Briefe an Susanne                                                                   Kommentar

 

179. Gerhard E.                                                Schwarzenborn, 17.3.67

Mein lieber Schatz!

Gerade bin ich um 01.30 geweckt worden, denn ich habe schon wieder einmal G.v.D.! Nach drei Stunden Schlaf bin ich verdammt müde. Leider habe ich den fachärztlichen Befund immer noch nicht. Ich war am Mittwoch und Donnerstag in Gießen und wurde untersucht. Ich glaube, noch mehr Tests kann man gar nicht mehr machen. Über den Befund werde ich wahrscheinlich erst nach Ostern Bescheid wissen. Am Mittwoch werde ich nach Niederlahnstein zum 155. Panzerartilleriebataillon versetzt. Wenn ich Osterdienstbefreiung bekomme, bin ich am Mittwoch abends zu Hause. Die Aussichten, entlassen zu werden, sind gering. Ich werde allerdings den Antrag auf Entlassung stellen. Wenn dieser Antrag abgelehnt wird, was zu erwarten ist, beschwere ich mich darüber und füge Gutachten über den Zustand meines Rückens bei. Zu diesem Zweck werde ich in Solingen einen Arzt aufsuchen. Wenn diese Beschwerde wiederum keinen Erfolg hat, schreibe ich meinen Fall an den Wehrbeauftragten des deutschen Bundestages. Ich hoffe, daß danach eine erneute Prüfung meines Gesundheitszustandes unternommen wird. Wichtig ist aber erst zu wissen, was der Arzt in Gießen schreiben wird.

Ich freue mich schon, in die neue Einheit zu kommen, denn Niederlahnstein hört sich bedeutend sympathischer an als „Blackborn-City“! Vor allem aber ist man schneller in Koblenz und von dort fahren noch mehr Züge nach Köln als von Solingen. Die Fahrt dauert dann nur 1½ Stunden und wird billiger.

Ob ich aber Osterdienstbefreiung bekomme, ist ungewiß, da wir meist gleich als Bereitschaft eingesetzt werden. Wenn ich kann, bin ich so schnell wie nur irgend möglich in Solingen, denn nach fast 3 Wochen sehne ich mich doch nach Dir! Habe ich Pech, kann ich erst zu Pfingsten frei bekommen. Dann komme ich aber gleich am nächsten Wochenende.

Nun, bis dahin hoffe ich, endlich Klarheit zu haben. Ich mache hier, wie ich schon schrieb, hauptsächlich G.v.D. und kann mir die halben Nächte um die Ohren schlagen. Die ganze Bundeswehr macht mir nicht für fünf Pfennige mehr Spaß; am liebsten würde ich alles hinwerfen.

Etwas anderes, das unerwartet eintraf, macht mir noch mehr Sorgen.

Als ich mich als OA beworben habe, ging ich mit dem Bewußtsein zur Bundeswehr, neben einer Pflicht dem Vaterland und damit den Menschen hier gegenüber, mein Ideal von der Freiheit des Individuums verteidigen zu können. Hier habe ich erkennen müssen, daß ich mit falschen Vorstellungen zur Bundeswehr gegangen bin. Ich frage mich schon seit einem Monat, ob ich jetzt nicht den Kriegsdienst verweigern muß. Die ganze Art der Ausbildung hier, die auf das Töten von Menschen gerichtet ist, die genau das Gleiche denken und fühlen wie wir, ist mir unerträglich geworden. Ich hatte in den letzten Wochen viel Zeit, über dieses Thema nachzudenken. Es ist nicht so, daß ich etwa Gefallen an den Parolen der Kriegsdienstverweigerer- und Ostermarschierervereinigungen gefunden hätte, auch ist es keinen plötzliche Wendung zum Christentum, die mir die Gedanken eingab, nein, ich habe Bedenken bekommen, ob ich diesen Dienst und diese Ausbildung vor meinem Gewissen vereinbaren kann.

Es ist Dir vielleicht an dem Wochenende, an dem wir bei St.s waren, aufgefallen, wie bedrückt ich war. Gerade damals ist mir zum ersten Mal bewußt geworden, was ich hier eigentlich tue. Die ganze Art der Kriegsführung, die wir gelehrt bekommen, besteht in der Aufgabe, den angenommenen Gegner (der im Osten steht) mit allen Gemeinheiten, die sich der menschliche Erfindungsgeist ausdenken kann, möglichst schnell schwer zu verletzen oder zu töten. Was mich besonders nachdenklich gestimmt hat, ist ein Brief meiner Großmutter, in dem sie schreibt, daß alle Freunde, die ich in Magdeburg hatte, auch zur Armee eingezogen worden sind. Mir ist die Vorstellung unerträglich, daß auf beiden Seiten zwei Menschen, die sich in ihrer Kindheit gut verstanden haben, nun beigebracht bekommen, einander möglichst wirkungsvoll umzubringen.

Von der grausamen Wirkung, die ein Atomkrieg mit sich bringt, will ich gar nicht erst sprechen. Eine weiß ich aber genau: Ein Atomwaffeneinsatz läßt sich in einem Krieg in Europa nicht vermeiden. Ich frage mich oft verzweifelt, warum es so lange dauern mußte, bis mir diese Probleme zu Bewußtsein gekommen sind.

Erinnerst Du Dich noch daran, wie unbeeinflußt Jochen von diesen Dingen erschien, als wir bei ihm waren? Ich vermute, daß ein so sensibler Mensch wie er doch noch mehr unter diesem Probleme leiden muß. Vielleicht war es auch nur eine Gegenreaktion, damit man nicht erkennen sollte, was wirklich los ist.

Die Illusion, einen anständigen, sauberen Krieg als Verteidigungsnotwehr führen zu können, bin ich los. Das ganze Kriegswesen hat in einer zivilisierten Welt, in der es empfindsame Menschen gibt, die um das Erkennen der wesentlichen Dinge des Lebens und des Seins ringen, einfach keine Berechtigung. Du wirst mir entgegenhalten, daß nur ein ganz, ganz geringer45 Teil alles Menschen so denkt und daß die große Masse dumm und unbelehrbar ist, und ich muß Dir zustimmen. Trotzdem oder gerade deshalb muß ich vor meinem Gewissen mit der Frage bestehen, ob ich nicht gegen dies alles protestieren muß.

Ich habe selber den Zweiten Weltkrieg nur vom Hörensagen kennengelernt, doch ein Film wie „Die Brücke“ zum Beispiel zeigt deutlich und eindringlich den Schmutz der ganzen Angelegenheit. Erinnerst Du dich daran, daß F.J. Strauß, unser späterer Verteidigungsminister, Anfang der Fünfziger Jahre gesagt hat, daß jedem Deutschen, der noch einmal eine Waffe trägt, der Arm abfallen soll? Diese Worte, die unter dem Schrecken des gerade überwundenen Krieges gesprochen worden sind, sollen heute ganz vergessen sein? Hat es nicht ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den alten Gegnern gegeben, das die Menschen vernünftig machte, als sie übereinstimmten: „Nie wieder Krieg!“?

Ich frage mich, wie soll ich später, wenn unsere Kinder einmal vor dem gleichen Problem stehen, vor sie treten und dann die Frage „Und wie hast Du Dich verhalten?“ beantworten!

Ein Leben, das doch nur erfüllt werden kann, wenn man vor dem, was wir Gewissen nennen, auch alle seine Entscheidungen voll vertreten kann, beginnt sinnlos zu werden, sobald wir einem Gewissenskonflikt ausgeliefert sind, für den wir keinen Lösung sehen.

Erinnere Dich an „Katz und Maus“ von Günter Grass: Ist Mahlke nicht in den Tod gegangen, weil zwei Welten in ihm aufeinander prallten? Da war auf der einen Seite das Leben der Kinder, die an viele Dinge glaubten, und dann kam der Krieg mit Tod und Grausamkeiten und dem Bewußtsein, selber getötet zu haben. Dieser Konflikt ist es, der Mahlke in den Tod treibt.

Und ich fühle mich wie er: Muß ich nicht scheitern, wenn ich andere Menschen töte, obwohl ich mein ganzes Leben nur einem Ziel gewidmet habe, nämlich der Erkenntnis des Wesentlichen und Geistigen, das ich in der reinen Naturwissenschaft und auch, ja besonders und ganz anders, in der Liebe zu finden suche?

Vor mir steht die große, unbeantwortete Frage, ob nämlich ich als so denkender und empfindender Mensch das Leben anderer zerstören darf, die selbst Individuen sind, die zwar nicht immer das gleiche denken, doch aber auch in irgend einer Weise empfindsam sind.

Mich hat die Gedankenlosigkeit vieler erschreckt, die hier ihren Dienst tun und sich nicht über die Tragweite ihres Handelns im Klasen sind. Ich weiß nicht, was für seelische Qualen es bedeuten muß, einen Menschen absichtlich zu töten, doch die Ausbildung dazu macht mir schon Mühe genug. Als Offizier werde ich nie einem Rekruten gegenüber, der mich nach diesen Dingen fragt, ruhig ins Gesicht sehen können.

Was empfindest Du bei dem Gedanken, eines Tages könnte die Nachricht kommen, ich sei gefallen? Nun, was muß da aber die Verlobte oder Frau meines potentiellen Gegners denken, der ebenfalls liebt und geliebt wird wie ich? Sie ist Dir in dem Falle völlig gleich und mir bleibt sie Entscheidung, nämlich vor meinem Gewissen den Mord an einem Menschen, der liebt und geliebt wird wie ich, zu rechtfertigen; und diese Rechtfertigung ist mir nicht möglich.

Den Krieg als Selbstverteidigung zu sehen, weil doch der Feind uns umbringen würde, wenn wir es nicht mit ihm tun, ist auch falsch, da wir ja beide kein Interesse daran haben zu töten oder zu sterben. Entscheiden darüber können wir nämlich überhaupt nicht. Diejenigen, die wirklich entscheiden, gehen von ganz anderen Erwägungen aus, die mit Menschlichkeit nichts zu tun haben. Krieg entsteht immer nur aus zwei Gründen: Der erste ist wirtschaftlicher Art, da ein Krieg für viele gute Verdienstmöglichkeiten bietet. Ich bin überzeugt davon, daß weite Kreise in Amerika gar kein Interesse an der Beendigung des Vietnamkrieges haben, da sonst die amerikanischen Industrie gewissen Einbußen erleiden müßte. Der andere Grund geht tiefer und besteht schon seit Anfang der Menschheit.

Bestimmte Gruppen haben die Auffassung, etwas Besonderes zu sein, ich erinnere bloß an die Religionskriege, in  denen beide Parteien behaupteten, sie würden das eigentliche Christentum vertreten, oder an die Überheblichkeit des Geredes von der „Arischen Rasse“, aus der die ganze Misere des Zweiten Weltkrieges entstanden ist. Diese Überheblichkeit ist der Grund, warum es immer Kriege gegeben hat und warum es immer Kriege geben wird. Die Römer glaubten, sie. Mit ihrer hohen Kultur hätten das Recht, alle Barbaren zu unterwerfen. Ähnlich ist es auch heute noch. Die zwei Systeme, die sich in Ost und West gegenüberstehen, sind einander nur feindlich gesonnen, weil jeder behauptet, er hätte das wahre Evangelium gefunden und müsse den anderen nun um jeden Preis zu seiner eigenen Ansicht bekehren.

Diese wahnsinnige Überheblichkeit des Menschen, der sich selbst für den einzig wahren Vertreter einer Idee hält, ist der Grund für alle Schlechtigkeit, die es auf der Welt gibt. Wir haben uns schon einmal über das Problem außerirdischen Lebens unterhalten. Auch hier zeigt sich doch ganz eindeutig diese Selbstüberschätzung. Man will einfach nicht wahrhaben, daß es auch noch andere gleichwertige oder sogar noch überlegenere Wesen geben kann. Die so oft persiflierte bayrische Art ist nur ein anderes Beispiel dafür, das allerdings ziemlich harmlos ist.

Doch ich komme vom Thema ab. Ich wollte Dir zeigen, was ich vom Krieg und den mit ihm verbundenen Schrecken halte und welche Ursachen ich dafür verantwortlich mache. Und gerade diese Erkenntnis macht mir den Dienst umso schwerer. Ich weiß noch nicht genau, wie ich mich entscheiden werde, doch muß ich vor mir selber Klarheit schaffen. Sobald ich wieder in Solingen bin, müssen wir uns darüber unterhalten.

Hier eröffnet sich auch ein Problem, Wenn ich über derartige Dinge nachdenke, brauche ich einen Menschen, der nichts weiter tut, als mir zuzuhören. Doch das fehlt mir hier ganz. Es ist schrecklich, ein Problem zu haben, und es ist niemand da, dem man davon erzählen kann.

Wenn ich Ostern komme, möchte ich gern mal wieder in den Jazzkeller gehen. Diese Atmosphäre fehlt mir doch, und ich freue mich, mal wieder unter „Menschen“ sein zu dürfen.

Ich danke Dir, daß Du Dir Zeit nimmst, mir so oft und so lieb zu schreiben. Ohne Deine Briefe könnte ich es hier nicht aushalten. Es ist ein beruhigendes Gefühl, daß jemand da ist, der an mich denkt und dem ich mich anvertrauen kann.

Ich versichere Dir, daß ich Dich ungemein liebe und alles tun werde, um Dich in einigen Jahren zu heiraten.

Mein Liebling, schreib mir bitte nicht mehr nach Schwarzenborn, da hier der Brief doch nicht mehr ankommt. Wenn ich Ostern nicht kommen kann, schicke ich Dir gleich meine neue Adresse.

Morgen findet die Besichtigung statt, an der ich aber nicht teilnehme. Am Dienstag müssen wir unsere Sachen reinigen und verpacken. Wir sind hier 13 Mann, die nach Niederlahnstein kommen. Am Dienstag wird unser Gepäck aufgegeben und am Mittwoch fahren wir mit Privatwagen los.

Wenn wir dort ankommen, hoffe ich, nur noch die Spinde einräumen zu müssen und dann abfahren zu können, aber wer weiß, was alles dazwischen kommt.

Ich hoffe, Dir macht Deine Arbeit ein bißchen mehr Spaß als mir.

Viele liebe Grüße und noch mehr Küsse

Von Deinem Gerhard.