Briefe an Susanne                                                                   Kommentar

 

208. Gerhard E.                                                Solingen, den 25.6.67

Mein lieber Schatz!

Hab Dank für Deinen letzten Brief! Ich freue mich immer auf Post. Da ich noch immer ein „Beurlaubter“ bin, sitze ich etwa 5 Stunden pro Tag und schreibe. Ich schicke dir einige Gedichte mit. Diejenigen, die ich mit einer Bleistiftnotiz versehen habe, gehören zu einem Zyklus „Gedichte über Stücke“. Die drei Seiten Prosa sind der Anfang eines Romans, den ich beabsichtige zu schreiben; Bruchstücke und Episoden stehen bereits. Hinten liegt ein Programmentwurf. Ich dachte da an eine Fete im Herbst, auf der einiges geschehen soll. Mit Axel habe ich schon davon gesprochen, er ist begeistert.

Übrigens: Jeden Samstag werde ich im Laubach von (x+1) Personen gefragt, wieesdirgehtwasdusotustundsoweiter. Allgemeiner Eindruck: Man vermisst Dich.

Ich könnte fluchen, wenn ich jetzt abends spazieren gehe, alles sch…, hoffentlich hast Du die Idee, nach England zu fahren, in diesem Jahr zum letzten Mal! Wehe, Du kommst noch einmal auf derartige Gedanken!

Wegen Urlaub 68 habe ich nochmals mit Roland gesprochen. An Günstigsten wäre es, zuerst drei oder auch sechs Wochen irgendwelche Kinder zu betreuen und im Anschluß daran noch 3 Wochen richtigen Urlaub zu machen; das sind dann insgesamt 9 Wochen. Eine gewissen Schwierigkeit ergibt sich aber dadurch, daß die Ferien in NRW bloß bis 8. August gehen und wir erst ab August frei haben. Ergo: Wir müssten uns an eine nicht-NRW-Organisation wenden. Da kämen Arbeitgeberverband oder Gewerkschaften in Frage. Auch Rotes Kreuz oder Arbeiterwohlfahrt müßten gefragt werden. Vielleicht läßt sich sogar etwas beim Jugendfahrtendienst erreichen. Wir haben ja noch genügend Zeit und können im Oktober in Ruhe planen. Am liebsten wären mir 3 Wochen Ostsee, 3 Wochen Oberbayern und dann 3 Wochen Salzburg. Soweit das.

Heute ist es hier so heiß, daß man viel zu träge ist, irgend etwas zu tun.

Wenn Du diesen Brief erhältst, sind es noch 2½ Monate, bis wir uns wieder sehen. Zweieinhalb Monate, das sind etwa 80 Tage, also nicht mehr so wild.

Viele liebe Grüße und Küsse

sendet Dir Dein Gerhard.

P.S: Bitte um baldige Rücksendung!

Danke.

 

[Anlage; die Gedichte sind nicht erhalten]

Eieressen

Meine Oma brachte mir bei, wie man hartgekochte Eier pellte. „Du nimmst hier das Ei in die linke Hand, schlägst die breite Seite vorsichtig auf den Tisch und pellst dann mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand die Eierschale ab. Immer über den Daumen rollen, nicht mit den Fingernägeln!“ Sie achtete darauf, daß mein Frühstücksei hartgekocht war, denn weiche Eier mag ich bis heute nicht.

Mein Vater aß Eier so: Er legte das Ei auf den Teller, schlug mit dem Messer die Spitze ab. Dann drückte er zwischen jeden Löffel einen Schnurz Senf hinein und löffelte das weichgekochte Ei schmatzend aus. Wenn die Schale leer war, nahm er sie zwischen Daumen und Zeigefinger, hielt sie hoch und sagte zu mir: „Das Ei kommmt sooo aus dem Hühnerpoo!“ Dabei schürzte er die Lippen. „Sooo ist der Hühnerpoo!“

Mein Onkel Hans konnte Eier legen, aber nur, wenn er gut gelaunt war. Dann fragte er: „Soll der Onkel Hans ein Ei legen?“ Wenn ich das bejahte, setzte er sich in den Sessel der Wohnstube und begann zu gackern, dann drückte er ganz fürchterlich und tat, als ob er sich anstrengen müßte. Nach einer Weile bekam er einen hochroten Kopf, kakelte ganz aufgeregt, bis er schließlich aufstand. Dann lag ein weißes Ei auf dem Sesselkissen. Natürlich wußte ich, daß Eier von den Hühnern im Garten gelegt wurden; ich konnte ja jeden Tag mit meiner Oma die warmen Eier aus den Nestern holen. Doch ganz sicher war ich nicht, ob der Onkel vielleicht nicht doch ein Ei gelegt hatte. Untersuchen durfte ich das Ei nicht, denn er brach den Spaß immer gleich ab und brachte sein Produkt in die Küche.

Manchmal legte er auch ein Ei, wenn Gäste zu Besuch da waren. Gäste hatten wir häufig, und zwar immer dieselben. Das waren Rolf Schulze, der Schreiner, Muddel Busch, dem das Gartenlokal in Klein-Ottersleben gehörte, Hans Häfner mit dem kleinen Lebensmittelladen nebenan und Zippi. Alle kamen mit ihren Frauen, nur Zippi nicht, denn der war nicht verheiratet. Dann sagte Muddel: “Hans, leg mal 'nen Ei!“

Und Hans fing an zu gackern. Wenn alle lachten, sagte Rolf: „Der Hans kann Eier legen, weil er zwei Arschkerben hat.“ Dann lachten alle noch lauter. Das hörte Onkel Hans aber nicht gerne. Mit seinem Hintern hatte es nämlich folgende Bewandnis (das hat mir meine Mutter einmal erzählt):

Im Krieg war er Panzerfahrer und kriegte im April 44 bei Tarnopol ein Ding zwischen Turm und Wanne verpaßt. Rausgekommen ist er als einziger, ein Splitter hatte ihn aber am Hinterteil erwischt. Irgendwie haben sie ihn dann im Feldlazarett zusammengeflickt, es ist aber eine böse Narbe geblieben, die er natürlich keinem gerne zeigt. Aber beim Baden läßt sich das Kriegsmal kaum verbergen. Deshalb kennen alle seine Freunde seinen seltsamen Allerwertesten.

Wenn alle so richtig auf Touren sind, und dazu trägt der selbstgebrannte Kartoffelschnaps von Onkel Hans sein Teil bei, denn Onkel Hans ist Chemiker und versteht das Destillieren, dann erzählen sie vom Krieg. Sie sitzen im kleinen Wohnzimmer, die Schnapsgläser vor sich, die Frauen trinken selbstgemachten Wein, mit Honig gesüßt, Marke „47er Hummelbrumm“. Der wächst im Garten an der Mauer und über dem Hühnerstall.

Im Zimmer ist es schummrig, weil nur zwei Birnen eingeschraubt sind („Stromsparen!“, sagte meine Oma ständig) und weil alles vom Tabaksqualm verräuchert ist. Den Tabak hat mein Vater im Garten angebaut, auf der Wäscheleine getrocknet und ihn dann mit Honig fermentiert. Den rauchen alle gerne, nur Tante Lisa nicht, die dreht ihn sich immer in Zeitungspapier ein, denn seit sie aus dem russischen Lager wieder nach Hause gekommen ist, behauptet sie, ihr schmeckten nur Machorkas.

 

So aß meine Oma Brotkanten

Sie schnitt mit gefurchtem Brotmesser in der rechten Hand dem Busenbogen folgend das Brot, das sie im linken Armwinkel an die Rippen drückte, schob den Laib dann vor und vollendete die Rundung. Die Brotscheibe fiel in die durchbrochene Emailschüssel.

Wenn der Laib dünner und schmächtiger wurde, legte meine Oma den Rest auf die Tischplatte und sägte kleinere Scheiben. Schließlich blieb der Kanten zurück, 4 bis 5 cm dick. Mit spitzem Küchenmesser schabte sie Butter vom Block und deckte die flache Seite weißgelb ein. Dann polkte sie weiche Bratwurst aus trocknem Darm und drückte den Fladen fest auf den Knust. Nun schnitt sie, frei den Kanten in die Luft haltend, sechsmal quer hinein. Sie legte das Messer in die Spülschüssel, setzte sich und aß. Dazu führte sie den Kanten quer in den Mund, biß mit den Backenzähnen fest zu und riß den Abschnitt vom Kanten. Mit offenen Lippen kaute sie den Bissen wie die Katze am Ofen, legte den Kopf dabei schief und schmatzte. Wenn sie ausgekaut hatte, schnalzte sie Luft durch die Schneidezahnlücke ein, schürzte die Lippen und führte das nächste Stück seitwärts zwischen die Zähne.

 

Mein Vater begann vor dem Essen immer zu singen. Wenn meine Oma den Tisch deckte und Teller neben Teller stellte, dann Messer daneben legte und die Wurstplatte, den Butterteller, das Gurkenglas, den Gemüseteller dazustellte, stieß er leise Töne aus, die immer lauter und lauter aus seinem Mund heraus quollen. Bald lobte er in höchsten Tönen die Leberwurst, bald Gurken, die meine Oma sauer eingelegt hatte, dann war der Schnittlauch dran und dann die Frühlingszwiebeln. Mal sang er von Radieschen, mal von Tomaten, je nachdem, was der Garten gerade hergab.

Wenn alle um den Tisch herum saßen und sich die Brote schmierten, sang er noch immer, tötete jedes Gespräch im Keim ab und sang seinen Sprechgesang, der mir immer den Appetit verdarb. Nicht, daß ich meinen Vater dafür haßte, aber ich war froh, wenn er einmal nicht am Eßtisch saß.

Aber meine Oma, die habe ich einmal gehaßt, und das kam so:

Zum Mittagessen gab es bei uns allerlei Dinge, die ich gerne mochte. Bouletten zum Beispiel und Schweineschnitzel. Auch Kartoffelpuffer mit Apfelmus mochte ich gerne und die dicken Knackwürste aus Halberstadt. Irgend jemand aber hatte irgendwann einmal behauptet: „Der Gerhard ist ein mäkliger Esser!“

Der Ursache dieses Gerüchts bin ich nie auf die Spur gekommen, auch habe ich nie herausbekommen können, wer diesen Unsinn in die Welt gesetzt hat. Manchmal vermute ich freilich, es könne Oma Sudenburg gewesen sein, die alte Hexe; zu ihr hätte es auch gepaßt, kleine Kinder zu beschuldigen, mäklige Esser zu sein. Tatsache ist, daß meine Oma spätestens ein halbes Jahr nach meiner Rückkehr beschlossen hat: „aus dem Jungen muß etwas Ordentliches werden“. Und das hieß bei ihr: „Iß deinen Teller leer! Wasch dir die Hände vor dem Essen und nach dem Klo! Sprich ordentliches Deutsch!“

Einmal gab es Gurkensalat und Eiback. Beides mochte ich nicht besonders, vor allem wenn das Ei noch recht flüssig war und fetter Speck darin 'rumschwamm. Eiback wurde bei uns so gemacht:

Meine Oma stellt die Pfanne auf den Gasherd und dreht die Flamme ganz auf. Dann gießt sie Öl in die Pfanne und brät fette Speckwürfel darin an. Es zischt. In einer Schüssel stehen 10 verquirlte Eier bereit. Sie gießt die Flüssigkeit in die Pfanne und beginnt, mit einem Aluminiumlöffel darin zu rühren. Die Flüssigkeit beginnt zu stocken, einzelne Eierfladen werden fest, dann wieder losgerissen und untergerührt. Sie nimmt die Pfanne von Herd und rührt weiter, die Eiermasse stockt nicht weiter und bleibt flüssig. Der Brei kommt so in eine saubere Schüssel und auf den Tisch.

Ich stocherte schon im Gurkensalat herum und zählte die Gurkenscheiben. Meine Oma sah mich streng durch ihre Brille an: „Du bleibst heute so lange hier sitzen, bis du alles aufgegessen hast!“

Ich esse langsam aber verbissen weiter. Die Gurken sind fast alle, da gießt sie eine Kelle Eiback über zwei Salzkartoffeln. Das zaghafte „bitte ohne Speck“ muß sie überhört haben. Ich kaue mit dicken Backen. Plötzlich wird mir übel und ich erbreche die Gurken. Das kommt so schnell, daß ich keine Zeit mehr habe, hinauszulaufen. Meine Oma ist unerbittlich. „Das ißt du alles noch einmal!“

Ob ich wirklich viel davon runtergekriegt habe, weiß ich nicht mehr, nur daß ich vor Tränen nichts mehr sehen konnte. Schließlich hatte Tante Olga ein Erbarmen und schickte mich mit dem ganzen Teller zum Misthaufen. Bis heute wird mir beim Geruch von Gurken übel. Auch kann ich den Blick alter Frauen mit spitzen Nasen durch Brillen schlecht ertragen.

Aber ich habe es ihr heimgezahlt! Oma Lina hatte die Angewohnheit, den Rest Kaffee, der am Morgen nicht ausgetrunken worden war, in ein kleines Blechtöpfchen zu füllen, das neben dem Wassereimer am Ausguß stand. Dann goß sie sich im Verlauf des Vormittags aus diesem Töpfchen nach und nach den Rest kalten Kaffees in ihre Tasse und trank ihn. Wenn ich vom Klo kam und mir die Hände waschen mußte, tauchte ich diese vorher immer in Omas kalten Kaffee. Das war meine Rache!