„Bürgers trunkene Liebesphantasie“
Theodor Storm und Gottfried August Bürger

Der Dichter Gottfried August Bürger (1747-1794) gehört zu jenen Autoren, von denen Storm gegenüber Gottfried Keller einmal gesagt hat[1]: „Ich habe so meine stille Freude daran, die alten Herrn des 18. Jahrhunderts in ihren schmucksten Originalausgaben um mich zu haben.“ Die erste Bekanntschaft mit den Werken Bürgers geht bereits auf die Schulzeit in Husum zurück, über die der Dichter im Jahre 1875 in einem Rückblick auf die Begegnung mit Eduard Mörike schreibt[2]:

 Auf der alten Gelehrtenschule meiner Vaterstadt wußten wir wenig von deutscher Poesie, außer etwa den Brocken, welche uns durch die Hildburghausensche »Miniaturbibliothek der deutschen Classiker« zugeführt wurden, deren Dichter aber fast sämtlich der Zopf- und Puderzeit angehörten. Zwar lasen wir auch unseren Schiller, dessen Dramen in der Stille eines Heubodens oder Dachwinkels von mir verschlungen wurden, und selbst ein altes Exemplar von Göthe’s Gedichten kursierte einmal unter uns; daß es aber lebende deutsche Dichter gebe, und gar solche, welche noch ganz anders auf mich wirken würden als selbst Bürger und Hölty, davon hatte mein siebzehnjähriges Primanerherz keine Ahnung.

In der Bibliothek der Husumer Gelehrtenschule sind noch heute aus der „Etui-Bibliothek der Deutschen Classiker“ die im Jahre 1817 in Aachen gedruckten Werke „Emilia Galotti“, Trauerspiel von Gotthold Ephraim Lessing sowie Gedichte von Johann Gottfried Seume und von L.H.C. Hölty erhalten; außerdem die sechsbändige Ausgabe der Werke Gottfried August Bürgers, die 1929 erschien. Der schlechte Zustand der Bändchen und zahlreiche Namenseintragungen von Schülern zwischen 1828 und 1843 – es war üblich, dass die Schüler ihre Namen in entliehene Bücher eintrugen – belegen eine rege Lektüre.

Der junge Storm hat den Dichter Bürger zunächst als einen „der großen volkstümlichen Poeten des späten 18. Jahrhunderts“[3] wahrgenommen, dessen Bedeutung für die literarischen Öffentlichkeit der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts durch Schillers Urteil geschmälert wurde, der vermeintlich ästhetische Mängel in Bürgers Werk durch moralische und charakterliche Mängel in der Biographie des Verfassers zu erklären versucht und den „gemeinsinnlichen Charakter“ von Bürgers Dichtung sowie den Mangel an „Idealisierkunst“ kritisierte hatte. Der Dichter soll sich nach Schiller nicht an die „Fassungskraft des großen Haufens“ anpassen, sondern sich vielmehr um den „Beifall der gebildeten Klasse“ bemühen.[4] Und obwohl Bürgers Werk durch Schillers unberechtigte Kritik fast in Vergessenheit geraten wäre, begann eine zögernde Rehabilitierung, die genau in jene Zeit fällt, in der auch Storm sich intensiv mit Bürgers Werken auseinander setzte. Um 1830, nachdem auch der alte Goethe von Schillers ungerechtfertigtem Verdikt abrückte (Brief an Zelter vom 6. November 1830) und einräumte, dieser Dichter „wird in der Geschichte der deutschen Literatur mit Ehren genannt werden“, wurde Bürger als bedeutender Klassiker wahrgenommen. Ein Vierteljahrhundert später hat Storm dann selbst dazu beigetragen, Bürgers Rang für die Entwicklung der deutschen Lyrik ins öffentliche Bewusstsein zu rücken.

Günter und Hiltrud Häntzschel, die Herausgeber der letzten bedeutenden Werkausgabe, merken an[5], „daß Bürger nicht nur der epochemachende Balladendichter und der Verfasser bzw. Verbreiter des Münchhausen ist, sondern auch als einer der bekanntesten Lyriker zwischen Anakreontik, Empfindsamkeit und Sturm und Drang gilt und gleichzeitig als Satiriker und Kritiker im Lichtenbergschen Geist agiert. Seine theoretischen Schriften zeigen, daß Bürger - wie zur selben Zeit Herder - die Regelpoetik der aufklärerischen Ästhetik durch neue, ungewohnte Töne »von der Popularität der Poesie« zu bereichern sucht. In seinen Gedanken zur Übersetzung und in seinen sprachkritischen Schriften wirkt er als Experimentator, wie er auch in seinen Gedichten oft auf bisher unbekanntes Terrain vorstößt, wobei er tradierte Muster durch persönliches Engagement auflockert und in Frage stellt. Als langjähriger Herausgeber des »Göttinger Musenalmanachs« stellt er den Kontakt zwischen Autoren und Publikum seiner Zeit her.“

Wie intensiv das Werk Bürgers auf die Entwicklung von Storms Poesie Einfluss genommen hat, wurde bisher in der Storm-Forschung kaum beachtet; meine Untersuchungen zeigen, dass Storm während seiner Schulzeit nicht nur Gedichte im Stile dieses Vorbilds schrieb, sondern dass ihm die Lektüre Bürgers auch Anregungen für seine erste Erzählung „Celeste“ vermittelt hat. Darüber hinaus setzte sich Storm mit dem lyrischen Werk Bürgers bis zu Beginn der 1880er Jahre immer wieder auseinander und grenzte sich dabei mit eigenen Werken von seinem einstigen Vorbild ab; als Herausgeber zweier ambitionierter Anthologien, in denen er sein eigenes Lyrikverständnis kritisch reflektierte und durch die Auswahl der dem Publikum vorgestellten Gedichte auch programmatisch demonstrierte, räumte er Bürger neben Goethe dem ihm gebührenden Platz ein. Storm fand in einigen von Bürgers Gedichten erstmals jenen „Naturlaut“, der für ihn im Liebeslied Beleg dafür war, dass der Dichter eine Empfindung festhalten, auf den Leser übertragen und so zu einer künstlerischen Einheit von Hören, Empfinden und Schauen zu verbinden vermochte. In Bürgers Leben, für das er sich ungewöhnlich intensiv interessierte, fand er schließlich Parallelen zu seinen eigenen, in frühen Phasen seines Lebens oft problematischen Liebesbeziehungen, die er mit ganz ähnlichen Worten wie sein Vorbild zumindest sprachlich beherrschen konnte.

 

Storms lyrische Vorbilder

Storms Beschäftigung mit Leben und Werk Bürgers erstreckte sich über fünf Jahrzehnte; die ersten Leseeindrücke gewann er als Schüler um das Jahr 1830[6], als er die 1829 in Göttingen erschienene Ausgabe von Gottfried August Bürgers Werken aus der Schulbibliothek entlieh.[7] Noch im Alter[8] erinnerte er sich an seine Lektüre von Bürgers Ballade „Lenore“[9]. Die letzte Beschäftigung mit dem Dichter lässt sich für das Jahr 1879 belegen, als Storm eine 5. Auflage seiner Lyrikanthologie „Hausbuch aus deutschen Dichtern“ vorbereitete.

Zunächst lernte er Bürger als Klassiker kennen, der eine Liebeslyrik geschaffen hatte, die Storm sich bei vielen frühen Dichtversuchen zum Vorbild nahm. Von den ca. 100 Gedichten, die er zwischen Sommer 1833 und 1837 während seiner Schulzeit in Husum geschrieben hat, sind ein Drittel in der Nachfolge der Anakreontik des 18. Jahrhunderts gestaltet, deren tändelnder Ton noch immer einen Teil der damaligen Wochenblattpoesie bestimmte; einige Texte stehen in der Tradition der Nachahmung antiker Klassiker und lassen sich auf den Unterricht an der Gelehrtenschule zurückführen. Auch hierin fand er im Werk Bürgers Vorbilder, so in dessen Nachdichtungen der Homer’schen Epen und in den Motiven aus der griechischen Mythologie, die sich in einigen Gedichten finden. Als sich Storm in Lübeck mit der neuesten deutschen Literatur, also mit Goethe, Heine, Gutzkow, Platen, Eichendorff und anderen beschäftigte, erwarb er in der von Rhoden’schen Buchhandlung die druckfrische Prachtausgabe von „Büger’s sämliche(n) Werke(n)“, die 1835 von August Wilhelm Bohtz herausgegeben wurde, und die zu einer positiveren Bewertung vor allem von Bürgers Gedichten beitrug.[10] Während der drei Semester am Lübecker Katharineum orientierte sich Storm an literarischen Vorbildern und ahmte Gedichte nach, die in dem halben Jahrhundert nach Goethes epochaler früher Naturlyrik entstanden waren. Als er 1836 einen lokalen Sagenstoff zu dem Erzählgedicht „Der Bau der Marienkirche zu Lübeck“ umformte, nahm er sich Bürgers Balladen als Vorbilder; Storms Gedicht entspricht formal durchaus dem Niveau der damals blühenden Balladendichtung.[11]

Storms frühe Leseerfahrungen stifteten eine hohe Sensibilität für den modern wirkenden Ton in einigen der Liebesgedichte Bürgers, in denen dieser tradierte Formen und Inhalte durch ein Erlebnis zu einer unmittelbareren Darstellung zu bringen versuchte, als dies in der Tradition der Anakreontik möglich gewesen war. Der junge Dichter fühlte sich auch von Bürgers persönlichen Lebenssituation angesprochen, da auch er sich in einer Lage befand, die durch einen Zwiespalt gekennzeichnet war; seiner Liebessehnsucht steht die Erfahrung der unerfüllbaren Liebe entgegen, die sich in seelischen Schmerzen zeigt. Wünschen, Hoffen und Sehnen stehen der Erfahrung von Kälte, Enttäuschung und Abgewiesenwerden gegenüber. Daher die Verbindung der extremen Motive von Liebessehnen und Todesahnung, die einigen der in Husum entstandenen Gedichte ihren Spannungsbogen verleiht. Ganz ähnlich sieht es bei Storm in der Lübecker Zeit aus. Sein Liebessehnen wird von Emma Kühl von der Insel Föhr, mit der er sich am 3. Oktober 1837 überstürzt verlobte, nicht erwidert; seine Zuneigung zu Bertha von Buchan zielt zunächst auf ein noch nicht liebesfähiges Kind und wird später ebenfalls enttäuscht. So wie das lyrische Ich bei Bürger dem Zwiespalt seiner Gefühle hoffnungslos ausgeliefert ist, so leidet auch Storm noch bis in die Brautzeit in zwanghafter Weise an der vermeintlichen Unerfüllbarkeit seines Sehnens.

Ein Beispiel aus der Lübecker Zeit ist das Gedicht „Träumerei“ [12], in dem Storm auf einen idealen Begriff von Liebe und Schönheit verzichtet und sich um die Wiedergabe von Empfindungen bemüht und versucht, die inneren Vorgänge in Naturbildern auszudrücken:

Träumerei

 

Auf weichem Moose ruhen meine Glieder,

Und laue Schatten flossen um mich her,

Sanft rauscht der Wald, die Quellen klingen leise,

Hoch auf am Himmel wogt das Sternenmeer;

Rings auf der Wiesen schimmernd grüne Pfühle

Ergießt der Abend seine duft’ge Kühle.

 

Und wie das Dunkel so die Welt umschleiert,

Erblüht im Geiste eine neue Welt;

Die Blume, die der Abend eingeschläfert,

Die goldne Frucht, der Buche hohes Zelt

Erschaut das trunkne Aug’ mit einem Male

In milder Sonnen purpurlichtem Strahle.

 

Auf eines Wundersee’s bewegtem Rücken

Trägt mich ein Nachen durch die blaue Flut;

Und eingewiegt in leichte Wunderträume

Mein herzig Mädchen mir im Arme ruht.

Rings aus den Wogen Zaubertöne dringen,

Die, ewig alt, doch ewig jung erklingen.

 

Um Mast und Ruder sprießen frische Rosen,

Die Segel glühn im roten Sonnenglanz;

Mein Mädchen lächelt, meine Rosen blühen,

Mein Nachen schwebt im leichten Wogentanz;

Durch Blut’ und Schilf in zaubrischem Getriebe

Singt leiser Hauch das Märchen von der Liebe. –

 

Und weiter schwankt die sanftgewiegte Barke

Vorbei an Tempel, an smaragdne Höhn;

An meiner Brust zwei milde Sonnen glühen,

Zwei milde Sonnen, die nicht untergehn.

Und weiter geht’s mit Scherz und Kuß und Tränen,

Mit süßer Lust und nie gestilltem Sehnen.

 

Da teilt ein Eiland die besonnten Küsten,

Ein voller Hafen winkt uns gastlich zu,

Geschmückte Tempel, reichbekränzte Hütten,

Am Ziel der schönen Fahrt auch süße Ruh. –

Voll warmer Lust die Herzen höher schlagen,

Als uns hinein die sanften Wellen tragen.

 

Die Barke ruht am heiß ersehnten Ziele,

Ein holder Taumel hat das Herz erfüllt;

Doch bald entweicht er – – Meine Blicke suchen

Umsonst, umsonst das schöne Zauberbild.

Mein Lieb verblühet, meine Rosen bleichen,

Das Ufer füllen graue Riesenleichen.

 

In matter Ferne nur ein leises Rauschen

Gemahnet an das schöne Wundermeer. – –

Da weckt mich Lautenklang aus schwerem Träume,

Am hohen Himmel zieht die Sonn’ daher. –

Freu’ dich, mein Herz, schwer hat die Nacht gelogen,

Noch schwebst du froh auf reichen Wunderwogen.

 

In acht sechszeiligen Strophen aus fünfhebigen Jamben entfaltet das lyrische Ich ein zunächst sanftes Naturbild, eine idyllische Wiesenlandschaft erscheint im sprachlichen Gewand traditioneller Phrasen der Rokokolyrik unter dem Sternenmeer; aus dem Gefühl der Seeligkeit eröffnet sich eine gesteigerte Traumwelt. Die Bilderflut gerät in Bewegung; das lyrische Ich schwimmt mit seinem Mädchen in trunknem Liebesrausch auf einem Wundermeer dahin; das nie gestillte „Sehnen“ führt die beiden schließlich zu einer Liebesinsel mit einem Hafen, dessen „Geschmückte Tempel“ das konventionelle Inventar einer idealisierten barock-antiken Mittelmeerlandschaft zieren. Getragen wird das ganze von einer erhabenen Stimmung, die der Text mit großem sprachlichen Aufwand durch eine ungezügelte Fülle von emphatischen Adjektiven und Substantiven beschwört. Dann schlägt die Stimmung um, und das Bild des vollen Lebens und der Lust weicht einem Alptraum; schon das Wort „Barke“ signalisiert den Umschlag, denn es bezeichnet ein Schiff ohne Segel, mit dem in der griechischen Mythologie die Seelen in die Unterwelt fahren. Nun „verblüht“ das Mädchen, die Rosen „bleichen“ und die landschaftliche Idylle wird durch „Riesenleichen“ erdrückt. Der holde Taumel der Liebe mündet in eine Todesahnung, die aber in der letzten Strophe durch das Erwachen des lyrischen Ichs relativiert wird.

Storm spürte bereits zu diesem Zeitpunkt, dass die hohe Form der Dichtung, wie sie aus der Antike bis in die Zeit des späten 18. Jahrhunderts hinein etwa bei Klopstock und Voss, aber auch in seinen eigenen Versuchen der „Imitatio“ antiker Formen noch einmal aufgegriffen wurde, nun nicht mehr trägt. Dieser Teil seiner Jugendlyrik besteht bloß aus der Nachahmung von vorgegebenen Mustern und lässt jede individuelle Eigenständigkeit vermissen. Die Orientierung an lyrischen Vorbildern aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war für den jungen Storm nur eine Episode. Vielleicht spürte er bei der Lektüre von Bürgers Liebesgedichten, eine Untergattung, die ihm später als Muster für die Naturdichtung überhaupt galt, wie dieser die starre Regelpoesie seines Zeitalters überwinden wollte, indem er in seinen Gedichten Leben, Gefühl und vor allem subjektive Leidenschaften gestaltete. Bürger hat in den Vorreden zu seinen Gedichtausgaben mehrfach betont, er wolle ein populärer Dichter sein; und August Wilhelm Schlegel hat in seinem Essay[13] bereits im Jahre 1800 darauf hingewiesen, dass Popularität und Korrektheit kein Widerspruch sein müsse. Schlegel versteht unter „popularen“ Gedichten solche, die auch von wenig gebildeten Menschen verstanden werden können, sofern sie nur „klar“ formuliert sind. Diese Forderung widerspricht nicht dem Verlangen nach formaler Geschlossenheit, ohne die im 18. Jahrhundert kein Dichter Anspruch auf öffentliche Wahrnehmung erheben konnte. Wer die Grundlagen der Prosodie nicht perfekt beherrschte, galt nicht als Dichter. Insofern konnte Schlegel darauf hinweisen, dass ein Teil der Poesie mit Recht nur für ein gebildetes Publikum bestimmt war.

Da einige von Storms Jugendgedichten mehr als ein Vierteljahrhundert später aus den gleichen Wurzeln einer genauen Kenntnis der klassischen Prosodik erwuchs, konnte er sich Bürger sehr nahe fühlen. Der junge Storm war von Bürgers Dichtung deshalb fasziniert, weil dieser „in bisher unbekannter Intensität literarische Ausdrucksweisen seiner Zeit mit neuen Energien auffrischt und anreichert, indem er eine unmittelbare, oft distanzlose Verbindung von Literatur und Leben verwirklicht, leidenschaftlich und temperamentvoll dichtet, subjektive Erfahrungen poetische umsetzt und damit die regelgebundene Poetik der Aufklärung und des Rokoko als obsolet erscheinen läßt, die empfindsame Methode durch sinnlich-konkrete Elemente übertriff.“[14] Genau diese Momente versucht Storm in Gedichten wie „Träumerei“ zu gestalten; wir werden ihnen auch in seiner ersten Erzählung „Celeste“ wieder begegnen.

Nachdem Storm sich intensiv mit Heinrich Heine auseinander gesetzt hatte, löste sich seine Lyrik von solchen Formen und folgte einem eigenen Konzept, dem Idealtypus des rein lyrischen Gedichts, das phrasenhaft-rhetorische Reflexionen vermeidet und ohne didaktischen Anspruch auf die Unmittelbarkeit sensueller Präsenz setzt.[15] In einigen der kurzen Naturgedichte, so in den „Ritornellen“, die Anfang 1843 in einem poetischen Dialog mit Theodor Mommsen entstanden sind, vollzieht sich ein grundlegender Wandel in der Darstellung der Naturwahrnehmung, und Storm findet zu einer eigenständigen neuen lyrischen Ausdrucksform. Er entfaltet zum erstenmal seine „spezifische Konstellation von Subjekt und Welt“[16], die auch seine weiter Lyrik bestimmen wird. Dabei knüpft er am „Erlebnisgedicht“ der Goethezeit nur an und macht sichtbar, wie sich das Erleben selber gewandelt hat. Die Gleichstimmung von Außen- und Innenwelt, wie sie für die Lyrik Eichendorffs noch bestimmend war, erscheint bei Storm nicht mehr als harmonische Einheit von Welt und Ich. Das lyrische Ich erfährt die Welt als ein fremdes Gegenüber, das nicht zu ihm spricht und ihm nicht mehr in einem unmittelbaren Erleben einen „Sinn“ offenbart. Dennoch verstummt der Dichter nicht, wird das lyrische Ich nicht sprachlos; allerdings kann es die Naturerfahrung nur als Seelenzustand darstellen, das Erlebte also bloß mit den Mitteln der Poesie nachbilden, immer aber mit einem deutlichen Zeichen der Distanz, die gelegentlich auch den Ansatz einer Reflexion beinhaltet und dann – vor allem in Storms Todesgedichten – verstummt.

 

 Storms erste Prosadichtung: „Celeste“

Ein bisher kaum beachtetes Manuskript mit der Erzählung „Celeste“ ist die einzige Prosaarbeit, von der ein Manuskript aus diesem Zeitraum bekannt ist.[17] Es handelt sich bei diesem Text um die erste poetische Erzählung des damals 19jährigen Storm, eine Liebesgeschichte, die durch einen Erzählrahmen als bloßer Traum erkennbar wird. Einen motivverwandten Paralleltext stellt das gleichzeitig entstandene epische Gedicht „Träumerei“ dar. Die Erzählsituation entspricht der damaligen Seelenverfassung des Primaners, der sich nach Zuneigung und Liebe sehnte.

 

Celeste, eine Phantasie[18]

                                                                             Ich überlasse mich, o Feder deinen Grillen!
                                                                                                                                    Bürger

 Weit hinaus auf dem Meere schwammen die dunkeln Trümmer unseres Schiffes, im rötlichen Abendscheine, den die purpurne Sonne scheidend ausgoß über die beruhigten Wogen. Fabelhafte Blumen streckten ihre Blätter und Blüten aus der Tiefe des Meeres und hauchten süße Wohlgerüche gegen die Küste, gewiegt auf den kristallnen Wassern, die über bunte Muscheln und funkelnde Steine murmelnd an den goldfarbigen Sand heraufrauschten.

Immer abendlicher ward es; ein lauer, leichter Hauch kräuselte die Fluten des Meers, und Phöbus sank in die weichen Arme der Thetis. –

Ich stand am Meere und schaute ernst hinaus; neben mir stand Celeste, und ihre rosigen Wangen waren bleich geworden wie die Blätter der Lilie. Denn jenseit des dunkeln, unermeßlichen Meeres lag unsre Heimat, unsre freundliche Heimat; aber die treulosen Wellen hatten die schwankende Brücke zerschellt und führten die Trümmer weit und weiter hinweg in verschwimmende Ferne, wo sie unsern Augen entschwanden, wie die süßgehegten Hoffnungen unsrer Seele. – Und wie wir so standen und schauten, flossen die blauen Abendnebel um uns her und legten sich über die schläfrigen Wasser; langsamer rieselten die Wellen herauf, und wenn sie züchtig Celestens zarten Fuß geküßt, rollten sie träumend, wie berauscht in ihr weites Bette zurück. –

Celeste und ich: wir waren allein auf dieser blühenden Insel, abgeschloßen von allen übrigen Menschen der Erde durch die weiten Arme des ewigen Meers. „Celeste<“>, sprach ich, und erfaßte ihre Hand, <„>weit hinter den grauen Rätseln dieses Meeres, weit, weit, liegt unsre Heimat. Willst du mir ganz vertrauen, Celeste? – Celeste, willst du meine Schwester sein?“ So sprach mein Mund; aber mein Herz sprach: „Celeste, Celeste, sei mein Weib!“ Das schöne Mädchen strich sich die braunen Flechten von der verengten Stirne, und die blauen Sterne ihrer Augen ruhten forschend in meinen Blicken. „Deine Schwester sein?“ sprach sie; und eine Träne stahl sich durch die dunkle Wimper. Dann mit ihrer kleinen Hand die hervorquellenden Tränen zerdrückend, legte sie ihren Arm in den meinigen; und sprach mit dem Ausdrucke des heiligsten Vertrauens: „Laß uns zurückgehn; es wird schon spät, mein guter Bruder!“ –

Schweigend gingen wir nach der Grotte zurück. Um uns her schwirrten die bunten Dämmerungsfalter, schwärmend von Blume zu Blume, und berauschten sich im süßen Duft der Blütenkelche; goldbeschwingte Vögel rauschten heimlich durch die blühenden Büsche und suchten ihr süßverstecktes Nest; durch die Wipfel der hohen Platanen flüsterte der leichte Abendwind, und märchenhaft im Lichte des Mondes bewegten sich die zitternden Blätter. –

In der engen Mündung der Grotte hatte ich das Ende einer Schiffsplanke eingepreßt, so daß sie beinahe die Öffnung verschloß; weiches Moos hatte ich reichlich über den kühlen Felsen gebreitet. Ich bat Celeste: „Lege dich schlafen; gewiß, du bist müde, meine gute Schwester!“ Celeste schwieg; aber ich fühlte die Thränen auf meine Hand herabfallen. – Wer war die Mutter dieser Tränen? – – Celeste war allein<,> ganz allein mit mir; um uns her war dunkle Nacht. Mich entzückten diese jungfräulichen Tränen; und ich bat dringender: „Celeste, lege dich schlafen; dein Bruder wird für dich wachen!“ Und das schüchterne Mädchen reichte mir die Hand, und legte sich schweigend auf die weiche Moosdecke. Ich setzte mich zu ihren Füßen, und von außen herein nickten duftende Geißblattranken ein träumerisches Gute Nacht. – „Gute Nacht“ sprach Celeste, und schlief ein. –

Ich vermochte es nicht; ich wachte über meine Schwester, und horchte den leisen Atemzügen ihres Mundes. – „Meine Schwester?“ dachte ich, <„>ach Celeste, warum nur meine Schwester? Aber, bin ich ihrer zarten Jungfräulichkeit diesen Namen nicht schuldig, so lange wir dies einsame Eiland bewohnen? Doch Celeste liebt dich! – Liebt sie dich nicht? – Was bedeutete denn ihr tränenfeuchtes Auge, als du sie Schwester nanntest! – Ach Celeste, wenn du mich liebtest!“ – – Da hörte ich meinen Namen stammeln. – Sie träumte von mir. –

Da rauschte es außen durch die Büsche. Was war das? – Mein Blut erstarrte. Das war das eintönige Geheul der Hyänen; und immer näher kam es der kleinen Grotte, die mich und meinen Himmel umschloß. Ich setzte mich näher an Celestens Seite und beugte mich schützend über sie. Immer lauter schlug das fürchterliche Geheul an mein entsetztes Ohr, meine Pulse stockten vor unnennbarer Angst. Da fuhr Celeste empor aus dem süßen Schlummer; und horchte lautlos mit verhaltenem Atem. „Was ist das? Das sind reißende Tiere!“ flüsterte sie in entsetzlicher Angst, und umklammerte mich mit beiden Armen, daß ich den Schlag ihres Herzens an meiner Brust fühlte. Ich überwand meine eigne Besorgniß, und suchte das zitternde Mädchen zu beruhigen. „Fürchte nichts, Celeste“, sprach ich, <„>die Grotte ist sicher für die Nacht, und sobald der Tag anbricht<,> nehme ich meine Büchse und ziehe aus gegen diese Unholde. – Hörst du, mein süßes Mädchen! Sie sollen dich gewiß nicht wieder in deinen Träumen stören.“ Aber Celeste schloß mich heftiger in die Arme: „Nein, nein!<“> rief sie und ihre Tränen brachen aufs neue hervor, <„>du darfst nicht weg von mir. Die schrecklichen Tiere würden dich zerreißen, und deine arme Celeste stürbe vor Angst und Gram!“ –

Das Geschrei der Hyänen hatte sich nach und nach verloren – Celeste hielt mich noch immer so fest in ihren Armen, daß der Hauch ihres Mundes über meine glühenden Wangen strömte. Ich hatte die Hyänen schon lange vergessen, und fing auch an, meine Schwester zu vergessen. – Meine Brust empörte sich, mein Blut stürmte durch die Adern; ich kämpfte zwischen Himmel und Hölle. „Celeste, Celeste!“ rief ich und – erwachte.

–––

Ich war in meinem Lehnstuhl eingeschlafen; das Licht war tief herunter gebrannt, und vor meinem Fenster tobten Nacht und Sturm. – Ich hatte wieder einmal geträumt. –

–––

Storm gibt selbst durch das Motto einen Hinweis auf seine Quelle, Bürgers Gedicht „Die Königin von Golkonde“, dessen erste Zeile er seiner Erzählung voranstellt. Bürger dichtete seine Verse nach der Prosaerzählung: „Aline, reine de Golconde“ (1761) des französischen Dichters Stanislas Chevalier de Boufflers (1738-1815) und erzählt in Ich-Form von den galanten Erlebnissen eines jungen Edelmannes, der bei einer Jagd in einer abgelegenen Gegend Halt macht und dort einem Bauernmädchen namens Aline begegnet. In einer spontanen Liebessituation verführt und schwängert der Jüngling das Mädchen, verlässt und vergisst es schon bald, wird aber nach einigen Jahren an das Erlebnis erinnert, als er Aline als reiche Dame in Paris wieder trifft. Weitere fünfzehn Jahre später treffen die beiden erneut zusammen, diesmal in Ostindien, wo der nunmehr zum General der französischen Kolonialarmee aufgestiegene Erzähler Aline noch einmal begegnet, die nach dem Tod ihres Mannes bei einer Reise zunächst in Sklaverei geraten, dann aber vom König von Golkonde zur Geliebten erkoren wurde. In einer von ihr nachgebauten dörflichen Landschaft erleben beide die Begegnung ihrer Jugend noch einmal. Der Erzähler muss nach dem zweiten Schäferstündchen fliehen, verliert nach Paris zurückgekehrt sein Vermögen und trifft im Alter erneut mit Aline zusammen, die in einer Wüstenoase beider Alterswohnsitz vorbereitet hat. Das Epos endet mit der Einsicht des Erzählers, dass er sein Glück bisher vergebens gesucht hat: „Ich fand es erst am Abend meines Lebens.“

Diese späte Nachdichtung gehört nicht zu den bedeutenden Werken Bürgers; August Wilhelm Schlegel hat sie als „witzig“ bezeichnet und als Versuch gelesen, „Wielands Manier mit der seinigen zu vereinbaren“ (S. 524); sie hat jedenfalls auf den jungen Storm wegen der unverschlüsselten Darstellung von Liebe und Sexualität eine große Wirkung gehabt. Bürger gestaltet das Liebeserlebnis in einem Rokokogarten, in dem das unverbindliche erotische Spiel in einer verniedlichten Umgebung stattfindet; dieser Garten wird sogar Jahre später in Indien nachgebaut und die Kopie erfüllt ihre Funktion wie das Original beim ersten Mal. Das folgende Zitat gibt nur einen kleinen Ausschnitt des ausufernden Epos wieder.[19]

 

Gottfried August Bürger: Die Königinn von Golkonde. Nach Boufflers Prose.

 

Ich überlasse mich, o Feder, deinen Grillen.
Mein Genius hat sonst wol dich regiert;
Heut sei von dir mein Genius geführt.
Gebiete deinem Herrn! Er fügt sich deinem Willen.

[...]

Ich trat das Lebensalter an,
In welchem die Natur den Jüngling ausgestaltet,
Worin dem kaum vollendeten Organ
Sich eine neue Welt entfaltet:
Das Alter, da des Erdenpilgers Bahn
Allmählich sich zu einer Höh’ erhebet,
Auf welcher, frei von seiner Kindheit Staar,
Das Auge voll Begier hinaus in’s Weite strebet,
Und was es nicht erreicht, die Phantasie erschwebet!
Mit einem Wort, ich zählte sechzehn Jahr.
Ich saß, entfernt von meines Mentors Blicken,
Auf eines raschen Kleppers Rücken,
Und commandirt’ als Feld- – nein! Waldherr – eine Schaar
Von zwanzig wohlgeübten Hunden,
Auf einen Keiler losgebunden.
Man denke sich, wie hochbeglückt ich war!
Nach einem Kampfe von drei Stunden
War uns das Wild, ich weiß nicht wie, verschwunden.
Die Jagd war aus; ich sprengte hin und her;
Umsonst! Da war kein Keiler mehr.
Ich überließ hierauf das Weitre meinen Hunden,
Und, wie mein Klepper, endlich laß,
Stieg ich herab; wir wälzten uns im Gras;
Das Klepperchen fing an zu grasen,
Und ich entschlief auf einem weichen Rasen.

Der Hunger weckte mich; ich aß,
Bedacht auf neue Jägerthaten,
Ein Stückchen Brot und kalten Rebhuhn-Braten.
Das holde Plätzchen, wo ich saß,
War ein geheimes Thal, gebildet von zwei Höhen,
Bekränzt mit Birken und mit Schlehen.
Durch eine Lücke stellte sich,
An eines Hügels sanftem Hange,
Ein Dörfchen dar. Von diesem trennte mich,
Weit ausgedehnt in’s Breite wie in’s Lange,
Ein anmuthsvoller Landesstrich,
Bedeckt mit Gärten und mit Saaten,
Die freundlich meinen Blick sie zu bemerken baten.

Die Luft war rein, der Himmel blau;
Die Bächlein flossen still und heiter;
Es glänzten Blumen, Gras und Kräuter
Noch von Aurorens Perlenthau.
Die Sonne, kaum ein wenig weiter,
Als durch ein Viertel ihrer Bahn,
Ließ auch auf schattenlosem Plan
Ihr Strahlenlicht, gemildert von Zephyren,
Die lebende Natur nur noch zur Wollust spüren. –

Wo sind denn nun die Freunde der Natur,
Die einen Frühlingstag, ein Paradies zu sehen,
Und Sinn und Herz daran zu laben recht verstehen?
Denn ihretwegen mahl’ ich nur.
Mich selber reizte diese Scene
Weit weniger, als eine Bauerschöne,
In weißem Wamms und Rock; ein allerliebstes Ding,
Das muntern Schrittes dort, mit einem blanken Topfe
Voll frischer Mild auf seinem Kopfe,
Vermuthlich seinen Weg zum nächsten Städtchen ging.
„Ach, falle nicht! – war plötzlich mein Gedanke,
Als sie, bestimmt durch ihren Pfad,
Die allzu schmale Brückenplanke
Quer über einen Bach betrat; –
Und wenn du mußt, so falle lieber,
Wann du erst unversehrt herüber
Und hier auf meinem Rasen bist,
Der trockner und auch weicher ist.“
Der Schritt gelang. Bald sah ich mit Entzücken,
Daß sie den Weg nach meiner Gegend nahm.
Je näher sie herangeschritten kam,
Je näher schien sie mir an’s Herz zu rücken.
Unkundig daß, was mir geschehn,
Sprang ich empor, entgegen ihr zu gehn;
Und immer reizender erschien sie meinen Blicken.
So zart, so wohlgebaut, so frisch, so rosenschön
Hat Zeus auf Erden Nichts, im Himmel Nichts gesehn.
Um ein Gespräch mit ihr nach Würden zu beginnen,
Wußt’ ich sogleich auf Nichts mich zu besinnen.
So voll das Herz mir war, so leer fühlt’ ich den Kopf.
Jen’s glich dem Trunkenbold, und dieser war ein Tropf;
Und beide wissen nicht besonders viel zu sagen.
Ins Mittel trat da noch Freund Magen;
Doch adressirte der sich nur an ihren Topf,
Und bat, ihm einen Trunk daraus nicht abzuschlagen.
Sie bot ihn mir mit einer Anmuth dar,
Der sie allein nur fähig war.
Dann fuhr ich fort, sie noch mit zwei, drei Fragen
Nach Namen, Alter, Dorf, und solcherlei, zu plagen;
Und jedes Wort, das ich darauf vernahm,
War werth, daß es aus ihrem Munde kam.

Sie war vom nächsten Dorf; ihr Name hieß Aline.
„Ach! sprach ich, liebe süße Line,
Ich möchte wol dein Bruder sein!“ –
Nicht dies gerade wollt’ ich sagen. –
„Und Ihre Schwester ich!“ fiel sie mit Wohlbehagen
Voll allerliebster Unschuld drein. –
„Doch lieb’ ich dich, bei meiner Ehre,
Nicht weniger, als ob ich’s wirklich wäre“,
Erwiedert’ ich, indem ich sie umschlang.
Alinchen setzte sich zur Wehre,
Und als sie mir entgegen rang,
Fiel ach! ihr Topf; – die Milch floß auf die Erde.
Welch Mißgeschick! – Sie weinte bitterlich;
Riß dann, mit zürnender Geberde,
Voll Ungestüm, aus meinen Armen sich;
Rafft’ ihren Topf auf von der Erde,
Und wollte fliehn. „Ach, wär’ ich erst zu Haus!“
Rief sie voll Angst, glitt auf der Milchstraß’ aus,
Und fiel, so lang sie war, zu Boden auf den Rücken.
Ich flog, ihr beizustehn, doch wollte mir’s nicht glücken.
Denn einer stärkern Macht, als ich,
Gelang es bald, sogar auch mich
In ihren Fall mit zu verstricken. –
Man weiß, ich zählte sechzehn Jahr,
Und funfzehn Jahre war Aline.
Die Alter und dies Plätzchen war
Das rechte, wo am liebsten seine Mine
Der Gott der Liebe springen lässt. –
Aline trübte zwar durch Thränen erst sein Fest;
Bald aber wich der Schmerz der Wonne,
Und lieblich durch’s Gewölk der Thränen brach die Sonne. –

Die Zeit, die still für uns in ihrem Laufe stand,
War dennoch, wie sich endlich fand,
Für andre Wesen fortgelaufen.
Die Sonne sank hinab bis an des Himmels Rand.
Die Abendglocke rief in Haufen
Die Menschen und das Vieh zu Hütt’ und Stall zurück.
„Ach! sagte mit erschrocknem Blick
Alinchen, nun ist’s Zeit, nach Hause mich zu tragen;
Die Mutter möchte mich sonst schelten, oder schlagen.«
Ich selbst noch voll Respect für meine Frau Mama,
Trat auch dem ihrigen deßwegen nicht zu nah’.
„Hin fuhr sie fort, sind meine Milch und Ehre;
Doch ihrethalb verschmerz’ ich den Verlust.“ –
„O geh mit deiner Milch! Als ob nicht deine Brust,
Erwiedert’ ich, so weiß wie diese wäre!
Im übrigen ist ja die Lust
Unendlich süßer, als die Ehre.“ –
Als ich ihr drauf mein Bißchen Baarschaft gab,
Und einen goldnen Ring, zum Denkmahl dieser Stunde,
Versprach sie mir mit Hand und Munde,
Ihn zu bewahren bis an’s Grab.
Betrübt, so bald verlassen uns zu müssen,
Gebrach es uns an tiefen Seufzern nicht;
Und Angesicht von Angesicht
Schied, feucht von Thränen und von Küssen.
Ich schwang mich wieder auf mein Roß;
Verfolgte mit dem Blick noch lange meine Schöne;
Dann sagt’ ich Lebewohl der anmuthsvollen Scene,
Wo ich zum ersten Mal der Liebe Glück genoß;
Und voll Verdruß in Herz und Miene,
Daß ich kein Bauer war im Dörfchen meiner Line,
Ritt ich und auf meines Vaters Schloß.

[...]

 

Storm übernimmt das Motiv der beiden Liebenden, die sich bei Bürger vor der Vereinigung ebenfalls mit „Bruder“ und „Schwester“ anreden, verändert es aber grundlegend, indem er aus der spielerisch-galanten erotischen Episode ein ernst gemeintes Spannungsgefüge zwischen Seelenliebe und Sexualität konstruiert, das ähnlich wie später in seiner Novelle „Immensee“ zu keiner Erfüllung gelangt. Das Geschehen wird auf eine einsame exotische Insel verlegt, auf der der Erzähler mit seiner Celeste ganz allein ist und zu ihrem Schutz eine Grotte zu einem Liebesnest ausgestaltet hat. Ihn hindern aber moralische Bedenken und die Scheu vor der Jungfräulichkeit des Mädchens, den Liebesakt zu vollziehen. Storm übernimmt nur das Motiv der Liebenden, nicht aber die ironische Distanz, mit der Bürger das äußerst unwahrscheinliche Geschen in seinem Versepos schildert, und die das Unglaubwürdige des Erzählten als deutlich erkennbare Erzählerfiktion erst erträglich macht. Das unaufhebbare Spannungsgefüge zwischen Hölle und Seligkeit, um das es Storm geht, hat Bürger in seiner volkstümlichen Wiedergängerballade „Lenore“ gestaltet. In Storms Erzählung wird es aus seinem christlichen Kontext herausgenommen und in einen Seelenzustand transformiert; der Kampf zwischen gut und böse, der sich in der abendländischen Tradition als Überwindung des Todes durch Christi Auferstehung manifestiert, wird zur bloßen menschlichen Kategorie, zur intimen Angelegenheit zweier Liebenden.

Im Gegensatz zu Bürgers Behandlung des Stoffs, die auch den Schmerz des liebenden Mädchens vor dem Verlust des Geliebten andeutet, steht beim jungen Storm die Angst vor der Gewalt der Sinnlichkeit im Mittelpunkt der Erzählung. Sie bestimmt das Verhalten des Ich-Erzählers und wird in dem Bild der wilden Hyänen gespiegelt, die das Leben des hilflosen Mädchens gefährden, so wie sich der Erzähler als derjenige erfährt, der die Unschuld des Mädchens bedroht. In einer indirekten Kommunikation wird dieses Spannungsgefüge durch die Begriffe „Bruder“ und „Schwester“ ausgesprochen; die inneren Vorgänge des Mädchens werden durch ihre Tränen und ihre körperliche Nähe erkennbar, während der Erzähler die Gefühle des jungen Mannes unverschlüsselt in einem inneren Monolog thematisiert. Die Darstellung des Mädchens entspricht der späterer Frauengestalten Storms, die sich in ihrer ganzen Unschuld völlig dem geliebten Mann ergeben. Sie ist unrealistisch, weil sie nicht auf einer eigenen Lebenserfahrung Storms beruht, sondern nur erotischen Wünschen Ausdruck gibt. Als das Mädchen sich aus Angst vor der drohenden Gefahr durch die wilden Tiere ganz in seinen Schutz ergibt, beginnt er seine Scheu in einem Kampf „zwischen Himmel und Hölle“ zu überwinden. Der junge Mann entspricht in seiner zögerlichen Haltung Reinhardt in „Immensee“; im Gegensatz zu dieser späteren Novelle überwindet er seine Scheu, aber gerade als er zur Tat schreiten will, bricht der Erzähler die Szene ab und desillusioniert den Leser durch die Eröffnung, dass es sich nur um einen Traum gehandelt hat.

Das Motiv des Schiffbruchs und die schützende Höhle, die durch eine Schiffsplanke gesichert wird, hat Storm aus der Tradition der Abenteuererzählungen (Robinson Crusoe[20]) entnommen. Die Naturbilder zeigen den poetischen Gestaltungswillen ihres Verfassers, dem es aber noch nicht gelingt, ein harmonisches Maß in seiner übertriebenen Schilderung zu finden. Die üppige Natur wird mit derselben Emphase geschildert wie der Seelenzustand der beiden Liebenden. Der Erzähler bindet das Begehren des jungen Mannes in einen natürlichen Kontext ein, in dem „goldbeschwingte Vögel“ „heimlich durch die blühenden Büsche“ rauschen und ihr „süßverstecktes Nest“ suchen; die ganze Umwelt ist ein großer Liebesgarten, in dem sogar aus dem Wasser Blumen emporsteigen, nachdem sich Sonne und Meer symbolisch vermählt haben. Durch diese Einbettung der beiden Menschenkinder in einen überaus fruchtbaren Kosmos erscheint die Aussage des Jünglings „mein Blut stürmte durch die Adern“ als Empörung gegen eine als widernatürlich empfundene Selbstbeschränkung, die in seinem inneren Kampf gegen die Scheu vor dem Liebesakt gipfelt. Die bürgerlichen Moralvorstellungen stehen im Gegensatz zum natürlichen menschlichen Empfinden. Aber Storm vermag es noch nicht, den Konflikt mit literarischen Mitteln zu lösen; dies passt zu seiner eigenen seelischen Verfassung in dieser Zeit. Sein unstillbares Liebessehnen schreckt vor der Überschreitung der Grenze des Schicklichen zurück; die Achtung vor der Jungfräulichkeit des Mädchens kann aber auch als Furcht vor der Sinnlichkeit Celestes gedeutet werden, die den Ich-Erzähler zugleich anzieht und als lebensbedrohende Gefahr erscheint, eine Situation, die für beide in der Angst vor den wilden Tieren sinnlich erfahrbar wird.

Storms erster Prosatext ist im poetisch gehobenen Stil des Biedermeier verfasst und reiht sich in die Nachahmung von lyrischen Vorbildern des späten 18. Jahrhunderts ein. Aber der Text zeigt, dass der junge Dichter die erotische Konvention des Rokoko durchbricht, indem er nach ihrer Verwirklichung verlangt und damit das nachvollzieht, was die Autoren des Sturm und Drang in den 1770er Jahren vorbereitet haben. In diesem Sinne befand sich auch Storm in einer Drangphase, die er erst mit dem Abschluss der unerfüllten Liebe zu Bertha von Buchan am Ende seiner Studienzeit überwinden konnte.

 

 Storm über Bürgers Lyrik

Ein einziges Mal hat sich Storm ausführlich über Bürgers Lyrik geäußert, und zwar im Jahre 1859, als er die Anthologie „Deutsche Liebeslieder seit Johann Christian Günther“ herausgab. Im Vorwort schreibt er[21]:

Die vorliegende Sammlung soll einen Beitrag zum Verständnis lyrischen Dichtkunst liefern, indem sie in einer bestimmten Gattung derselben und aus einem bestimmten Zeitraume das nach der Ansicht des Herausgebers wirklich Lebensfähige zusammenstellt. Das Liebeslied mit seinem der sich bewußt werdenden Empfindung zunächst liegenden Stoffe schien in dieser Beziehung das geeignetste. Unter Liebesliedern sollen zunächst nicht Lieder ohne Liebe, dann aber auch nicht Lieder über die Liebe verstanden werden, sondern solche, in denen es gelungen ist, die Atmosphäre dieses Gefühls in künstlerischer Form festzuhalten und auf den Hörer zu übertragen. Die zierlich geschnittenen Tändeleien der Zopfpoeten und die Traumbilder des Hainbundes gehören daher eben so wenig hierher, als die Leistungen namhafter lebender Poeten, in denen - mehr oder minder geistreich - eine bequeme Gefühlsanwandlung zu einem Lieder-Dutzend ausgemünzt ist; oder als alle die Wässerlein, die so glatt und zierlich über das Herz der Poeten hinrieseln, deren Quellen aber ganz anderswo zu suchen sind. Auf der andern Seite mußten eben so sehr die nackten Leidenschaftlichkeiten alter und neuer Dichter und Dichterinnen ausgeschlossen bleiben.

Claudius, B ü r g e r  und G o e t h e waren es insbesondere, welche zuerst für den Ausdruck des Naturlautes auch die nationale Kunstform fanden. Von ihren Liedern aus datiert sich die neue deutsche Lyrik, welche bis auf die Gegenwart in steter Fortentwickelung geblieben ist.

Für unsere Sammlung haben wir es nur mit den beiden Letzteren zu tun. Bürger’s unkritische und ungezügelte Natur läßt - ähnlich wie bei Günther - nur selten eine reine Produktion aufkommen. Welch’ ein Sonnenglanz des vollsten Liebelebens liegt nicht auf den Strophen: 

Mädel, schau’ mir ins Gesicht!

Schelmenauge, blinzle nicht!

Mädel, merke was ich sage!

Gib Bescheid auf meine Frage!

Holla, hoch mir in’s Gesicht!

Schelmenauge, blinzle nicht!

 

Bist nicht häßlich, das ist wahr!

Äuglein hast du, blau und klar;

Stirn und Näschen, Mund und Wangen

Dürfen wohl ihr Lob verlangen.

Reizend, Liebchen, das ist wahr,

Reizend bist du offenbar!

 

Aber im weitern Verlauf verläßt den Dichter jede konkrete Anschauung, und er fällt aus einer Redensart und aus einem Gemeinplatz in den andern. Und ähnlich geht es ihm in den meisten seiner Lieder. Freilich, wo es ihm einmal gelingt, wie in der »Abendphantasie eines Liebenden«, erhebt er sich dafür auch zu einem Hymnus, der noch späte Geschlechter die berauschende Kraft jener unseligen Leidenschaft mitempfinden lassen wird.

 

Storm stellt einen Teil von Bürgers Liebeslyrik neben die Goethes und hebt hervor, dass sich diese Liebeslieder von den „Tändeleien der Zopfpoeten und die Traumbilder des Hainbundes“, dem ja Bürger sehr nahegestanden hat, unterscheiden und reiht sie in die später „Erlebnisgedicht“ genannte Tradition ein. Dieser Begriff umfasst solche Gedichte, denen ein unmittelbares Erlebnis zugrunde liegt oder die zumindest die Fiktion erzeugen, ein Erlebnis habe den Poeten zu seinem Werk angeregt. Für Storm bedeutete die „lyrische“ Form des Gedichts die höchste Form der Kunst, und an diesem Anspruch maß er nicht nur die eigene Dichtkunst, sondern auch das, was er an Lyrik neben und nach Goethe gelten ließ. Anlässlich des Erscheinens seiner ersten selbständigen Gedichtpublikation Ende 1852[22] bat er seine Freund Hartmuth Brinkmann um eine Rezension und legte dem Brief das Konzept einer „Selbstkritik“ bei, in der er erstmals seine theoretischen Überlegungen zur Lyrik formulierte[23]:

 

1.

Die Kunst namentlich des lyrischen Dichters besteht darin, im möglichst Individuellen das möglichst Allgemeine auszusprechen. [...]

2.

Der lyrische Dichter muß namentlich jede Phrase, das bloß Ueberkommene vermeiden; jeder Ausdruck muß seine Wurzel im Gefühl oder der Phantasie des Dichters haben. Beispiel des Gegentheils: Geibel.

3.

Jedes lyrische Gedicht soll Gelegenheitsgedicht im höhern Sinne sein; aber die Kunst des Poeten muß es zum Allgemeingültigen erheben, (siehe oben Nr. 1.)

4.

Die Wirkung des Lyrikers besteht vorzüglich darin, daß er über Vorstellungen und Gefühle, die dunkel und halbbewußt im Leser (Hörer) liegen, ein plötzliches oder neues Licht wirft.

 

Genau dieses Konzept griff er für das Vorwort seiner ersten Gedichtanthologie wieder auf und charakterisiert die von ihm bevorzugte Gedichtform mit dem Begriff „Naturlaut“, den Storms Generation sowohl im Volkslied als auch im artifiziellen Kunstlied zu entdecken suchten. Als Herausgeber von Lyrik-Anthologien hat Storm heftige Kritik an der Flut von lyrischen Ergüssen geübt, die nach 1850 die populären Publikationsmedien überschwemmten; von dieser Massenproduktion grenzte er in allen seinen theoretischen Äußerungen zur Lyrik solche Gedichte ab, in denen er die Darstellung von etwas Allgemeinen im Besonderen zu erkennen glaubte. Er unterschied solche Texte von der „Phrase“ und bezog sich mit diesem Begriff auf die Tradition der Rhetorik und normativen Poetik des 17. Jahrhunderts, die auch das Sensuelle der Poesie dem Intellekt unterwerfen wollte. Im Unterschied zur Lyrik des von ihm sehr verehrten Eduard Mörike (1804-1875), dessen zumeist elegischen Gedichte der 1840er Jahre noch ganz der Tradition der Erlebnislyrik der Goethezeit verpflichtet sind und die häufig von einer Selbstvergewisserung des lyrischen Ichs bestimmt werden, versuchte Storm, seine eigene Lyrikkonzeption durch das Modell einer „reinen“ Lyrik zu legitimieren. Er stellte sein Werk dabei bewusst in einen aktuellen Zusammenhang mit der Theorie des poetischen Realismus und grenzte seine Poesie deutlich vom traditionellen System der Rhetorik ab, indem er Allegorisches und Tendenziöses vermeidet, außer in den wenigen Beispielen seiner politischen Lyrik und in seinen Balladen. Seine Themen und Motive beschränken sich auf die Erfahrungen seines engeren Lebensbereichs; die Wortwahl ist betont einfach, die Metrik meist frei; es dominiert das paarweise gereimte vierzeilige Lied, das bis heute gern vertont wird. Bilder, Stimmungen und Formen werden nur wenig variiert, das Unveränderliche, Immergleiche steht im Vordergrund. Das lyrische Ich ist in vielen Gedichten nur ein distanzierter Beobachter.

In seine erste Anthologie nahm Storm von Bürger folgende Gedichte auf: „Abendphantasie eines Liebenden“, „An das Herz“, „Liebeszauber“ und „Molly’s Abschied“ auf. Außerdem hob er die Bedeutung Bürgers dadurch hervor, dass er den Hamburger Illustratoren Hans Speckter dazu veranlasste, ein Porträt des Dichters zu zeichnen, das als Holzstich der Gedichtauswahl Bürgers vorangestellt wurde.

 

Storms Kritik an der zeitgenössischen Lyrik war unerbittlich, so wollte er höchstens ein Dutzend Gedichte selbst bei den Großen der Lyrik als Meisterwerke anerkannt wissen. Auch die eigenen Gedichte maß er mit diesem hohen Anspruch, dadurch verengte Storm seinen Lyrikbegriff auf jenen Teil von Gedichten, die durch Erfahrung angeregt und aus einer tiefen seelischen Bewegung her konzipiert sind. Dass nunmehr seiner künstlerischen Fähigkeiten bewusste Dichter einige Lieder Bürgers vor solch hohem Anspruch gelten ließ, verrät nicht nur eine genaue Kenntnis von dessen Werk, sondern auch ein hervorragendes Gespür für literarische Qualität; Storm hat dies 1870, als er seine zweite und umfangreichere Anthologie unter dem Titel „Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius“ zusammenstellte, gegenüber Paul Heyse als „Trüffelhund-Instinkt“ bezeichnet.[24]

In diese Anthologie[25] nahm Storm von Bürger zunächst nur noch ein Gedicht auf, das er bereits in seiner ersten Sammlung berücksichtig hatte, nämlich „An das Herz“; diesen Text stellt er an den Schluss von vier weiteren, nämlich „Leonore“, „Da Lied vom braven Mann“, „Trost“ und „Die Esel und die Nachtigallen“. Die Gedichtauswahl wurde für die zweite und dritte Auflage nicht verändert. Als die 4. Auflage vorbereitet wurde, die 1878 erschien, unterzog Storm seine Gedichtauswahl einer erneuten Revision; über diesen Arbeitsprozess geben einige Notizblätter Auskunft, in denen unter anderem steht: „Bürgers trunkene Liebesphantasie“[26]; Storm entschied sich dafür, die „Abendphantasie eines Liebenden“ wieder aufzunehmen und strich dafür die drei Gedichte der früheren Auflagen, nämlich „Trost“ und „Die Esel und die Nachtigallen“, so dass nun nur noch vier Gedichte übrig blieben.

Als Textgrundlage verwendete Storm sowohl während der Arbeiten um 1870 als auch 1878 ein altes Buch aus der Lübecker Schulzeit, die 1835 erschienene Ausgabe von August Wilhelm Bohtz.[27] Aus seinen Notizen geht hervor, dass einige weitere Gedichte von Bürger in die nähere Auswahl aufgenommen wurden, die dann aber nicht zum Druck kamen: „Auf das Adeln der Gelehrten“, „Der Kaiser und der Abt“, „Die Weiber von Weinsberg“, „Mittel gegen die Hochmuth der Großen“ sowie „Unter zwei Übeln lieber das Kleinste“. Storm hat sich auch zu diesem Zeitpunkt noch einmal mit Bürgers Leben beschäftigt, denn in dieser Ausgabe steckt ein Lesezeichen am Beginn von „Bürgers Briefwechsel mit Boie über die Leonore“.[28]

Weitere Notizen[29] zum „Hausbuch“ belegen, dass Storm eine 5. Auflage seiner Anthologie plante, die aber nicht mehr zustande kam. Hierfür unterzog er seine Sammlung im Jahre 1979 noch einmal einer Revision; von Bürgers Gedichten sollten nur noch drei Bestand haben: „Leonore“, „Da Lied vom braven Mann“ und „An das Herz“; die „Abendphantasie eines Liebenden“ sollte nun wieder wegfallen. Und auch „Da Lied vom braven Manne“ taucht auf einer Liste auf, die Storm mit der Überschrift versah: „Im Hausbuch möchte ich weglassen“; dort hat er den Titel mit einem Fragezeichen notiert und dazu angemerkt: „ein recht braver Sang, und dennoch – !“

Betrachte man diese langjährige Beschäftigung Storm mit dem lyrischen Werk Bürgers im Zusammenhang, so lassen sich Maßstäbe erkennen, mit dem Storm das Werk seines ehemaligen Vorbilds bewertet hat. Folgende Texte (in der Reihenfolge ihres Abdrucks bei Bohtz) hielt er für die besten Dichtungen Bürgers (die von Storm nicht in seine Anthologien aufgenommen Gedichte sind durch einen Stern gekennzeichnet):

 

Lenore

Die Weiber von Weinsberg*

Abendphantasie eines Liebenden

Das Lied vom braven Manne

Liebeszauber

Molly’s Abschied

Der Kaiser und der Abt*

Trost

Mittel gegen die Hochmuth der Großen*

Auf das Adeln der Gelehrten*

Die Esel und die Nachtigallen

An das Herz

Unter zwei Übeln lieber das Kleinste*

 

Mit der Wahl von „Leonore“ hat Storm einen guten Griff getan, denn diese Ballade gilt bereits seit ihrem ersten Erscheinen als Meisterstück und wurde später als bestes Werk Bürgers bezeichnet. Er nutzt die Handlung, die er aus einer englischen Volksballade entnommen hat, um seelische Erlebnisse darzustellen, und schuf damit eine Grundlage für die Kunstballade der Romantik. August Wilhelm Schlegel meinte, dieser Text allein garantiere Bürgers Unsterblichkeit.[30] Dass Storm zögerte, „Die Weiber von Weinsberg“ in seine Anthologie aufzunehmen, hat vielleicht auch mit dem einschränkenden Urteil Schlegels zu tun, der sie als „eher als studentenhaft als volkstümlich“ bezeichnet. Ahnliches gilt für die Ballade „Der Kaiser und der Abt“. Es fällt auf, dass fast die meisten der von Storm ausgewählten oder in Erwägung gezogenen Gedichte Bürgers auch von Schlegel besprochen werden, dessen zum Teil umfangreichen Textanalysen die hohe Wertschätzung der Werke Bürgers begründen sollen. Schlegel kommt nach seinem Durchgang durch die wichtigsten Werke zu folgender abschließender Wertung: „Bürger ist ein Dichte von mehr eigentümlicher als umfassender Phantasie, von mehr biedrer und treuherziger als zarter Empfindungsweise; von mehr Gründlichkeit im Ausführen besonders in der grammatischen Technik, als tiefem Verstand im Entwerfen; mehr in der Romanze und im leichten Liede als der höheren lyrischen Gattung einheimisch; in einem Teil seiner Hervorbringungen echter Volksdichter, dessen Kunststil, wo ihn nicht Maximen und Gewöhnungen hindern, sich ganz zu demselben zu erheben, Klarheit, rege Kraft, Frische und zuweilen Zierlichkeit, seltner Größe hat.“

Zur „Abendphantasie eines Liebenden“ hat Storm selber in seiner Vorrede zur ersten Lyrikanthologie Stellung bezogen; er lobt den „Sonnenglanz des vollsten Liebelebens“, kritisiert dann aber, dass Bürger im weiteren Verlauf seiner Strophen „aus einer Redensart und aus einem Gemeinplatz in den andern“ fällt. Auch diese Kritik orientiert sich an Schlegels Verdikt: „Indessen scheint der Dichter bisweilen zu vergessen, daß er den aus der lebendigsten Mundsprache aufgegriffenen Ausdruck selbst für den besten hält, indem er größere Energie einer vielleicht nur im Kopfe manches Sprachforschers existierenden Regel aufopfert.“

„Das Lied vom braven Manne“ weist eine geballte Rhetorik auf, mit der Erzählung von einer gute Tat balladesk einher kommt, die sich aus der Konzeption des Textes für einen mündlichen Vortrag erklären lässt. „Liebeszauber“ gehört zu der Gruppe von Gedichten, die nach Bürgers Bekunden unmittelbar aus einer Stimmung entstanden sind; Schlegel erschien es als munteres Lied, „bei dem man gleich die Melodie mit zu hören glaubt, wenn man es nur liest.“ „Molly’s Abschied“ entspricht Storms melancholischer Grundstimmung, die er in seinen Jugendjahren in dem erlebten Spannungsgefüge von erotischer Begierde und Distanz von der Geliebten häufig auch literarisch zu gestalten versucht hat. „An das Herz“ ist eines von Bürgers Sonetten, die er in der deutschen Dichtung wiederbelebt hat. Storms einziges Sonett „Neuer Frühling“ ist Ende 1836 entstanden und kann als Reaktion auf die Sonette Bürgers verstanden werden, von denen die Ausgabe von Bohtz eine ganze Reihe darbietet. „Trost“ und „Die Esel und die Nachtigallen“ sind aphoristische Texte und repräsentieren die lehrhaften Gedichte Bürgers, die in der Tradition der auf Belehrung und Wissensvermittlung zielende Dichtung gemäß dem horazischen Motto des „delectare“ und „prodesse“ zuordnen lassen; Storm schloss solche Texte später aus dem Bereich der eigentlichen lyrischen Dichtung aus, da sie mit seiner Definition nicht zu vereinbaren waren. Dennoch nahm er eine Reihe davon in seine Anthologien auf.

  

Biographische Gemeinsamkeiten

 Am 15. Oktober 1857 berichtet Storm seinem Schwiegervater Ernst Esmarch aus Heiligenstadt von einem Ausflug, den die Storms gemeinsam mit dem Rechtsanwalt und Notar Reinhard Schlüter und Frau zu den Schlössern bei der Ortschaft Gleichen bei Göttingen unternommen hatten:[31]

Jetzt war es Herbst, und das paßte zu meiner Stimmung auch viel besser; denn Alles, was mir hier lebendig wurde, gehörte der Vergangenheit. Ich setzte mich auf einen alten Mauerüberrest und sah nach der Seite von Göttingen durch die Wälder in's Thal; hier und dort lag ein freundliches Dorf in der warmen Sonnenbeleuchtung. Eins, vielleicht das nächste ist Gelliehausen — und ich suche mir zwischen den größeren Häusern das Amthaus heraus, wo nun vor 80 Jahren Bürger in der schönsten Zeit seines Lebens und Dichtens seine für alle Zeiten, so lang es deutsche Poesie geben wird, unsterbliche Lenore ersann; von hier aus ging mit unter Tag für Tag, der Bote nach Göttingen und brachte die neuen Strophen an Boie und die übrigen Freunde, Voß, Hölty, Großvater Esmarch und wie sie alle hießen. War mir's doch fast, als müßten meine Augen dort unten zwischen den gelben Stoppelfeldern noch eine andre, zärtliche Gestalt suchen. Trug denn die Luft nicht mehr den Namen Molly-Adonide? Ach, diese unruhvollen Herzen waren längst zur Ruh, die Namen der Dörfer und Berge waren noch dieselben, aber ihre Namen waren unter den Menschen, die jetzt dort wohnten längst verschollen. Die gute Frau im Pachthofe glaubte nur zu erinnern, daß einmal jemand zu ihrem Mann von einem Dichter Bürger, der dort gelebt, gesprochen habe.

Den Namen verdankt die Gemeinde ihren beiden Wahrzeichen, den Zwillingsbergen Alten- und Neuen Gleichen. Von den einst stolzen Ritterburgen der Grafen von Reinhausen standen schon zur Storm-Zeit nur noch malerische Ruinen. Am Fuße der waldumrandeten Gleichen liegt das Dorf Gelliehausen, wo Gottfried August Bürger lebte und seine Ballade „Lenore“ schrieb. Storm hat mehrfach mit dem Hinweis auf „Großvater Esmarch“ nicht nur seine seelische, sondern auch seine familiäre Verwandtschaft mit den Dichtern des Göttinger Hains bekräftigt, denn Constanzes Großvater Christian Hyronymus Esmarch (1752-1820) gehörte als Theologiestudent in Göttingen dem Bund 1772 als „stummes Mitglied“ an. Bürger trat dem Hainbund während seines Theologiestudiums bei und kann von Storm daher als Freund des Großvaters seiner Frau wahrgenommen werden. Die Anziehungskraft dieser Vereinigung der Vergangenheit beruht nicht nur auf der hinterlassenen Lyrik von Bürger, Boje, Hölty und der Grafen Stollberg, sondern mehr noch auf der von Storm idealisierten Erinnerungen an den Freundschaftskult sowie den Adels- und Pfaffenhass dieser Repräsentanten seiner Großvätergeneration. Mit „Molly-Adonide“ (wörtlich: „die schöne Frau Molly“) hat Bürger seine Geliebte und zweite Frau Molly Leonart bezeichnet und in einigen seiner erotischen Gedichte allegorisch überhöht. Storm fand diese Bezeichnung in Bürgers „Beichte eines Mannes, der ein edles Mädchen nicht hintergehen will“ in seinem Brief an Elise Hahn vom Februar 1790, den er bereits um 1830 in dem von ihm entliehenen Band von Bürgers Werken aus der Husumer Schulbibliothek gelesen hatte.[32]

Am 19. Mai 1846 schrieb Storm an seien Braut an Constanze Esmarch:

Ich las gestern, wie das Unglück in Bürgers dritter Ehe mit dem bekannten und nachher so übel berüchtigten Schwabenmädchen Elise damit angefangen, daß er wider seine Neigung habe Bälle besuchen müssen, wo sie denn getanzt, während er im Conversationszimmer gesessen. Du kennst ja zum Ueberdruß meine hoffentlich grundlose Angst, daß auch mir daraus Unglück entspringen werde, und ich muß Dir gestehen, daß mich diese Angst gestern bis in die Nacht verfolgte, mir war als hätt ich meine eigne Geschichte gelesen. Mein allbereiten Reime flüsterten mir ins Ohr:

Wolle außer süßen Worten
Nur nichts mehr zu fodern wagen.
Ewige Liebe wird sie schwören;
Aber keinen Tanz entsagen.

Waren das nicht recht schändliche Verse, mein gute Dange? Aber ich wollte Du wärst bei mir; dann glaub ich leichter an Dich, ach ich bin oft  noch recht kleingläubig wenn ich Deine Augen voll Liebe nicht sehe.

Die Quelle für Storms Kenntnis des Bürger’schen Ehedramas war ein bereits über 30 Jahre Jahr zuvor erschienenes Buch[33], in dem im Jahre 1812 – nur 18 Jahre nach Bürgers Tod – die Details seines Privatlebens veröffentlicht wurden. Im Oktober 1790 verheiratete sich der 43jährige Bürger in dritter Ehe mit der 21jährigen Elise Hahn, aber schon nach wenigen Wochen betrog die junge Frau ihren Mann; Die Ehe scheiterte und wurde im März 1792 geschieden. In einem Brief an Elise, in dem Bürger seiner Frau alle Eheverfehlungen systematisch vor Augen führt, schreibt er:[34]

Abends warest du lustig und fröhlich in großer Theegesellschaft, und nach Tische wälztest du dich bei’m Blindekuhspiel mit unsern Tischgenossen, die du gleichsam da zu aufzerrtest, bis nach 11 Uhr, da ich mich schon weg und nach Bette geschlichen hatte, herum.

Die Öffentlichkeit zeigte großes Interesse an den Abgründen der Seelen ihre Zeitgenossen. Im Gefolge von Aufklärung und Empfindsamkeit war es zunächst die Dichtung, in der sich ein Bewusstsein für Subjektivität und ein Erlebnisfeld oft nur geahnter Innerlichkeit entfalten und so die unbefriedigten Wünschen freizügig ausgelebt werden konnten. Da kamen Informationen über „das Unglück in Bürgers dritter Ehe“ gerade recht. Bürgers „Beichte“ wurde ausführlich in Christoph Althofs Biographie zitiert und so wohl schon dem Schüler Storm an der Husumer Gelehrtenschule bekannt.[35] Sein öffentliches Bekenntnis zur gleichzeitigen Liebe zweier Schwestern erhielt durch die deutlichen Parallelen zwischen biographsicher „Beichte“ und lyrischer Präsentation eine doppelte literarische Weihe. Die pikanten Details der ménage a trois konnten das interessierte Publikum leicht zwischen den Zeilen lesen. Darüber hinaus fand Storm in der anonym herausgegebenen „Ehestands-Geschichte“ die Beschreibung von Bürgers Traumfrau, die sinnlich und lustbetont sein sollte (er bekannt in einem Brief an seine Schwiegermutter, dass er seiner Frau „drei Mahl des Tages [...] Stunden lang ohne Ermüdung ihr fröne können“, S. 247), zugleich aber auch eine perfekte Hausfrau und fürsorgliche Mutter. Das Bild, das so von Bürgers dritter Frau entsteht, entspricht der typischen Männerphantasie um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert; sie soll Geliebte, Haushälterin, Mutter, Putzfrau und auch noch Teilnehmerin an den ästhetischen Vergnügungen des Ehemannes sein. Genau diese Erwartung entfaltete Storm in den Jahren 1844 bis 1846 in den Briefen an seine Braut Constanze und versucht, sie durch ein Erziehungskonzept auf die Ehe vorzubereiten. Seine immer wieder aufbrechende Eifersucht, die sich in schweren Vorwürfen gegen die seiner Meinung nach unzulänglichen Brief Constanzes entladen, haben eine Quelle in Storms Orientierung an literarisierten Beziehung-Modellen. Storm versuchte, seine Braut in seinem Sinne zu bilden und orientierte sich dabei an Bettina von Arnims Buch „Goethes Briefwechsel mit einem Kinde“ oder an Goethes Bildungsroman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ und bezog die in diesen Werken dargestellten Bildungsepisoden auf sein eigenes Leben. Seine ständige Angst, die Liebe Constanzes zu verlieren, zeigt sich in heftigen Eifersuchtsattacken; insofern konnte auch seine Lektüre des zweiten Teils der Ehegeschichte Bürgers in ihm Ängste wecken, die er unmittelbar in seinem Brief an Constanze zum Ausdruck bringt. In ihm entfaltet Bürger nämlich das Bild der betrügerischen Ehefrau, die nicht nur den Haushalt vernachlässigt, sondern unverblümt in unzüchtiger Weise Ehebruch begeht. Die literarisierte Ehetragödie der Bürgers bedient zugleich das voyeuristische Interesse der Leser, denn der betrogene Ehemann schämt sich nicht nur nicht, den Ehebruch seiner Frau durch ein extra in die Tür gebohrtes Loch zu betrachten, sondern schildert Vorspiel und Koitus auch noch in epischer Breite.

Bürgers Briefe lassen sich ohne großen Aufwand zu einem „Roman“ montieren; die anonyme Textkonstruktion aus dem Jahre 1812 ist Wundergeschichte und Briefroman in einem. Er stilisiert Elise Hahn nicht nur zur Traumfrau, sondern diffamiert sie zugleich als Hure; er selber steht trotz seiner ihm von den Zeitgenossen zugesprochenen Hörnern zwischen beiden Extremen in bestem Lichte der Unschuld da. Dies konnte nur gelingen, weil Bürger als Schriftsteller wusste, wie man individuelle Vorgänge ins Allgemeine transponiert, indem er private Erfahrungen in seinen Briefen literarisierte. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass Storm ihm auch hierin folgt; bereits im ersten Moment, in dem er seine Angst literarisch durch das vierzeilige Gedicht „Wolle außer süßen Worten“ zu stilisieren versucht, verwendet er dasselbe Metrum, das auch Bürger in seinen Gedichten mehrfach benutzt hat, etwa im Refrain der „Nachtfeier der Venus“:

Morgen liebe, was bis heute
Nie der Liebe sich gefreut!
Was sich stets der Liebe freute,
Liebe morgen, wie bis heut!

 

„Die Nachtfeier der Venus“, mit der Bürger seine Gedichtsammlungen eröffnet hat, ist eine Nachdichtung aus dem Lateinischen („Pervigilium Veneris“) und „Ramlers lyrischer Blumenlese“ aus dem Jahre 1774 entnommen. Storm fand in seiner Ausgabe sowohl die Fassung von 1789 (bei Bohtz, S. 113-115) als auch die nach der eigenhändigen Umarbeitung Bürgers 1796 posthum im „Göttinger Musenalmanach“ abgedruckte Version (bei Bohtz, S. 1-4). Außerdem druckt Bohtz die unter dem Eindruck von Schillers Kritik (1791) entstandene „Rechenschaft über die Veränderungen in der Nachtfeier der Venus“ (bei Bohtz, S. 349-372) ab, in der sich Bürger mit seinem Jugendwerk (entstanden um 1771) auseinandersetzt und es verteidigt. In diesem Aufsatz eröffnet er Einblicke in seine poetische Werkstatt und zeigt, wie er bei seinen Dichtungen aus der genauen Kenntnis antiker Prosodik mit philologischer Genauigkeit gearbeitet hat. Als Storm diesen poetischen Rechenschaftsbericht erstmals 1835/36 las, bewegte er sich noch auf genau denselben Traditionslinien; die meisten seiner Gedichte aus der Schulzeit sind in der Tradition der „Imitatio“ geschrieben und zeigen das formale Gerüst der klassischen Vers- und Strophenlehre.

Bürger zitiert als Beispiel die mehrfach umgearbeiteten vier Zeilen des Refrains, der in den Fassungen von 1778 und 1789 lautet: 

Morgen liebe, wer die Liebe
Schon gekannt!
Morgen liebe, wer die Liebe
Nie empfand!

(1878)

Morgen liebe, was auch nimmer
Noch geliebet hat zuvor!
Was geliebt hat längst und immer,
Lieb’ auch morgen nach wie vor!

(1889)

Bürger variiert in freier Nachbildung die Stanze, eine Strophenform italienischer Herkunft mit abwechselnd weiblicher und männlicher Kadenz. Die Variationen sind zunächst ein Spiel mit dem Kehrreim, werden dann aber auf die Kadenzen, Tempora und die Wortwahl ausgedehnt; Bürger schließt morphologische und semantische Überlegungen ein und diskutiert neben Aspekten des Klanges auch den des Sprachwandels.

„Waren das nicht recht schändliche Verse, mein gute Dange?“ – Mit dieser rhetorischen Frage bewertet Storm seine formal der Dichtung Bürgers nachgeahmte Strophe. Man ist geneigt, das Attribut „schändlich“ auf den Inhalt der vierzeiligen Strophe und auf den Kontext des Briefes zu beziehen; Storm nimmt im selben Atemzug – wie er es in seinen Brautbriefen oft tut – den Vorwurf gegenüber Constanze zurück, sie habe durch ihr Verhalten einen Anlass für seine „hoffentlich grundlose Angst“ gegeben, „daß auch mir daraus Unglück entspringen werde“. Die literarische Überhöhung der im Brief geschilderten subjektiven Angsterfahrung gehört zu jene Komplex Storm’scher Erziehungsbemühungen, mit denen er seine junge Verlobte über fast zwei Jahre fast täglich quälte und die Regina Fasold, die Herausgeberin der „Brautbriefe“[36], folgendermaßen deutet: „Seine Frage zielte darauf, unablässig die Versicherung für eine das menschliche Maß gleichsam übersteigende Zuneigung zu erlangen, weil offenbar erst in der Vorstellung einer solchen grenzenlosen Liebe seine vernichtende Angst partiell und temporär beherrschbar war.“[37]

Das Wort „schändlich“ kann aber auch als Wertung der Verse gelesen werden, die dem Verfasser unmittelbar nachdem der seinen „allbereiten Reime(n)“ gefolgt ist, nun als „schlecht“ erscheinen. Dann handelt es sich zugleich um eine Kritik an der Lyrik, wie sie Bürger mehr als 60 Jahre zuvor geschrieben hat.

In zeitlich engem Zusammenhang schrieb Storm ein Gedicht, mit dem er seine „eigne Geschichte“, also die aus der Eifersucht geborene Vision, Constanze könne sich ohne ihn auf einer Tanzveranstaltung vergnügen, poetisch gestaltet:

Hyazinthen[38]

Fern hallt Musik; doch hier ist stille Nacht,

Mit Schlummerduft anhauchen mich die Pflanzen.

Ich habe immer, immer dein gedacht;

Ich möchte schlafen, aber du musst tanzen.

 

Es hört nicht auf, es rast ohn Unterlass;

Die Kerzen brennen und die Geigen schreien,

Es teilen und es schließen sich die Reihen,

Und alle glühen; aber du bist blass.

 

Und du musst tanzen; fremde Arme schmiegen

Sich an dein Herz; o leide nicht Gewalt!

Ich seh dein weißes Kleid vorüberfliegen

Und deine leichte, zärtliche Gestalt. – –

 

Und süßer strömend quillt der Duft der Nacht

Und träumerischer aus dem Kelch der Pflanzen.

Ich habe immer, immer dein gedacht;

Ich möchte schlafen, aber du musst tanzen.

 

„Hyazinthen“ gilt als eines der besten Gedichte Storms;[39] Thomas Mann lässt es Tonio Kröger als ein „wunderschönes Gedicht“ empfinden und ordnet es in seinem Storm-Essay[40] „mit seiner vornehmen Zärtlichkeit, seiner cellomäßig gezogenen Fülle von Empfindung, Schwermut, Liebesmüdigkeit“ dem „Höchsten und Reinsten“ zu, „was Gefühl und Sprache hervorgebracht haben, und vollkommenen Unsterblichkeitscharakter besitzt.“ Erlebtes, Erinnertes, Gegenwart und Vergangenheit werden miteinander zu einem vollkommenen Gebilde verwoben. Die Stimmung einer eifersüchtige Melancholie entfaltet sich getrennt vom Ort des Tanzes, beachtet man den biographischen Hintergrund, in verdichteter Weise: „die räumliche Entfernung (Husum – Segeberg) ist so weit reduziert, daß das lyrische Ich die Musik tatsächlich wahrnehmen kann, und von der Geliebten wird jeder Vorwurf ferngehalen.“[41] Der Vorgang wird nicht eigentlich erzählt; die Gefühle des lyrischen Ichs, das „schlafen“ möchte, stehen im Vordergrund. Die Hyazinthen des Titels werden im Gedicht nicht mehr erwähnt, aber ihr betörender Duft wird durch die heftigen Verben „rasen“, „brennen“, „schreien“ und „glühen“ in der zweiten Strophe in einen auffälligen Kontrast zur Weichheit des Sentiments gesetzt.

Der junge Storm orientiert sich formal an klassischen Prinzipien, indem er vierzeilige Strophen aus fünfhebigen Jamben bildet, aber der eigentliche Kunstcharakter zeigt sich erst beim wiederholten Lesen der Verse, deren Liedcharakter und hohe Musikalität bereits Thomas Mann aufgefallen sind. Das konventionelle metrische Bauschema, das der Klanggestalt des Gedichts zugrunde liegt, wird mit einer großer Souveränität ausgeführt. Aber die Tradition des antiken Verses allein ist es nicht, die diesen Text aus der großen Zahl ähnlicher Gebilde der Storm-Zeit heraushebt. Die Eigenheit des metrische Systems der deutschen Sprache wird von der Prosodie bestimmt, d.h. von den Betonungsregeln und insbesondere der Klassifizierung von Silben; im Unterschied zur quantitierende Metrik der Antike, die zwischen langen und kurzen Silben unterscheidet, akzentuiert die deutsche Sprache und unterscheidet zwischen betonten und unbetonten Silben. Die von Storm noch häufig verwendeten festen Versmaßen und traditionellen Formen werden im gesprochenen Text vom Rhythmus überlagert, der die z.B. auch die Rede in der Zeit gliedert. In der Lyrik, vor allem im liedhaften Gedicht, wird eine Sprachbewegung erzeugt, die aus der Spannung zwischen den vorgegebenen metrischen Schemata und ihrer sprachlichen Erfüllung entsteht. Texte, bei denen das Metrum den Rhythmus dominiert, wirken spannungslos, was sich bei vielen epigonalen Gedichten der Storm-Zeit beobachten lässt.

Da die antiken Silben-Maß-Grundlagen von Quantität und Zahl in der deutschen Sprache gar nicht nachgeahmt werden kann, muss Storm eine davon abweichende Akzentuierung vornehmen, und dies gelingt ihm durch eine besondere rhythmische Struktur: „Alles, was da bewegend hörbar wird, entfaltet sich eigengesetzlich oberhalb des metrischen Grundrisses, ohne daß sich uns einstweilen ein tieferer Zusammenhang als der äußerliche der Rahmung zeigt. Es ist, als ob der junge Dichter, indem er sein leidenschaftliches Gebilde dem überkommenen Formgut entwachsen ließ, damit vor seinem Bewusstsein genug getan hätte: nun konnte es sich um so ungestörter in nach innen gewendeter Musikalität und Traumvollkommenheit ausformen.“[42]

Storm ermöglicht uns einen dreifachen Zugang zu seinem Text. Auf der syntaktisch-semantischen Ebene wird uns der Gehalt des Gedichts bewusst, wenn wir die Worte wie eine bloße Mitteilungsprosa lesen. Ergänzt durch biographische Daten, die uns die Storm-Forschung liefert, erlaubt dies Einblicke in die seelische Verfassung Storms und in den Stimmungskontext, der für ihn bei der Niederschrift des Gedichts bedeutsam war. Die Vermittlung eines solchen Wissens kann aber nicht der eigentliche Zweck der Dichtung sein. Storm hat dies in seinem Vorwort zu seinem „Hausbuch aus deutschen Dichter seit Claudius“ folgendermaßen ausgedrückt:[43] „Der bedeutendste Gedankengehalt aber, und sei er in den wohlgebautesten Versen eingeschlossen, hat in der Poesie keine Berechtigung und wird als toter Schatz am Wege liegen bleiben, wenn er nicht zuvor durch das Gemüt und die Phantasie des Dichters seinen Weg genommen und dort Wärme und Farbe und wo möglich körperliche Gestalt gewonnen hat. – An solchen toten Schätzen sind wir überreich.“ Diese Wirkung wird durch die Poesie, genauer durch das Künstlerische an einem Gedicht ermöglicht; Storm führt weiter aus: „Von einem Kunstwerk will ich, wie vom Leben, unmittelbar und nicht erst durch die Vermittlung des Denkens berührt werden; am vollendetsten erscheint mir daher das Gedicht, dessen Wirkung zunächst eine sinnliche ist, aus der sich dann die geistige von selbst ergibt, wie aus der Blüte die Frucht.“

Die Empfindung muss die Grundlage des künstlerischen Erlebens bilden und die geistige Wirkung darf nicht auf eine bloße Erkenntnis reduziert werden. Storm weist der Poesie eine besondere Stellung in der Kunst zu: Musik kann man hören und empfinden, Werke der bildenden Kunst laden zum Schauen und Empfinden ein; die Poesie soll „alles Drei zugleich“. Wie wird dies möglich? Die metrische Struktur, die dem syntaktischen Gefüge im Gedicht eine neue Prägung aufzwingt, bildet nur die Form, deren Gehalt sich erst im Lesen des Gedichts enthüllt. So wie das Lied gesungen werden muss, um das ihm Eigentümliche seiner Musikalität in Erscheinung zu bringen, so verlangt das liedhafte Gedicht nach einem Vortrag, damit es seine poetische Wirkung auf den Hörer entfalten kann. Im Akt des Sprechens werden die Worte vom konventionellen syntaktischen und vom starren metrischen Gefüge losgelöst und in gewisser Weise in die Schwebe gebracht; der Text berührt uns unmittelbar sinnlich, kann uns atemlos, ja sprachlos machen; danach kann er uns in besonderer Weise auch geistig ansprechen. Auf das erstere kam es Storm an; in seinem Vorwort zum „Hausbuch“ schreibt er (LL 4, S. 394): die Worte

müssen auch durch die rhythmische Bewegung und die Klangfarbe des Verses gleichsam in Musik gesetzt und solcherweise wieder in die Empfindung aufgelöst sein, aus der sie entsprungen sind; in seiner Wirkung soll das lyrische Gedicht dem Leser - man gestatte den Ausdruck - zugleich eine Offenbarung und Erlösung, oder mindestens eine Genugtuung gewähren, die er sich selbst nicht hätte geben können, sei es nun, daß es unsre Anschauung und Empfindung in ungeahnter Weise erweitert und in die Tiefe führt, oder, was halb bewußt in Duft und Dämmer in uns lag, in überraschender Klarheit erscheinen läßt.

Genau diesen Forderungen entspricht „Hyazinthen“ in besonderer Weise; es ist nicht nur aus einer kritischen Wendung gegen die formal korrekte konventionelle Lyrik Bürgers entstanden, die es mit angeregt hat. Es ist zugleich auch eines der vollendetsten lyrischen Gedichte Storms und erfüllt in musterhafter Weise die erst später vom Dichter allmählich formulierte dichtungstheoretischen Ansprüche. Storm hat seine Verse meisterhaft durchgeformt und so die einförmige Konventionalität des Versbaus durch vielfältige klangliche Modifikationen der Akzentuierung variiert.[44] Die eigentümliche Faszination, die es ausstrahlt „weist aber auch, seiner geheimnisvollen Instrumentation wegen, voraus auf Gedichte, die drei, vier Jahrzehnte später geschrieben wurden: von den symbolischen Lyrikern des Fin de siècle.“[45]

Die Beschäftigung mit Bürgers Biographie ist zugleich ein Beleg für Storms literaturhistorisches Interesse. Am 12. Mai 1875 schrieb er an seinen Berliner Verleger Paetel:

Die Bürgerschen Briefe1 habe ich dankend empfangen und schon zur Hälfte durchstudirt. Es entrollt sich darin ein breites culturhistorisches Bild und Bürger mit allen andern Personen, die in dem Drama seines Lebens aufgetreten werden uns auf’s unmittelbarste nahe gerückt. Das mit echt Strodtmannschen Fleiße – ich besitze auch seine kritische Ausgabe nebst Biographie v. Heine – gearbeitete Register macht schon diese Briefsammlung fast zu einer Biographie; und ich kann nur wünschen, daß es von Allen mit solchem Interesse gelesen werde, wie es mir erregt hat, damit Sie und der Herausgeber, dem ich gelegentlich meine Herzliche Anerkennung auszusprechen bitte, für dieß muthige und schöne Unternehmen auch den gebührenden Lohn erlangen.

Der demnächstigen Biographie – wann kommt sie denn? – müßten aber wenn irgend möglich die Portraits von Bürger (am liebsten 2 aus verschiednen Lebensaltern) u. Molly, wo möglich auch von den zwei andern Frauen, und von Adolph Müllners Mutter, dieser ins Gröbere übersetzten Frau Rath, und von Boie beigegeben werden.

Mit dem Verlagsvertrag über die Novelle „Psyche“ hatte sich Storm beim Verlag die von Adolf Strodtmann herausgegebenen Briefe von und an Bürger ausbedungen. Sie befanden sich anschließend in seiner Bibliothek.[46] Der Brief verrät eine genaue Kenntnis der Lebensumstände Bürgers und seiner näheren Verwandten und Bekanntschaften. Eine neuen Biographie des Dichters ist in diesem Zeitraum weder im Verlag Paetel noch sonst irgendwo erscheinen; Storm besaß aber zwei Informationsquellen, aus denen er sein Interesse an Bürgers ungewöhnlichen Liebesleben stillen konnte, die durch Briefe und eine Lebensabriß ergänzte Ausgabe von Bohtz aus dem Jahre 1835, sowie die 1856 von Heinrich Pröhle veröffentlichte Lebensbescheibung.[47] Aus diesen Quellen war ihm bereits während seiner Schulzeit bekannt, dass Bürgers erotische Gedichte nicht als stilisierte Darstellungen fiktiver Wunschvorstellungen gelesen werden mussten, sondern Storm und seinen Schulfreunden durchaus als Ausdruck eines wirklich vollzogenen Lebensprogramms erscheinen konnten[48]:

Ich habe zwei Schwestern zu Weibern gehabt. Auf eine sonderbare Art, zu weitläuftig hier zu erzählen, kam ich dazu, die erste zu heirathen, ohne sie zu lieben. Ja, schon als ich mit ihr vor den Altar trat, trug ich den Zunder zu der glühendsten Leidenschaft für die Zweite, die damals noch ein Kind und kaum vierzehn bis funfzehn Jahr alt war, in meinem Herzen. [...] Die Angetrauete entschloß sich, mein Weib öffentlich und vor der Welt zu heißen, und die Andere, in geheim es wirklich zu seyn.

Es gibt zu dieser „Beichte“ Bürgers zwei Parallelen in Storms Biographie; die erste finden wir in seinem Brief an Friederike Scherff vom März 1841, wo der 23jährige Student der mütterlichen Freundin seine Liebe zu der fünfzehjährigen Bertha von Buchan mit den Worten anvertraut[49]: „Und jetzt muß ich Dir das Manchen vielleicht Unbegreifliche sagen, ich habe schon damals das Kind geliebt. Aber Du darfst nicht darüber nachdenken. Liebe Friede, Du mußt mir blindlings glauben!“ Und viele Jahre später, im April 1864, vertraute er seinen Freunden Laura und Hartmuth Brinkmann an, wie er eine ebensolche ménage a trois zu Beginn der Ehe mit seiner ersten Frau Constanze erträumte, als Storm sich in seine spätere zweite Ehefrau, die damals dreizehnjährige Dorothea Jensen, verliebte[50]; seinen Text leitet er mit dem bezeichnenden Satz ein „Eine große Beichte habe ich gegen Euch abzulegen“:

In mein Leben, wie in meine Poesie theilen sich zwei Frauen; die eine die Mutter meiner Kinder, Constanze, die so lange der Stern meines Lebens war, ist nicht mehr; die andre lebt, nachdem sie fern von mir allein und oft in drückender Abhängigkeit verblüht ist. Beide habe ich geliebt, ja beide liebe ich noch jetzt; welche am meisten, weiß ich nicht; die erschütterndste Leidenschaft hat mir einst die noch Lebende eingeflößt; die leidenschaftlichen Lieder, die Ihr ja oft gelesen, sind der Kranz, den sie noch jetzt in ihrem Haar trägt. Beide sind sie, obwohl sonst mannigfach verschieden, die süßesten mildesten Frauenseelen, die ich im Leben gefunden und von grenzenloser Hingebung an den geliebten Mann. Das wäre noch alles schön u. gut; aber die Leidenschaft für die Lebende brach über mich herein, als die Verstorbene schon mein Weib war. — So kam es.

Während meines Brautstandes kam meine Schweser Cäcilie mit einem etwa 13jährigen Mädchen, einer feinen zarten Blondine, auf mein Zimmer. Sie hatten sich verkleidet und hielten sich eine Zeit lang bei mir auf. Als sie gegangen sagte ich mir betroffen, daß dieses Kind mich liebe, und erinnere mich dessen noch wohl, daß sie schon damals einen eigenthümlichen Reiz für mich hatte.

Ich heirathete und jenes Mädchen, damals eben aufgeblüht kam oft in unser Haus. In meiner jungen Ehe fehlte Eins, die Leidenschaft; meine und Constanzens Hände waren mehr aus stillem Gefühl der Sympathie in einander liegen geblieben. Die leidenschaftliche Anbetung des Weibes, die ich zuletzt für sie gehabt, gehört ihrer Entstehung nach einer späteren Zeit an. Aber bei jenem Kinde, die wie ich glaube mit der Leidenschaft für mich geboren ist, da war jene berauschende Athmosphäre, der ich nicht widerstehen konnte. Vielleicht mag ich auf sie eine gleiche Wirkung gehabt haben. Gewiß ist, daß ein Verhältniß der erschütterndsten Leidenschaft zwischen uns entstand, das mit seiner Hingebung, seinem Kampf und seinen Rückfällen jahrelang dauerte und viel Leid um sich verbreitete, Constanze und uns.

Die auffälligen Parallelen zwischen Bürgers und Storms „Beichten“ lassen den Versuch erkennen, das sprachlich zu fassen, was emotional bewältig werden soll und eigentlich tabuisiert ist. Selbst in Storms privater Korrespondenz ist die Selbstzensur wirksam, die alle seine Schreibprozesse bestimmt hat und in der die bürgerlichen Wertvorstellungen seiner Zeit wirksam werden. Der Ehebruch darf nur dann zum Thema einer schriftlichen Darstellung werden, wenn dadurch zugleich eine Ent-Schuldigung vollzogen wird. Storm bedient sich in seiner „Beichte“ der damals gängigen Formeln, um Intimes darzustellen, und schreibt: „leidenschaftliche Anbetung des Weibes“, „berauschende Atmosphäre“ und „Verhältnis der erschütterndsten Leidenschaft“. Aber wie schon in seiner ersten Erzählung „Celeste“, in der junge Storm seinen inneren Kampf gegen die Scheu vor dem Liebesakt mit dem Hinweis auf eine als widernatürlich empfundene Selbstbeschränkung zu erklären sucht und die damit verbundenen Schuldgefühle in einen Gegensatz zum natürlichen menschlichen Empfinden stellt, entschuldigt er zwanzig Jahre später seinen damaligen sexuellen Fehltritt mit der Natur des Menschen, denn Dorothea war „mit der Leidenschaft für mich geboren“, einer sinnlichen Forderung, „der ich nicht widerstehen konnte“.

 

Anmerkungen


[1] Theodor Storm und Gottfried Keller. Briefwechsel, hg. von Karl Ernst Laage. Berlin 1992. Brief vom 7.4.1877.

[2] Meine Erinnerungen an Eduard Mörike; LL 4, S. 470.

[3] Günter Häntzschel: Gottfried August Bürger. München 1988. (Beck’sche Reihe 608.)

[4] Friedrich Schiller: Über Bürgers Gedichte (1791); in: F. Sch.: Sämtliche Werke. Hrsg. von G. Fricke und H. G. Göpfert. 5. Aufl. München 1975, Bd. 5, S. 970-985; dort sind auch Bürgers Erwiderung: Vorläufige Antikritik, S. 1239-1244 und Schillers Replik: Verteidigung des Rezensenten gegen obige Antikritik, S. 985-991 abgedruckt. Vergl. dazu Gunter E. Grimm: „Lieber ein unerträgliches Original als ein glücklicher Nachahmer“. Bürgers Volkspoesie-Konzept und seine Vorbilder. In: In dem milden und glücklichen Schwaben und in der Neuen Welt. Beiträge zur Goethezeit. Festschrift für Hartmut Fröschle. Hg. von Reinhard Breymayer Stuttgart 2004. (Suevica. Beiträge zur schwäbischen Literatur- und Geistesgeschichte; 9), S. 55-74.

[5] Gottfried August Bürger: Sämtliche Werke. Hg. v. Günter und Hiltrud Häntzschel. München 1987, S. 1027.

[6] Gottfried August Bürgers „Sämtliche Werke in 6 Theilen“, Göttingen 1829; Storms Name findet sich in Bd. 5.

[7] Der 5. Teil enthält Übersetzungen aus Ossian und Shakespeares „Macbeth“ sowie Ludwig Christoph Althofs Abhandlung „Einige Nachrichten von den vornehmsten Lebensumständen Gottfried August Bürger’s; nebst einem Beitrage zur Charakteristik desselben“; in den übrigen Bänden finden wir die Namen seiner Mitschüler Klander, Koopmann und Setzer, so dass mit großer Wahrscheinlichkeit Storm auch diese Bände gelesen hat. (Exemplare in der Husumer Schulbibliothek)

[8] Theodor Storm: „Entwürfe einer Tischrede“ (1), in: LL 4, S. 488: „Erst die Hildburghauser Kabinett<-> und Miniaturausgabe brachte uns eine Menge Dichtungen; aber von Poeten, die damals wohl schon meist vergessen waren, freilich Bürgers Lenore und Wielands Oberon waren dazwischen.“

[9] Die Schauerballade „Lenore“ ist in Bd. 1 von Bürgers Werken enthalten (S. 59-72).

[10] Bürger’s sämmtliche Werke hg. von August Wilhelm Bohtz. Göttingen 1835, S. 104-111. (Storms Bibliothek, StA mit dem Eintrag „HWStorm.“) Storm hat diesen Band in Lübeck Ende 1835 oder im folgenden Jahr erworben, wie ein eingeklebter Zettel in der Einband-Innenseite belegt: „Zu haben in der von Rohden’schen Buchhandlung in Lübeck, Breitestraße Nº. 785.“

[11] Vergl. Gerd Eversberg: Theodor Storms Schulzeit. Heide 2006.

[12] Nach einer Handschrift aus der zweiten Hälfte 1836 mit Gedichten, die Storm seinen Eltern zu Weihnachten schenkte (SHLB); LL 1, S. 168ff.

[13] „Bürger von August Wilhelm von Schlegel“ (Erstdruck 1800). In: Bohtz, S. 503-524. Bürgers Vorreden zu den Ausgaben seiner Gedichte von 1778 und 1789 ebenda, S. 223ff; sein Essay „Von der Popularität der Poesie“ ebenda, S. 333ff.

[14] Günter und Hiltrud Häntzschel im Nachwort zu ihrer Ausgabe von Bürgers sämtlichen Werken, München 1987, S. 1413.

[15] Vergl. zum Folgenden Heinrich Detering: „Der letzte Lyriker“. Erlebnis und Gedicht – zum Wandel einer poetologischen Kategorie bei Storm. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 53 (2004), S. 25-41.

[16] Ebenda, S. 27.

[17] Dieter Lohmeier hat die Erzählung 1988 zum ersten Mal in Band 4 der vierbändigen Storm-Ausgabe ediert und setzt ihre Niederschrift um 1840 an (S. 265-268; 748-750). Ihre motivische Verwandtschaft mit den im zweiten Halbjahr 1835 entstandenen Gedichten „Mein schönes Wunderland“ und „Träumerei“ verweist eindeutig in Storm Lübecker Zeit (Herbst 1835 bis Ostern 1837).

[18] Handschrift in der Schleswig-Holsteinschen Landesbibliotehk Kiel; hier nach LL 4, S. 266-268.

[19] Nach dem Abdruck bei Bohtz, S. 104f.

[20] Als Knabe hat er sehr wahrscheinlich Joachim Heinrich Campes erzieherische Bearbeitung von D. Defoes „Robinson Crusoe“ gelesen, die seit 1779/80 unter dem Titel „Robinson der Jüngere“ in vielen Auflagen erschien.

[21] Deutsche Liebeslieder seit Johann Christian Günther. Eine Codification von Theodor Storms. Berlin 1859. Voreort zitiert nach LL 4, S. 377-380.

[22] Theodor Storm: Gedichte. Kiel 1852.

[23] Storm an Brinkmann, Husum, 10.12.1852.

[24] Storm an Heyse, Husum, 13.9.1871.

[25] Hausbuch aus deutschen Dichtern. Eine kritische Anthologie von Theodor Storm. Hamburg 1870. – 2., unveränderte Aufl. 1872. – Erste illustrirte Ausgabe (3. Auflage) Leipzig 1875. – 4. durchgesehene Aufl. 1878. Eine 5. Auflage hat Storm vorbereitet, sie ist aber nicht erschienen. Neudruck hg. von Gerd Eversberg und Walter Hettche, Husum 1993.?

[26] Entwürfe und Konzepte zum „Hausbuch“ (StA); Konvolut I, Blatt 8.

[27] Auf diese Edition beziehen sich die Seitenangaben von Storms Notizen zu Bürgers Gedichten.

[28] Teil eines Briefes an einen Kollegen, datiert: „Husum, 4. Mai 1879“; Exemplar aus Storms Bibliothek, StA Husum.

[29] Entwürfe und Konzepte zum „Hausbuch“ (StA); Konvolut II (Nachlass Ernst Storm IV, I, Bl. 2 und 4); neben diesen beiden ursprünglich zusammengehörigen Konvoluten (I und II) im Husumer Storm-Archiv sind weiter dazugehörige Notizblätter zum „Hausbuch“ im Storm-Nachlass der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek Kiel vorhanden.

Übersicht zu Storms Auswahl der Gedichte Bürgers:

Bürgers Gedichte

Bohtz

Storm Editionen

Lenore

13ff.

Hausbuch 1-2, S. 22ff.; Hausbuch 3, S. 18ff.; Hausbuch 4, S. 20ff.

Die Weiber von Weinsberg

25f.

--

Abendphantasie eines Liebenden

26

Liebeslieder, S. 5ff.; Hausbuch 4, S. 32f.; Hausbuch 5: gestrichen

Das Lied vom braven Manne

36f.

Hausbuch 1-2, S. 30ff.; Hausbuch 3, S. 23ff.; Hausbuch 4, S. 28ff.; Hausbuch 5: gestrichen

Liebeszauber

50f.

Liebeslieder, S. 7ff.

Molly’s Abschied

63

Liebeslieder, S. 10f.

Der Kaiser und der Abt

66f.

--

Trost

77

Hausbuch 1-2, S. 34; Hausbuch 3, S. 27

Mittel gegen die Hochmuth der Großen

79

--

Auf das Adeln der Gelehrten

80

--

Die Esel und die Nachtigallen

88

Hausbuch 1-2, S. 34; Hausbuch 3, S. 27

An das Herz

104

Liebeslieder, S. 11f.; Hausbuch 1-2, S. 35; Hausbuch 3, S. 27; Hausbuch 4, S. 34

Unter zwei Übeln lieber das Kleinste

112

--

 

[30] Dies und die folgenden Zitate nach dem Abdruck von Schlegels Bürger-Essay bei Bohtz.

[31] Theodor Storm - Ernst Esmarch. Briefwechsel, hg. von Arthur Tilo Alt. Berlin 1979, S. 61f.

[32] Gottfried August Bürgers „Sämtliche Werke in 6 Theilen“, Göttingen 1829, Fünfter Theil, S. 278.

[33] Gottfried August Bürger’s Ehestands-Geschichte. Berlin und Leipzig 1812. Ein solches Exemplar stand in Storms Bibliothek.

[34] Ebenda, S. 102.

[35] Einige Nachrichten von den vornehmsten Lebensumständen Gottfried August Büger’s [...] von Ludwig Christoph Althof. In: G. A. Bürger: Sämtliche Werke. Fünfter Theil. Göttingen 1928, s. 175ff. Wieder in: Bohtz, S. 429ff.

[36] Theodor Storm- Constanze Esmarch. Briefwechsel, hg. von Regina Fasold. 2 Bde, Berlin 2002.

[37] Theodor Storm- Constanze Esmarch., Bd. 1, S. 16.

[38] Entstanden 1846; hier nach LL 1, S. 23.

[39] Friedrich Ackermann: Zum Rhythmusproblem: verdeutlicht an Storms Gedicht „Hyzinthen“. In: Pädagogische Provinz 19 (1965), S. 26-39.

[40] Thomas Mann: Theodor Storm Essay. Herausgegeben und kommentiert von Karl Ernst Laage. Heide 1996, S. 17ff.

[41] Dieter Lohmeier in seinem Kommentar in LL 1, S. 776.

[42] Friedrich Ackermann: Zum Rhythmusproblem: verdeutlicht an Storms Gedicht „Hyzinthen“, S. 31.

[43] Zitiert nach LL 4, S. 393

[44] Eine detaillierte Analyse der metrischen und rhythmischen Struktur entfaltet Friedrich Ackermann.

[45] Hans Bender: Liebesmüdigkeit. In: Frankfurter Anthologie (FAZ vom 12.4.1980).

[46] Adolf Strodtmann (Hg.): Briefe von und an Gottfried August Bürger. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte seiner Zeit. Aus dem Nachlasse Bürger’s und anderen, meist handschriftlichen Quellen in vier Bänden (Bd. 1: 1767-1776, Bd. 2: 1777-1779, Bd. 3: 1780-1789, Bd. 4: 1790-1794).

[47] Gottfried August Bürger. Sein Leben und seine Dichtung. Von. Dr. Heinrich Pröhle. Leipzig 1856.

[48] Im 5. Teil der „Sämtliche(n) Werke“ (Göttingen 1829), ist Bürgers „Beichte eines Mannes, der ein edles Mädchen nicht hintergehen will“ abgedruckt (S. 175ff.); das Zitat stammt von S. 290f. Storm fand denselben Text auch in der Ausgabe von Bohtz.

[49] Gerd Eversberg: Storms erste große Liebe. Theodor Storm und Bertha von Buchan in Gedichten und Dokumenten. Heide 1995. (Editionen aus dem Storm-Haus 8.), S. 124.

[50] Theodor Storm Hartmuth und Laura Brinkmann. Briefwechsel, hg. von August Stahl. Berlin 1986. Brief vom 21.4.1866.

 

„Bürgers trunkene Liebesphantasie“. Theodor Storm und Gottfried August Bürger. In: Storm-Blätter aus Heiligenstadt. 13. 2007, S. 29-61.