Briefe an Susanne                                                                   Kommentar

 

200. Sigrid N.                                                    Solingen, 11. Juni 1967

Liebe Susanne,

sicher hast Du schon lange auf ein Lebenszeichen von mir gewartet und fürchterlich auf mich geschimpft. Ich habe auch bereits ein schlechtes Gewissen bekommen, was mich nun heute morgen dazu getrieben hat, Dir endlich zu schreiben. Weißt Du, seitdem ich zum arbeitenden Volk gehöre, wird die Zeit ziemlich knapp. Die letzten 14 Tage war ich bei einem Gerichtsvollzieher, mit dem ich den ganzen lieben Tag „Kunden besuchen“ durfte. Abends war ich dann immer ziemlich erschöpft und deprimiert. Du kommst wirklich in die allerletzten Viertel und siehst einmal, was wirkliche Armut ist. Die Leidtragenden sind fast in allen Fällen die Kinder, die mir immer schrecklich leid getan haben. Es war war wirklich keine schöne Zeit und ich bin froh, daß dies nun vorüber ist.

Aber nun zu Dir! Sicher geht es Dir doch sehr gut in England (bis natürlich auf die Tatsache, daß Gerhard einige hundert Kilometer von Dir entfernt ist, oder? – ) Ich habe Gerhard jeden Samstag im Laubach ausgequetscht, wie es Dir geht. Daß es mit dem College nicht geklappt hat, ist ja wirklich schade. Aber vielleicht ist es auch ganz gut, daß Du in der Schule (so ist es doch, oder?) einen mehr oder weniger festen Plan hast, an den Du Dich halten kannst. Aber das Wichtigste ist doch wohl überhaupt, daß Du für längere Zeit in England bist und schon so mit der Sprache vertraut wirst.

Na. Wie ist es eigentlich mit dem Essen? Hast Du schon tüchtig zugenommen oder hast Du inzwischen die richtige Einstellung gefunden? Ich habe mir bereits in der Gerichtskantine einige Pfunde angefuttert, was mir aber nun wirklich mal auch nichts schaden kann.

Neues kann ich Dir aus Solingen nicht viel berichten. Du weißt ja selbst, was hier so los ist, bzw. nicht los ist! Letzten Mittwoch war eine sehr interessante Dichterlesung mit Heiner Kippert im Theater. Ansonsten wird dort auch nicht mehr viel Gutes und Neues geboten. Da geht es Dir doch sicher wesentlich besser. Schreib’ doch mal, was Du so alles treibst!

Von Doris habe ich auch schon seit 3 Wochen nichts mehr gehört. Als sie das letzte Mal hier war, stöhnte sie, daß sie so viel zu tun hätte, das schöne Leben scheint auch nun bei ihr vorbei zu sein. Ich glaube, Du bist die Einzige, die den „Ernst des Lebens“ noch nicht kennengelernt hat. (Entschuldigung) Aber wir mit unserer „Rechtspflegelei“ gammeln auch noch ganz nett herum. Etwas komisch wird mir nur, wenn ich an die Rechtspflegerschule in Münstereifel denke; im September ist es ja nun soweit. Hoffentlich halte ich es durch. Für das, was ich bisher erreicht habe, hab’ ich mich nie besonders anstrengen müssen, hoffentlich wird es nun nicht anders. Du weißt ja, welche Ausdauer ich beim Lernen und Büffeln zeige!! Außerdem hört man jeden Tag andere Greuelgeschichten von der Schule. Letzte Woche erzählte uns z.B. jemand, daß auf der Examensgenehmigung neben anderen Hinweisen und Richtlinien für die Prüfung der Satz zu finden sei: - Nervenzusammenbrüche gelten nicht als ausreichender Entschuldigungsgrund! – Hart, nicht wahr?

Gestern abend haben wir übrigens Gerhard im Jazzkeller getroffen. Er tat mir wirklich leid, so als einsamer Witwer. Er meinte, es wäre eine Scheißzeit, so ohne Dich! Ich konnte ihn wirklich gut verstehen! Schon die 3 Wochen, die Wolfgang jetzt in Genf war, war nicht sehr angenehm! Aber wenn ihr dann im Herbst in Köln zusammen studiert, ist die Zeit jetzt wieder bestimmt schnell vergessen. Außerdem ist so eine Trennung meiner Meinung nach auch mal ganz gut.

Eine Neuigkeit gibt es doch noch! Petra ist vergangenen Mittwoch Mutter eines strammen Sohnes geworden. „Stephan“ soll er übrigens heißen. Schön, nicht! Aber ich möchte trotzdem nicht an ihrer Stelle sein. Du vielleicht?

So, ich muß nun schließen, da das Mittagessen auf dem Tisch steht.

Viele Grüße, alles Gute und weiterhin einen schönen Englandaufenthalt wüschen Dir

Sigrid.

P.S. Ich bin gespannt auf Deinen nächsten Brief.  xxx

Viele Grüße auch von Bärbel und von meinen Eltern!

xxx  Ein Wink mit dem Zaunpfahl!