Briefe an Susanne                                                                   Kommentar

 

149. Gerhard E.                                                [Elixhausen, 8.66]

Lieber Schatz!

Heute möchte ich Dir einen längeren Brief schreiben und Dir berichten, was hier im Einzelnen schon vorgefallen ist. Leider ist es in diesem Jahr so, daß wir hier einige Kinder aus sozial schlechtgestellten Familien haben. In meiner Gruppe ist ein Junge, der geistig nicht ganz da ist. Er ist zwar ein netter Kerl, er kommt aber bei jeder Gelegenheit zu mir, um mich zu fragen. Dann schaltet er schwer, das heißt, wenn ich sage, alle Kinder sollen im Zimmer bleiben, läuft er bestimmt hinunter. Du kannst Dir vorstellen, daß ich auf ihn besonders achten muß. Seine Mutter hat ihm außer Hausschuhen nur ein Paar Schuhe eingepackt.

Doch Wolfgang hat einen viel tragischeren Fall in seiner Gruppe. Der Junge ist zuerst leicht rachitisch. Wenn man ihn an der Schulter fasst, glaubt man, er bestehe nur aus Knochen. Als wir herkamen, wollte er nicht essen, sprach kein Wort und weinte fortwährend vor sich hin. Das dauerte etwa drei Tage, bis Wolfgang sich drei Stunden mit ihm unterhielt. Dabei kam folgendes heraus: Seine Mutter ist Serviererin, seinen Vater kennt er nicht. Seine Mutter, die er sehr gern hat, lebt mit einem Mann zusammen, der ihn nicht zu Hause haben möchte. Darum ist es ohne den Willen seiner Mutter in ein Internat geschickt worden. Dort fühlt er sich nicht wohl. Nun hat er sich natürlich furchtbar auf zu Hause gefreut, als er aber ankam, mußte er sofort wieder mit uns hierher fahren. Wenn Du die Augen dieses Kindes einmal gesehen hast, ach ich kann nicht schreiben, was ich dabei empfinde!

Ein dritter Junge ist asthmakrank. Einmal war Wolfgang mit seiner Gruppe im Wald, als er plötzlich einen Anfall bekam. Wir haben auch noch eine dreizehnjährige Bettnässerin, die wir nicht nach Hause schicken können, da ihre Mutter im Krankenhaus liegt und noch drei Geschwister da sind.

Du siehst also, daß hier neben dem schlechten Wetter noch viel zu tun ist. Besonders meine Gruppe ist kaum zu bändigen. Wenn Du meine Stimme hören könntest! Sie ist so tief wie noch nie durch das viele Geschrei.

Wenn ich mit den Jungs spazieren gehe, fangen bestimmt zwei damit an, Korn abzureißen oder Steine zu werfen. Es dauert dann eine halbe Stunde, bis ich ihnen klar gemacht habe, daß ich dies verboten hätte. Trotzdem kommt dann bestimmt einer zu mir, der einen Stein vor den Kopf bekommen hat. Gestern waren wir auf dem Schafberg, doch das Wetter hat uns in Stich gelassen. Trotzdem war der Ausblick ganz angenehm.

Heute hat es furchtbar gegossen und ich hatte Schwierigkeiten, meine elf Jungs zu beschäftigen.

Jetzt gehen wir zum Essen und anschließend ist Mittagsruhe. Gerade ist in meinem Zimmer eine Schlägerei ausgebrochen und ich muß wieder einmal toben.

So, das wär’s für diesmal.

Schade, daß Du nicht hier sein kannst. Ich freue mich aber schon auf Zuhause.

Viele Grüße und noch mehr Küsse,

Dein Gerhard.