Briefe an Susanne                                                                   Kommentar

 

237. Gerhard E.                                                [Solingen, August 67]

[Karte über Fleurop]

Heute wünsche ich, daß es so bleibt, wie es war. Das wünsche ich vor allem Dir aber auch mir; und, um nicht unbescheiden zu sein, widme ich diese Blumen – rote Rosen, so hoffe ich – nur Dir.

Keine Rose ohne Dorn, heißt es. So bleibt auch dieser Geburtstag nicht ohne Sehnsucht.

Auf 1968, das Jahr, das nicht der Trennung geweiht sein soll, trinkt heute – allein – ein Liebender!

 

[Anlage]

Das Märchen vom kleinen Mädchen, dem das Vögelchen von der Liebe sang.

Ein kleines Mädchen saß am Fenster seines Kämmerleins und flocht ihre langen, blonden Zöpfe.

Die ersten Sonnenstrahlen des erwachenden Frühlingsmorgens ergossen sich über das frische Grün der neu entstandenen Welt. Die große Vogelschar sang vom Sommer und freute sich über all’ die kleinen Vögel, die gerade aus den Nestern geschlüpft waren. Die Kleinen flatterten noch unbeholfen hinter ihren Eltern her und riefen mit weit aufgerissenen Schnäbeln, damit die Mütter besonders fette Würmer hineinstopften. Plötzlich kam ein kleines Vögelchen geflogen, das sah so unscheinbar und grau aus; es sang auch nicht so schön wie die anderen Vögel draußen, und setzte sich aufs Fensterbrett. Das kleine Mädchen fühlte Mitleid mit dem Vögelchen und wollte ihm helfen.

Da hub das kleine Tier zu sprechen an: „Kleines Mädchen, du, weine nicht! Ich bin nicht schön wie all’ die anderen Vögel, doch kann ich singen, wie du es noch nie vernommen hast. Ich will dir von der Liebe singen.“ Das kleine Mädchen setzte sich ganz nah zum Fenster, und das Vögelchen begann zu singen. Es sang so schön, so lieb, daß die ganze Welt vergoldet schien.

Nah langer Zeit sprach das Mädchen: „Nun bleibe bei mir Vögelchen, und sing mir immer von der Liebe! Du bist nicht schön, doch dein Gesang ist das Schönste der Natur und schöner als alle anderen Vögel singen können.“

Das kleine Vögelchen aber sagte: „Ich darf nicht bei dir bleiben, denn viele Menschen warten noch auf mich. Ich muß noch für sie singen, genau so, wie für dich. Lebe wohl!“

Das kleine Vögelchen erhob sich in die Lüfte und flog davon.

Das Mädchen aber blickte noch lange hinaus über die Wiesen und Felder, und es war, als hätte die Natur Gold über die Welt gegossen.