft, das er bei seinen sorgfaltigen Recherchen zu seiner Novelle 1873/74 zutage forderte und für seine Zwecke auswertete. Zu den Erinnerungen und Dokumenten kamen Lesefrüchte hinzu, die aus seiner weitgreifenden Lektüre von älterer und zeitgenossischer Literatur stammten.

Der jugendliche Paul Paulsen in Storms Novelle ,,Pole Poppenspaler“ wird durch den Besuch des Marionettentheaters, das der Mechanikus Joseph Tendler in der Stadt an der Nordsee eröffnet hat, aus seinem Alltag herausgerissen; die Wirkung, die das Puppenspiel auf ihn hat, entspricht der Faszination, der auch Theodor Storm als Kind erlag. In ihren 1922 veröffentlichten Erinnerungen lässt Gertrud Storm ihren Vater aus seiner Jugendzeit berichten, wie er mit Freunden zuerst ein Papiertheater einrichtete und dann mit Stoffpuppen zu spielen versuchte.

Einen großen Zeitraum von mehreren Jahren habe ich meine ganze Freiheit außer der Schule mit der Direktion meines Puppentheaters ausgefüllt; zwei Schulkameraden, Krebs und Olhuus, waren dabei meine Gehilfen. Eine alte Jungfrau, bei der Olhuus wohnte, half uns die Puppen, die freilich nur von Papier waren, ausschneiden und eiserne Drähte daran befestigen. Sie ließ in den Aufführungen den Papageno tanzen und sang dazu mit einer schonen Fistelstimme: ,,Der Vogelfänger bin ich, ha, hops heisa lustig, hopsasa!“, was mir die ungemischteste Freude machte. Das erste Stuck, das wir aufführten, war aus einer Gedichtsammlung eines gewissen Petzel aus Tonning und stellte die Geburtstagsfeier eines Grafen Rantzau vor. Obgleich die Puppen steif waren, so erntete doch eine jugendliche Figur, welche die junge Gräfin Sophie vorstellte, besonderen Beifall. Ich erinnere mich, dass sie mir besonders lieblich vorkam, so dass ich beinah eine Art phantastischer Neigung für sie bekam. Meine verstorbene Schwester Lucie, die ich von allen Geschwistern am meisten liebte, sprach nach dieser Vorstellung auch öfters von der ,,niedlichen Gräfin Sophie“.

Mit Totstechen, wie der Wilhelm Meister, haben wir nie etwas zu tun gehabt, dagegen gelang uns Donner und Blitz vorzüglich mit Kupferplatten und Hexenpulver. Aber, o weh, als ein papierner, bunter Regenbogen ganz zierlich an einem Zwirnsfadenherabgelassen wurde, krellte sich der Zwirn und der Regenbogen zeigte die weiße Kehrseite.Zwar verloren sich die Knaben, wie es ähnlich Goethe von Wilhelm Meister erzählt, in den Vorbereitungen und kamen nicht zum eigentlichen Spiel vor Publikum, doch dies innige Verhältnis zum Puppenspiel hielt ein Leben lang an und hat dem Dichter bei der anschaulichen Gestaltung der Theaterszenen seiner Novelle geholfen.

Storm erwähnt vier Marionetten-Stücke; das bekannteste davon ist der ,,Doktor Faust“.

Wilhelm Hamm: Das Puppenspiel vom Doktor Faust. Leipzig 1850.

Die Faust-Sage handelt von einem jungen Mann namens Johann Faust, Sohn eines Bauern, der nach dem Besuch der Schule in Wittenberg Theologie studiert und den Doktorgrad erwirbt. Später studiert er auch „Medizin, Astrologie und was sonst mit der Magie zusammenhing.“ Er ererbt ein Vermögen von seinem Vetter, gibt dies aber schnell aus. „Sein unbegrenzter Durst nach Erkenntnis“ führt dazu, dass er in einem Wald bei Wittenberg den Teufel beschwört, der „in der Gestalt eines grauen Mönches“ erscheint und am nächsten Tag wiederkommen will. Dies geschieht, wobei der Teufel „zunächst als Schatten hinter dem Ofen und dann als zottige Bärengestalt mit einem Menschenkopf“ auftritt. Faust schließt einen Bund mit dem Teufel ab. Der Teufel soll ihm 24 Jahre lang dienen, dafür soll er Fausts Seele bekommen. Der Vertrag wird mit Fausts Blut unterzeichnet. Der Teufel „solle ihn nach 24 Jahren holen dürfen; wenn bis dahin alle seine Wünsche erfüllt würden.“ Der Teufel nennt sich Mephistopheles und dient Faust gemäß dem Vertrag. „Er verschafft ihm auch einen Famulus, Christoph Wagner mit Namen, und den wunderbar gelehrigen Pudel Prästigiar.“ Faust frönt fortan dem Genuss. Er beginnt zu reisen und „seine magischen Künste“ zu zeigen. In Leipzig reitet er auf einem Weinfass aus Auerbachs Keller, in Erfurt zapft er Wein aus einer Tischplatte, er besucht den Hof des Papstes in Rom, den Sultan in Konstantinopel, den Kaiser in Innsbruck und den Grafen von Anhalt. Nach 16 Jahren bereut er den Vertrag und will ihn aufheben, doch der Teufel schließt einen erneuten Pakt mit ihm. Er verschafft ihm Helena aus Griechenland, mit der Faust einen Sohn namens Justus zeugt, unter der Auflage, dass beide mit Faust sterben müssten. Darum bestimmt Faust seinen Famulus zu seinem Erben. Am letzten Tag der 24 Jahre erscheint „Satan, der Oberste der Teufel“ ihm in furchterregender Gestalt und kündigt ihm für die kommende Nacht den Tod an. Zweimal verhindert Mephistopheles den Selbstmord des Verzweifelten. Den letzten Abend verbringt er im Dorf Rimlich in der Gesellschaft seiner Freunde. Er bewirtet sie, „ermahnt sie zur Buße und Frömmigkeit“ und nimmt Abschied von ihnen. Zwischen Mitternacht und ein Uhr zieht ein starker Sturm auf. In Fausts Zimmer entsteht „ein Höllenlärm“. Am nächsten Morgen finden die Freunde die Wände im Zimmer mit Blut und Hirnmasse bespritzt, Fausts Augen liegen auf dem Boden, sein Leichnam im Hof „auf dem Miste“. Er wird „in aller Stille“ begraben.

Dieser Stoff wurde seit dem Ende des 16. Jahrhunderts vielfach bearbeitet und dabei immer wieder umgeformt. Man konnte davon in den so genannten „Volksbüchern“ lesen und auf den Bühnen der Wanderschauspieler Spektakuläres sehen. Schon früh bemächtigten sich die Marionettenspieler des Stoffes und brachten den „Doktor Faust“ in immer wieder veränderten Fassungen auf die Bühne, so dass noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts fest jedermann einmal die Geschichte vom Teufelsbündner und seinem schrecklichen Ende gesehen hatte. Den Puppenspielern verdanken wir es auch, dass die Gestalt des Hans Wurst oder später Kasperl, in das Stück hineinkomponiert wurde. Damit zerstörten die Marionettenspieler das hohe Pathos Faust, wie es uns erst wieder in Goethes Dichtung begegnet und konfrontierten den Helden mit einem Antihelden, jenem Kasperl, der als Vertreter der Unterschicht das Geschehen bei Hofe und die bürgerlichen Tugenden persiflieren durfte.

Wilhelm Hamm: Das Puppenspiel vom Doktor Faust. Leipzig 1850.

Storm entnahm die in der Novelle beschriebenen Szenen dem Faust-Puppenspiel Karl Simrocks, das 1846 erschienen war und von dem Storm ein Exemplar besaß. Bei Simrocks Fassung handelt es sich um eine Bearbeitung, die der Literaturwissenschaftler nach älteren Quellen des dramatisierten Fauststoffs gedichtet hat“. Das Faust-Puppenspiel gehörte zu den bekanntesten Stoffen auf der Marionettenbuhne und zahlte bei allen reisenden Bühnen zum unverzichtbaren Standardrepertoire. Es ist im 17. und 18. Jahrhundert als Ableger einer dramatisierten Fassung der alten Faust-Sage von den Wanderbuhnen zu den Puppenspielern gekommen und hat nur dort den Niedergang des Wanderschauspieler-Gewerbes überlebt.

Der folgende Monolog des Kasperle aus Simrocks Puppenspiel zeigt im Vergleich, wie eng sich Storm bei der Gestaltung der Dialoge des ,,Doktor Faust“ an den Text angelehnt hat.

Casperle

(tritt auf mit einem Felleisen.)

Wenn mich jetzt mein Vater Papa sehen thät, der würd sich gewiss was Rechts freuen. Denn er pflegt' immer zu sagen: Casperle, mach, dass du dein Sach in Schwung kriegst. O jetzund hab ich mein Sach in Schwung, denn ich kann mein Sach haushoch werfen (wirft sein Felleisen in die Höhe). Ha! jetzund bin ich auf zehn Jahr versorgt, wenn ich gleich in zwanzig nix brauch. Zu allererst (mit stolzer Miene das Felleisen öffnend) hab ich in meinem Ranzen einen funkelnagelneuen Rock; der Überzug und das Futter - hehe! liegt aber noch beim Kaufmann im Laden; ich darf aber nur das Geld heimschicken, so krieg ich das Zeug, das Futter, die Knöpfe, alles gleich vom Stuck abgeschnitten. Dann hab ich noch ein Paar Stiefeln - die Schafte und die Sohlen liegen aber noch beim Schuster. Aber Spaß beseit: es ist doch eene verzweifelte Sach, wenn man ein vacierender Gesell ist und keinen Herrn finden kann. Da lauf ich nun schon eine halbe Ewigkeit herum und kann keinen Dienst kriegen, und wenns so fort geht, behalt ich kerne heile Sohl an meinen Füßen und Hunger hab ich dabei, ich wollt alle Berge wegessen und wenns lauter Pasteten wären, und das ganze mittellandische Meer wollt ich aussaufen und wenns lauter Champagner war. Aber Potz Blitz Mordbataillon! Hier soll ja ein Wirthshaus sein und ich sehe doch keinen Krug, kein Glas, keinen Wein, kein Bier und auch keinen Kellner. Muss doch einmal Lärm machen. Heda, Kellner, Hausmeister, Kammerdiener, Hausknecht, Kammerjungfer, Wirthschaft! Heda, ein fremder Prassagier ist angekommen.

Die erste Vorstellung, die Paul in Tendlers Marionettentheater ansehen darf, ,,Pfalzgraf Siegfried und die heilige Genoveva, Puppenspiel mit Gesang in vier Aufzügen“, beeindruckt den kleinen Paul besonders. Als Erwachsener erinnert sich Paul lebhaft an die ersten Szenen des ersten Aufzuges und endet die Schilderung mit dem Hinweis an die Adresse des jugendlichen Rahmenerzählers: ,,Und nun spielte das Stück sich weiter, wie es in deinem Lesebuch gedruckt steht.“

Aus dem zweiten Akt erfährt der Leser nur, dass dort Kasperl im gelben Nankinganzug auf die Bühne springt und ,,Pardauz“ schreit und ,,Hier nix und da nix! Kriegst du nix, so hast du nix!“.

Theaterzettel von Geißelbrechts Bühne, Nürnberg 1797.

Der Genovefa-Stoff entwickelte sich aus einer Legende, die aller Wahrscheinlichkeit nach von einem Mönch um das Jahr 1300 im Kloster Maria-Laach in der Eifel verfasst worden ist.

Genoveva von Brabant ist der Sage bzw. Legende nach die Tochter eines Herzogs von Brabant und die Gemahlin des Pfalzgrafen Siegfried. Dass es sie im Frühmittelalter tatsächlich als historische Person gegeben hat, ist höchst unwahrscheinlich. Die entsprechenden Schilderungen folgen in weiten Teilen immer wieder anzutreffenden Grundmotiven und erscheinen so als über Jahrhunderte lange Erzähltradition entwickeltes Arrangement, wobei auch typische Namen für typische Charaktere auffallen. So stellt Siegfried den Grundtypus eines adligen Hausherren der frühen deutschen Geschichte dar, während bei Genoveva das Motiv des Zwiespaltes zwischen "männlicher" Gerechtigkeit und "weiblicher" Rettung erkennbar ist, das auch in der Legende der Heiligen Genoveva vorliegt. Als Siegfried, (als Gefolgsmann des Königsvielleicht ist Karl Martell gemeint) in den Krieg zog, wurde Genoveva durch Siegfrieds Statthalter Golo begehrt, dessen Werben von der treuen Genoveva verschmäht wurde. Daraufhin beschuldigte er Genoveva fälschlicherweise des Ehebruchs und verurteilte sie zum Tode. Vom Henker wurde sie jedoch verschont und frei gelassen. Darauf lebte sie mit ihrem neugeborenen Sohn sechs Jahre lang in einer Höhle, in welcher die Gottesmutter Maria sie mittels einer Hirschkuh versorgte. Schließlich fand ihr Ehemann Siegfried, der stets an ihre Unschuld glaubte, sie wieder und errichtete zum Dank für Genovevas Errettung die Wallfahrtskirche zu Fraukirch.

Theaterzettel von Geißelbrechts Bühne, Güstrow 1814.

Dieser Stoff erlangte als ,,Volksbuch“ eine große Verbreitung; bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts entstanden in Deutschland zahlreiche Genovefa-Dramen, und bis 1750 sind fast dreißig Aufführungen belegt. Auch als Haupt- und Staatsaktion erfreute sich der Stoff größter Beliebtheit bei den Wanderschauspielertruppen, die im 17. und 18. Jahrhunden von Stadt zu Stadt zogen. Von dort ist das Stuck schließlich auf das Marionettentheater gelangt, wo es neben dem ,,Doktor Faust“ bald zum Zugstück wurde.

Da bis zum Erscheinen von Storms Novelle kein gedrucktes Puppenspiel vorlag, muss er aus einer anderen Quelle geschöpft haben. Nach 1800 erschienen Genovefa-Dramen von Ludwig Tieck (1799), Maler Müller (1811) und (neben vier weiteren Dramen unbedeutender Verfasser) im Jahre 1853 Friedrich Hebbels ,,Genovefa. Tragödie in fünf Akten“.

Sämtliche späteren Bearbeitungen des Stoffs kommen als Quellen nicht in Betracht, weil sie erst nach Fertigstellung der Novelle durch Storm veröffentlicht wurden. Der damals weit verbreitete Roman ,,Die Vagabunden“ von Karl von Holtei (Breslau 1852) enthält mehrere Szenen, die Storm wahrscheinlich als Anregung zur Gestaltung seines ,,Pole Poppenspäler“ benutzte; dort wird auch ein Genovefa-Puppenspiel erwähnt. Am Schluss des dritten Teils des Romans wird dann auf Hebbels Drama ,,Genoveva“ (1841) direkt Bezug genommen. In Holteis Roman und Hebbels Drama finden wir die Vorlagen, nach denen Storm seine Darstellung des ersten Aufzugs der Marionettenaufführung Tendlers gebildet hat.

Storm entwarf die Szenen nach seiner eigenen Fantasie und hielt sich nicht so streng an die Vorlage, wie er das beim Puppenspiel vom Doktor Faust getan hat. Das war auch kaum möglich, weil er ein Drama auf die Marionetten-Bühne zu übertragen hatte. Dennoch lassen sich Parallelen zu Hebbels Tragödie finden, die ziemlich gewiss auf eine Verwendung oder zumindest auf die genaue Kenntnis des ersten Aktes schließen lassen. Die Beschreibung der Szene in der Burg, die Paul als erste zu sehen bekommt, entspricht bis in die Details den Regieanweisungen bei Hebbel; auch Siegfrieds Ritt gegen die ,,Mohren“ und die Charakterisierung Golos als ,,Zu jung zum Bruder und zu alt zum Sohn“ wurden von Storm verwendet. In der Novelle heißt es vom Pfalzgrafen Siegfried: ,er wollte gegen die heidnischen Mohren in den Krieg reiten und befahl seinem jungen Hausmeister Golo [...] in der Burg zurückzubleiben.“ Schließlich haben auch die Trompetentöne, die Paul beim Abzug der Puppen-Ritter hört, ihre Quelle in Regieanweisungen der Abschiedszene bei Hebbel. Nur die beiden Marionettenstücke ,,Genovefa“ und ,,Faust“ werden von Storm genauer beschrieben; er hat damit die Hauptstücke der fahrenden Marionettenbuhnen des 19. Jahrhunderts ausgewählt, die an allen Spielorten regelmäßig zur Aufführung kamen. Ohne dass er vom Wirken des Mechanikus Geisselbrecht nähere Kenntnis hatte, lässt Storm dessen erfundenen Schwiegersohn Tendler genau die beiden Marionettenstücke spielen, die der wirkliche Mechanikus über Jahrzehnte auch tatsachlich im Repertoire hatte.

Im zweiten Teil der Novelle wird ein Stück mit dem Titel ,,Der verlorene Sohn“ erwähnt, von dem Lisei bei ihrer zweiten Begegnung mit dem nun erwachsenen Paul erzählt. Über dieses Stück erfahren wir in der Novelle keine Einzelheiten; es handelt sich um eine bei den Marionettenspielern ebenfalls weit verbreitete dramatische Bearbeitung des Gleichnisses vom verlorenen Sohn aus dem Lukasevangelium. Storm fand dieses Stück im zweiten Band der Sammlung "Deutsche Puppenkomödien" von Carl Engel, der seine Texte zwischen 1874 und 1892 in 12 Heften herausgab.

Der Jüngere Sohn verlangt von seinem reichen Vater sein Erbteil. Sobald er sein Geld erhalten hat, geht er ins Ausland und verprasst es. Zum Bettler herabgesunken, verdingt er sich als Schweinehirt und hungert dabei so, dass er reumütig zum Vater zurückkehren will, um sich zu seiner Sünde zu bekennen und ihn um eine Stelle als Tagelöhner zu bitten. Der Vater ist jedoch so froh über die Rückkehr des verlorenen Sohnes, dass er ihn festlich einkleidet und für ihn ein großes Fest veranstaltet. Als sich der ältere Sohn über das Verhalten des Vaters beklagt, entgegnet dieser: „Du bist immer bei mir gewesen, was mein ist, ist dein. Freue dich über die Rückkehr deines Bruders, der tot war und wieder lebendig geworden ist.“

Im Puppenspiel wurde besonders die Szene ausgeschmückt, in der der gescheiterte Sohn nach seiner Rückkehr die Schweine seines Vaters hüten muss, und bei dieser Arbeit durch Kasperl verhöhnt wird.

Am Schluss der Novelle finden wir noch einen Hinweis auf ein viertes Marionettenstück. Als Josef Tendler auf dem Altenteil sitzt und das Glück seiner Tochter in der Geborgenheit einer bürgerlichen Existenz betrachten kann, ergreift ihn kurz vor seinem Tode noch einmal der Drang nach seinem alten Gewerbe. So repariert er die Puppen und das Theater, lernt eine ehemalige Souffleuse, das Kröpel-Lieschen, zur Puppenspielerin an und lässt im Wochenblatt folgende Anzeige einrücken:

Morgen Sonntag Abend sieben Uhr auf dem Rathaussaale, Marionetten-Theater des Mechanikus Joseph Tendler hieselbst. Die schöne Susanna, Schauspiel mit Gesang in vier Aufzügen.

Bei diesem Stück, von dem wir durch den Mund des Erzählers keine Einzelheiten erfahren, weil Paul Paulsen als ehrbarer Handwerksmeister nicht in ein Marionettentheater geht, handelt es sich um die dramatische Bearbeitung eines Stoffs aus dem 1. Jahrhundert vor Christi Geburt. Susanne ist nach einem griechischen Zusatz zum Buche Daniel des Alten Testaments eine schone und gottesfürchtige Jüdin in Babylon, die von zwei verschmähten Galanen fälschlich des Ehebruchs beschuldigt wird. Das geschickte Verhör des weisen Daniel rettet sie aber. Susannen-Darstellungen sind in der bildenden Kunst seit dem 4. Jahrhundert nachweisbar; in der Renaissance ist sie häufig im Bade dargestellt worden. Im 16. Jahrhundert wurden verschiedene lehrhafte Dramen verfasst; so gelangte der Stoff wie auch der der heiligen Genovefa über die Dramen der Wanderschauspieler auf die Marionettenbühne.

Pole Poppenspäler, DDR (Defa) 1954; Wolfgang Schwarz und Ines Henning

Man mag in der Erwähnung gerade dieser beiden Stücke durch Storm auch einen Hinweis auf die besonderen fraulichen Qualitäten Liseis sehen, die sich in der Ehe mit Paul Paulsen als tugendhafte Bürgerfrau bewahrt, obwohl sie von ,,Vagabonden“ abstammt, denen selbstgerechte Burger gerne unterstellten, einen unehrenhaften Lebenswandel zu führen. So weist nicht nur der Tod des Puppenspielers am Schluss der Novelle symbolisch auf das Ende des unsteten Lebens dieser fahrenden Leute hin, die sich aus eigener Kraft nicht gegen die Gefahren der Welt und des Wanderlebens schützen können; auch Liseis Rettung in eine gesicherte bürgerlich-handwerkliche Existenz wird nur möglich, weil sie der Welt ihrer Eltern entsagt und weil sie diejenigen Tugenden verkörpert, durch die sich auch die Heldinnen der Marionettenkomödien auszeichnen.

Insgesamt sehen wir also, dass Storm in seiner Novelle nicht nur ein lebendiges Bild des kleinstädtischen Lebens seiner Jugendzeit gezeichnet hat, mit seinen Traditionen, Werten und Widersprüchen. Er hat darüber hinaus ein kulturgeschichtlich bedeutsames Phänomen geschildert, das Marionettenspiel, und er hat einem seiner besten Vertreter, dem Puppenspieler Geißelbrecht ein schönes Denkmal gesetzt.

Pole Poppenspäler, Bundesrepublik Deutschland (ZDF) 1968; Walter Richter

 

Literatur: Gerd Eversberg: Theodor Storm. Pole Poppenspäler. Text, Entstehungsgeschichte, Quellen, Schauplätze, Abbildungen. Heide 1992. (Editionen aus dem Storm-Haus 2.)