Briefe an Susanne                                                                   Kommentar

 

251. Paul                                                            Liverpool, 4th September 1967

[In englischer Sprache]

Liebe Susanne, danke für deinen Brief und die Karte aus Brighton. Wirklich, du scheinst dich hier in deinen letzten Wochen gut zu amüsieren. Ich hoffe, dass es deinem Hals wieder besser geht und dass du wieder auf den Beinen und unterwegs bist. Ich habe auch ein paar Tage mit einer Erkältung das Bett hüten müssen, fühle mich jetzt aber schon viel besser. Ich bin heute morgen zu einem Freund gegangen, um ihm zu helfen, sein Auto zu reparieren. Ich musste drunter kriechen und als ich eine Schraube anzog, rutschte der Schraubenziehen leider ab und schlug mir ins Gesicht. Glücklicherweise habe ich mich nur in die Wange geschnitten: Der Schraubenzieher hätte leicht ins Auge gehen können. Ich hatte vor, mit meiner Schwester in ein Promenadenkonzert zu gehen, aber sie hat keine Ferien mehr bis Ende September, wenn ich zurück im College sein muss. Du wirst diesen Besuch bestimmt nicht vergessen. Du warst bestimmt glücklich, das Auto mit all den Sachen darin wieder zu bekommen. Es hat euch den Spaß an der Besichtigungstour durch London jedoch nicht verdorben. Ich bin froh, dass es dir möglich war, die Tate-Galerie zu besichtigen.

Wie du sagst, es ist zu riesig, um alles bei einem Besuch anzusehen. Ich möchte gerne deine Meinung über Rodin wissen. Ich habe vor einiger Zeit eine Ausstellung von ihm in Newcastle gesehen, aber ich muss zugeben, dass ich es sehr schwierig fand, ihn zu verstehen und ihn zu würdigen. Wenn du Lust dazu hast und mit dem Zug nach Hause fährst, sind viele seiner Werke in einem speziellen Museum in Paris zu sehen, dem Musée-Rodin.

Ja, es ist schade, dass die Carnaby Street und dergleichen das moderne Großbritannien symbolisieren, das muss man aber nicht ernst nehmen. Carnaby Street ist nicht so wichtig für ihre Mode als für den Profit, den viele Leute damit machen müssen. Die Katastrophe ist, dass junge Leute so leichtgläubig und den guten Geschmack entbehren.

Hast du vor kurzem in der B.B.C. die Sendung „Chinesisches Tagebuch“ gesehen? Die amerikanische Dokumentation, die bei einem Chinabesuch aufgenommen wurde. Was hältst du davon? Ich wusste schon, dass Mao-Tse-Tung China enorm im Griff hat, aber ich habe nie eine Machtausübung über den menschlichen Geist gesehen wie in diesem Film. Alles basiert auf diesem kleinen Buch! Er hat sicherlich die politische und „kulturelle“ Herrschaft erobert, aber ich denke, er muss letztlich scheitern. Er hat versucht, eine Gemeinschaft durch Leugnung der Unabhängigkeit und Individualität der Menschen zu verwirklichen, ohne Achtung der Menschen als Personen. Dennoch glaube ich, man kann eine erfolgreiche Gemeinschaft nur dann haben, wenn das Individuum sich auch verwirklichen kann. Die Gesellschaft ist keine Sammlung von Leuten, die alle gleich sind wie Maschinen: Es ist eine Gruppe von Leuten, die einmalig sind, aber zusammen leben. In Carlisle zum Beispiel waren wir erst dann eine wirkliche Gemeinschaft, als jeder von uns zunächst sich selber gefunden hatte, dann erst wurden wir ein Körper und eine Gemeinschaft. Wie Freundschaft, Liebe und Verbundenheit in der Gemeinschaft (wenn du weißt, was ich meine) in China existieren sollen, weiß ich nicht. Menschen leben mehr als Einzelne in einem riesigen ungeheuren Ganzen. Sie sind zu sehr wie Bienen, um menschlich zu sein. Wie man anfangen soll, mit ihnen zu kommunizieren, weiß ich auch nicht. Sie lehnen alles ab, was wir für selbstverständlich halten. Ich versuche, ein Exemplar der „Gedanken“ in Liverpool zu kriegen, habe aber wenig Erfolg. Wenn du einen Augenblick Zeit hast, kannst du mich den Namen des Verlags wissen lassen? Ich meine mich zu erinnern, du hättest gesagt, eine amerikanische Ausgabe zu besitzen.

Ich nehme an, du wirst in den nächsten Wochen damit beschäftigt sein zu packen und deinen Kram zu ordnen. Aber ich schreibe dir noch ein paar Zeilen vor dem 16.

Ich kann deinen Widerwillen verstehen, wieder deutsch zu sprechen. Als ich vor ein paar Jahren aus Rom zurückkam, hatte ich große Schwierigkeiten, in einfachen Gesprächen die richtigen englischen Worte zu finden. Du gewöhnst dich aber selbst schnell wieder daran und musst jede Gelegenheit nutzen, alle Sprachen zu sprechen, die du gelernt hast, auch Deutsch.

Ich muss aber jetzt schließen. Für jetzt wünsche ich dir „gutes Packen“.

Mit Liebe und Gebeten,

von,

Paul.

[Anlage]

[Auf der Rückseite der Photos in englischer Sprache]

            ich selber, Loch Lay, Scotland. August 1967.          meine Schwester. August 1967.