Briefe an Susanne                                                                   Kommentar

 

191. Gerhard E.                                                Solingen, den 26.5.67

Mein Liebling,

den Vorwurf der Schreibfaulheit hoffe ich nun gründlich redigiert zu haben. Deine drei Briefe habe ich erhalten und über den dritten freue ich mich, denn jetzt habe ich das Gefühl, das hat die Susanne geschrieben, die du kennst, während die ersten Briefe so pessimistisch klingen, wie ich es von Dir gar nicht gewöhnt bin. Schreib mir doch bitte mal, wie lange Du die Schule besuchen kannst und was Du danach machen willst. Übrigens, vielen Dank für die Anstecknadel. Ich finde die Idee nett. Michael hat mich vorgestern schon beruhigt, als er mir erzählte, es hätte doch mit einer Schule geklappt.

Du wirst es nicht glauben, aber in bin immer noch Soldat! Langsam glaube ich, das dauert noch Jahre, doch das Nichtstun macht auch Spaß. Du glaubst nicht, wie einsam es jetzt hier ist, da Martin und Jochen überhaupt nicht und Roland nur am Wochenende hier ist. Na, umso mehr freue ich mich auf den Herbst.

Gestern war ich im Theater und habe Tschechows „Kirschgarten“ gesehen. Das Publikum in Solingen ist grauenhaft. Ich werde jetzt öfter dorthin gehen, da habe ich wenigstens etwas Abwechslung.

Am 6. Juni bekommen wir den Besuch meiner Großeltern.

Meine Mutti hat sich über die Karte gefreut und läßt Dir danken.

Aus Solingen läßt sich nichts weiter berichten, da hier nichts los ist. Hoffentlich hast Du es besser.

Ich wünsche Dir viel Spaß beim Lesen.

Viele Grüße und tausend Küsse

Dein Gerhard.

 

[Anlage]

[1]

Frühlingsmärchen

 

In warmer Maiennacht kreisen die Sterne

Gleißend im Himmelskuppelrund,

Tags füllt der Atem tausender Blüten

Die Luft mit herrlicher Süße.

Neu wird die Lebensfreude geboren,

Neu ist der Frühling entstanden.

 

Da ging ein Jüngling durch den tiefen Wald,

Der sann und sann über sich selbst,

Sah nichts als nur sein unergründet’ Ich

Und konnte es nicht erfassen.

So suchte er unter tausend Sternen,

Inmitten aller Blütenpracht,

Die Einsamkeit als der Erkenntnis Quell,

Um so das Ich im All zu sehn.

 

Plötzlich hörte er jubelnde Finken

Und fröhliches Taubengegurr.

Ein Schmetterling gaukelte da heran;

Er folgte dem schwebenden Ding

Der Jüngling sah ihn als Glücksritter an.

So lief er und merkte es nicht.

 

Mitten im Wald aber, auf einer Bank

Saß in diesem herrlichen Duft

Ein Mädchen, ein so wunderhübsches Kind.

Es spielten die Sonnenstrahlen

Mit seinem lockigen, goldenen Haar.

Wie geliebte Kinder es tun,

War sie glücklich in ihrer Eltern Hut.

So kam der wandernde Jüngling,

Blieb stehen, erstarrte ob diesem Bild

Und hörte das Kind dort singen:

 

„Es stund einst ein Kindlein im tiefen Wald

Und freute sich an der Vöglein Spiel,

Das sah die Rehlein und die Hasen bald,

Nie ward ihm das Schauen zu viel,

Nie ward ihm das Schauen zu viel.

 

Da kam des Wegs ein böser Jägersmann,

Der schoß die flinken Tiere tot.

Das sah das Kind und fing zu weinen an

Und fühlte ach! so große Not,

Und fühlte ach! so große Not.

 

O Jäger, lieber Jäger mein,

Laß doch die armen Tiere sein.

Schießt du sie tot, so sterbe ich.

O laß sie sein und töte mich!

O laß sie sein und töte mich!

 

Der Jäger hörte dies und spürte sein Herz,

Er sah das Kind, es war so rein,

Er fühlte zum ersten Male Schmerz

Und ließ das böse Schießen sein,

Und ließ das böse Schießen sein.“

 

Der Jüngling legte die Hand auf sein Herz,

Es klopfte so wild wie noch nie,

Und er fühlte, daß seine Einsamkeit

Ihm nicht mehr genügen konnte.

Er trat hinter der schwarzen Tann’ hervor,

Noch immer verwunderten Augs,

Ging hin zu dem holden Kind, sprach kein Wort

Und setzte sich rechts neben sie.

 

„O dürfte ich immer hier sein“, sprach er,

Doch mehr zu sich als zu dem Kind;

Doch weil die Mädchen gut hören können,

Vernahm sie dies, öffnete den

Geschloßnen Mund und fragte gleich: „Warum?“

„Weil ich dich liebe“, sagte er.

Das Mädchen doch, das immer nur von Lieb’

Umhegt war ihr Leben lang,

Sah ihn mit großen Augen an und sprach:

„Ich will nicht, daß du mich liebest!“

„Warum?“, fragte diesmal auch der Jüngling.

Doch das Mädchen erschauerte:

„Ich fürchte mich!“ und heftig sprang es auf,

Atmete tief und lief davon.

 

Wieder stand der Jüngling nun ganz allein

Und fragte sich nur noch: „Warum?“

Doch die ungeheuer schwere Frage

Fand in der Brust die Antwort nicht.

Und wieder flatterte der Schmetterling

Auf unsres Jünglings Weg daher;

Die milde Nacht senkte sich auf ihn herab,

Im tiefen Tann regte sich Wind,

Unzählig glitzerte das Sternenlicht.

Von Blumenatem warm umhüllt

Saß der Liebende an einem Felsblock

Und fragte sich: „Warum, warum?“

 

Als der Jüngling dort die Augen aufschlug,

Blinzelte er in den Morgen,

Und als er aufsprang, hörte er der Quelle

Lustiges, frisches Gemurmel.

Doch mitten in dem Wasserhell sah er

Das Mädchen und auch dessen Bild.

 

Sie waren erschrocken und blieben stumm.

Der Jüngling faßte sich und trank

Aus dem kräftig sprudelnden Quellstrahl.

Dann sagte er zu ihr nur: „Komm …

Ich will dir sagen, was der helle Quell

Von Liebe alles sprechen kann.“

Das Mädchen aber erwiderte trotzig:

„Ich will ja davon nichts wissen!“

 

„Du fragst nicht danach und mußt es dennoch

Erfahren“, meinte der Jüngling.

Er setzte sich auf den großen Steinblock

Und wartete, bis auch sie kam.

„Ich wollte dich nicht wieder sehen“, sprach sie

Und blickte schüchtern zu ihm auf.

„Ich weiß es, doch mit uns ist immer auch

Das, was wir nicht leiden wollen.

Doch müssen wir es“, fügte er hinzu.

„Oder“, sprach er, „willst du den Tod?“

Das Mädchen schüttelte verwirrt den Kopf:

„Du bist aber nicht der Tod!“

„Ich bin die Liebe und die willst du nicht.“

„Das darfst du nicht sagen, ich will,

Daß meine Eltern mich so sehr lieben,

Wie bisher und immer auch ich.“

„So lange sie sind“, sprach da der Jüngling.

„Sie sind immer da“, trotzte sie,

„Immer da in mir mit aller Liebe.“

„Und sterben mit dir“, sagte er.

„Sieh“, fuhr er fort, „ich glaube, die Quelle

Hat eben davon gesungen,

Denn ich kenn’ nicht mich, noch meine Worte;

So höre ihr zu und gib Acht!“

 

„Still“, sprach sie leise, „ich höre die Quelle.“

Sie kniete sich nieder, schlug dann

Die beiden Arme über den Kopf,

So daß sie ihn nun ganz umschloß.

Sie senkte den Blick und wandte das Haupt,

Damit ihr Gesicht in den Arm

Des brennenden Jünglings gepreßt wurde,

Und ihm war es noch nie so heiß.

Dann sprach sein Mund gegen die kühle Haut

Sein heißes Wort: „Ich liebe dich!“

 

Zwei Menschen haben in sinkender Nacht,

Vom Maienregen der Sterne

Und tausend Blütendüften umwoben

Eins zum anderen gefunden.

So ward die Schöpfung wieder neu getan,

Der Frühling schloß den Kreis um sie;

Sie fühlten das wunderbare Geschehn

Wie wir, wenn uns die Stund ist hold.

 

[2]

Neue Pressemeldungen

 

Neuerdings beunruhigen uns Gerüchte, nach denen in T. ein zehn Meter großer Sperling Schulkinder auf dem Heimweg belästigte.

Auf der Autobahn nach T. ereignete sich ein Unfall, bei dem 5 Personen schwer verletzt wurden. Alle Patienten mußten von der Unfallambulanz in die neurologische Abteilung unseres Krankenhauses überwiesen werden, da sie unentwegt „pip, pip, pip!“ riefe und sich weigerten, Nahrung anders als durch Pickbewegungen zu sich zu nehmen.

Durch rasches Eingreifen des UN-Sicherheitsrates konnte ein Krieg zwischen unserem Staat und einem Nachbarland in letzter Sekunde verhindert werden.

Unser Staatspräsident fühlte sich beleidigt, da die Presse jenes Landes unentwegt über den neuen Vogelnotstand unserer Regierung schrieb, ja sogar hetzte! Nur eine Einschaltung des Tierschutzvereins durch Witwe Studienrat Dr. Leydenbrey konnte eine erregte Menge daran hindern, den Sperling zu lynchen.

 

Das Ausland sagt uns eine übertriebene Pedanterie nach. Folgendes Ereignis ist geeignet, diese üble Nachrede zu entkräftigen.

In F. versteckte ein Gammler das Glasauge des arm- und beinlosen Rentners Knaake (95). Als Knaake den Tatbestand erkannt hatte, begann er systematisch, alle langhaarigen Jünglinge mit Stumpf und Stiel auszurotten. Nachdem der Alte die Welt um 2467 Gammler ärmer gemacht hatte, raffte ihn ein Keuchhusten dahin. Das geschah vor fünf Jahren. Noch heute sind in F.s Polizeipräsidium 57 Beamte damit beschäftigt, das Knaakesche Glasauge zu suchen.

 

Der große Chemiker Professor Dr. Dr. Dr. von Müller-Franken-Biederstedt-Klein experimentierte lange Jahre an einen neuen Kunststoff. Endlich ist es ihm gelungen, ein göttliches Wesen in Klumpenform herzustellen; die Bedeutung seiner Erfindung wird auch jedem Nichtfachmann sofort klar, wenn ich hinzufüge, daß von Müller-Franken-Biederstedt-Kleins Gott weder hygroskopisch noch elektrostatisch beeinflußbar ist. Es dauerte weitere zehn Jahre, bis der Professor ein Verfahren entwickelt hatte, um seinen Gott durch ein thermoelektrisches Röstverfahren in nicht staubender Form darzustellen. Während dieser Entwicklungsphase arbeitete von Müller-Franken-Biederstedt-Klein in einem hermetisch abgeschlossenen Raum, um zu verhindern, daß auch nur wenige Milligramm seines Gottes in die Atmosphäre entwichen, denn ich brauche Ihnen nicht auszumalen, was geschehen wäre, wenn jeder Erdenbürger plötzlich etwas von dem neuen Gott hätte einatmen können!

Diese Gefahr ist nun gebunden, und ich hörte von einem einflußreichen Wissenschaftler, daß in Erwägung gezogen wird, ob Professor Dr. Dr. Dr. von Müller-Franken-Biederstedt-Klein nicht der Friedensnobelpreis verliehen wird.