Briefe an Susanne                                                                   Kommentar

 

139. Gerhard E.                                                Solingen, 31.12.65

Liebe Susanne!

Vielen Dank für Deinen Brief. Leider ist es mir nicht möglich, Dich anzurufen, da ich augenblicklich richtig erkältet bin und nicht nach draußen kann. Entschuldige das bitte!

Gestern hat es hier tüchtig geschneit, doch heute ist es wieder warm und es regnet ununterbrochen. Hoffentlich habt Ihr mit dem Schnee mehr Glück! Vom PAO habe ich noch nichts gehört, und es sieht so aus, als ob es mit dem Seminar nichts wird. Hier zu Hause ist natürlich überhaupt nichts los und ich langweile mich entsprechend. Meine Hauptbeschäftigung besteht im Lesen, doch davon habe ich jetzt auch genug. Mir fehlt einfach die Schule.

Ich freue mich schon auf Deine Rückkehr; brich’ Dir nichts und sein schön artig!

Aus Langeweile habe ich mir neulich einen Karl-May-Film angesehen. Niemand ist zu Hause, dem man mal besuchen könnte; so richtig Solinger Kaff! Bedauere mich mal, wenn Du Zeit hast!

So, nun erhole Dich gut, und komm gut nach Hause. Viele Grüße und Küsse und ein glückliches 1966 wünscht

Dein Gerhard.

 

[Anlage]

 

                        Traum

1

Regen prasselt an die Scheiben

Ich liege im Bett

Ein nackter Überschuh

Zieht traumweich Helm herab

Buchseitengleich ein Lichterglanz

Zwei Augen starrn vom Mond herab

Und regennasse Straßen spiegeln

Ein Eiweißmal mit Dotterblick

Der rote Punkt am grünen Horizont

Ein Strich –

Wer zählt den weiten Vogelflug und wer legt Eier?

Ein gelbes Gummibein an Waldesflur

Und dunkle Drahtluft schlingt um sich

Bis tropfenweis der Anker fällt

Und Licht löscht auf der Autobahn

Das Meer zerfurcht von schwarzen Klippen

Ein Lampenfest mit Eichenlaub

Steht auf im fernen Nadelwald

Jetzt fällt er um

Hinter einer Wolke droht zehngespreizt

Die Hand des alten Gottes

Der Kahn zieht in Unendlichkeit

Der Echse gleich die schwimmt

Da kommt ein Licht und es wird hell

 

2

Ein Auto spritzt das Pfützennaß

An eine Wand –

Wind heult ums Haus

Ein grünes Fenster öffnet sich

Fünf Sterne stehn am Firmament

Steh auf du Huhn sonst wirst du naß

Die Burg stürzt ein – es kracht der Schuß

Der Drache beißt den Starkstromdraht

Ein Frosch fällt aus dem Teich

Und Zuckerhut auf Eisenweich

Getanzter Berg mit Königsrock

Hinaufgespritzter Dampfroßlaß

In Booten hoch gewellte Felsenfischermassen

Geschweiftgestreiftgesargt herab

Hinunter in das kühle Grab

Baum modert schwer in Wasserfäule

Es regnet immer noch

 

3

Ein Atemzug reicht nicht aus

Um alles zu beschreiben was man sieht

Dort türmt sich die Stadt

Umrahmt vom Rechteck

Der schwarz vor blauem Himmel drängenden Wolken

Wetterfahnen klirren im Wind

Abendrot verkündet Regen

 

4

Wasser fließt durch die Traufe

Die Klappbrücke schlägt herab

Aus Fenstern sprüht Licht

Der Koloß stürzt

Gebein steht auf

Und Ähren bricht der Sommerwind

Ein Schmetterling flattert über die Felder

Vom Sonnenlicht vergoldet

Friedlich liegt hinter den Hügeln ein Dorf

 

5

Die Wolke schiebt Regen

Wasser dringt ein

Die Kreatur hält sich an der Kette fest

Der Streifen schleift hell

Gestrichelter Vogel

Glimmendes Holz in orangen Licht

Göttliche Sieben in Gewitterwolken

Aufreißender Himmel

Drohendes Blau

Zerfetzender Blitz

Zerrissener Gesang

Er fletscht die Zähne und hält

Das blaue Skelett in der Hand

 

6

Der Wind treibt Regen heran

Grün ist die Zeit wie Messer schnell

Wo werden wir wohnen wenn alles vorüber ist?

Wer gibt uns die Ruhe

Wer näht uns zusammen

Wer stopft uns aus mit Sägemehl?

Im Eimer liegt der rauschende Wald

Und nebelgetriebener Postbote kommt

Wir müssen schweigen seit die Hoftore verschlossen sind

Und Hosen hängen auf der Leine

Da schwemmt der Regen den Rest fort

Nichts erinnert mehr an ihn

Er liegt im Bett

Ich sehe dich

Und du bist ich