Briefe an Susanne                                                                   Kommentar

 

221. Gerhard E.                                                Solingen, den 19.7.67

Liebe Susanne

Für Deinen letzten Brief danke ich Dir recht herzlich.

Laß mich zuerst auf die Frage nach meiner Meinung über das Spiegelinterview antworten.

Dutschke klammer sich an eine Utopie; denn nach einer Räterepublik zu streben, ist utopisch, weil, ich glaube, daß der Mensch als politisches Wesen schlecht ist, niemals aber gut, also auch keine ideale Staatsform hervorbringen kann. Die Begeisterung der ersten Jahre, die durchaus möglich ist und auch beachtliche Erfolge bringt, weicht bestimmt bald einer Diktatur, oder es wird weitergewurstelt wie bisher.

Nehmen wir einmal an, es gäbe eine derartige Rätedemokratie, sie würde an der Gleichgültigkeit der Masse, die nur an Wohlleben (= Wohlstand = Besitz = Besitz materieller Güter) interessiert ist, ebenso scheitern, wie an den Kräften, die Macht (= totale Herrschaft = Mehrseinwollen = Überheblichkeit = Unmenschlichkeit) besitzen wollen.

Es stimmt zwar, die Gesellschaft hat ihre Unfähigkeit bewiesen, etwas radikal Neues zu assimilieren, die Studenten beweisen aber ebenfalls ihre Unfähigkeit, Argumente statt Taten sprechen zu lassen. Eine permanente Revolution bringt weiter die Gefahr der Bevormundung und Vernichtung des Individuums. Das Beispiel der Roten Garde, die aus Idealismus alles Menschliche verdammt hat (Kultur, Romantik, Wahrheit, Zufälliges, Unzulängliches, Liebe u.s.w.) sollte uns Warnung genug sein.

Es stimmt, ein kapitalistisches System bietet gefahren, wohin aber ein Sozialismus führt, zeigt der „Erfolg“ der fehlenden Initiative der Ostblockwirtschaft. Wie gesagt: Der ideale Mensch, der zur Durchführung eines Idealprogramms fähig wäre, muß noch geboren werden. Ich stimme zwar nicht mit unserer Scheingesellschaft überein, halte sie aber in Hinblick auf das, was ich in aller Welt sehe, noch für das kleinste Übel. So lange es verantwortungsvolle Menschen des geistigen Lebens gibt, die auf Mißstände hinweisen, ist die Gefahr längst nicht so groß, wie in einer radikalen Staatsform, die sich bestimmt trotz besten Willens des Anfangs schnell ideologisiert.

Ich sehe meine Aufgabe darin, zu protestieren, das aber nicht um des Protestes willen, also als Selbstzweck, sondern es muß ein Grund da sein. Kritik muß eine vernünftige Alternative bieten, sonst bleibt sie Querulanz. Dutschke arbeitet nicht für die Gesellschaft, sondern gegen sie, da er Idealismus mit Vernunft, Fortschritt mit Radikalismus und Demokratie mit Ideologie verwechselt. Das tut er zwar nicht formal und bewusst, er hat aber meiner Ansicht nach das wahre, unabhängige und kritische Urteilsvermögen verloren.

Andererseits sind mir Leute seiner Art tausendmal lieber als z.B. Sing Out-Idioten. Intellektuelle sind immer bereit zu diskutieren. Solange mir Dutschke keinen Meinung aufzwingen will, rufe ich auch nicht nach staatlicher Gewalt. Erst wenn etwas gegen meine Überzeugung mit Gewaltmitteln erreichen werden soll, werde ich ungemütlich. Deshalb sind mir auch die Einsätze der Polizei und das Meinungsmonopol Springers ein Dorn im Auge. Ich kann nichts weniger leiden als Agitation, die auf Meinung und Argumente keine Rücksicht nimmt und dummes Gelaber von Leuten (moralische Aufrüstung, Sing Out u.s.w.), die einer „Idee an sich“ nachlaufen, einer Idee, die es nicht gibt. Wenn ich schon höre „Wir sind für Gott und Vaterland“, „Wir wollen zeigen, daß die Gesellschaft nicht nur aus Gammlern, Wehrdienstverweigerern und Demonstranten(!!!) besteht“ (Zitate von Sing Out), oder wenn ich Bücherverbrennungen sehe oder Aktionen für Sauberkeit (saubere Leinwand u.s.w.), dann ziehe ich allerdings Leute wie Dutschke vor, sogar Marxisten, vorausgesetzt, sie lassen für meine Ansichten Raum.

Es bleibt noch immer bei dem Satz: „Kritik ist der Anfang allen Denkens“!

Nun zu etwas anderem. Seit zwei Tagen bin ich nun endgültig aus der Bundeswehr entlassen und Reservist. 6½ Monate Wehrdienst wurden mir angerechnet.

In Köln hat man den Numerus Clausus für Germanistik durch ein Veto der Landesregierung doch noch verhindert und ich habe schon die Zulassung für das Wintersemester. Auch mit der Bude hat es geklappt. In einem Studentenwohnheim werde ich ab 10. Oktober ein Zimmer beziehen und etwa 65.- DM monatlich bezahlen. Alles ist soweit geregelt und ich warte nur noch auf Dich. Ich glaube, wenn die Möglichkeit besteht, solltest Du einige Stunden Anglistik als Gasthörer in Köln belegen, Nun, in zwei Monaten sind wir schlauer.

Am letzten Wochenende haben sich Gunhild und Kalle verlobt. Am Sonntag war ich mit Roland da und habe gratuliert. Kalle wird im nächsten Sommer nun doch sein Examen machen. Wird auch Zeit.

Wie der Chef zum Theater steht, ist noch ungewiß, spielen will er auf jeden Fall. Ich würde mich freuen, wenn Du auch irgendwie mitmachen würdest, da wir dann eine interessante Arbeit gemeinsam machen könnten. Mein Vater ist auch wieder gesund und zu Hause.

Soweit für diesmal.

Tausend Küsse

von

Deinem Gerhard.

 

[Anlagen]

Doppelseite aus Pardon” Nr. 7, Juli 1967, S. 11-12.


 


 

Mein Schatten

„Ach“, sagte mein Schatten, „ich bin so müde und möchte ein wenig ausruhen!“

Es ist ein herrlich heller Tag, ich will in die weite Welt hinauslaufen. Aber mein Schatten hält mich fest. Vergeblich zerre ich an ihm. Kaum daß ich ihn zehn oder zwanzig Zentimeter über den rauhen Weg schleppen kann. Geschmeidig hat er sich dem Boden angepaßt und trotzt allen meinen Mühen. So klebe ich an der Stelle fest, die ihm offenbar gut gefällt.

Ich gebe schnell auf und setze mich auf einen Stein. „Was hält dich hier?“ frage ich ihn, indem ich meinen Kopf leicht über die Schulter beuge.

Mein Schatten antwortet nicht sogleich. Erst nach einer geraumen Weile läßt er sich leise vernehmen, so leise, daß ich meinen Kopf noch weiter über die Schulter hinabbeugen muß, wenn ich ihn verstehen will.

„Ich kann dir nicht mehr folgen“, flüstert er so leise, daß es wie das Wispern der Feldmäuse klingt.

„So leise sprichst du und bist doch stark genug, mich festzuhalten“, sage ich mir im Stillen. Laut aber rufe ich: „Du hast gar keine Macht über mich, du bist nur der Schatten meiner selbst, ich laufe jetzt fort!“

Schon stehe ich auf, strecke meine Arme aus und hebe das rechte Bein. Mein Körper ist gespannt in der ganzen Kraft seiner Jugend. Ich sehne mich nach Taten und könnte die ganze Welt erobern. „Fort, nur fort!“ rufe ich mir zu, doch komme ich keinen Schritt vom Fleck. So sehr ich mich auch bemühe, jenes Etwas, das ich meinen Schatten nenne, hält mich an dem Platz fest, an dem ich noch immer stehe.

Grinst er mich an? Spottet er meiner? Ohnmächtig stehe ich da, kaum kann ich ein Bein heben, wie mit tausend unzerreißbaren Fäden fesselt er mich an den Boden, auf dem ich ihn wie hingegossen liegen sehe.

Zöge nun eine Wolke heran und verdeckte die Sonne, könnte ich mich von meinem Schatten lösen und frei in die weite Welt hinauslaufen.

Aber die Sonne brennt unbarmherzig vom gleißenden Firmament, und ich ergebe mich stumm in mein Schicksal.