Briefe an Susanne                                                                   Kommentar

 

60. Gerhard E.                                                  Solingen, den 22.10.1963

Meine geliebte Susanne!

Du wunderst Dich sicher, daß ich zur Feder greife und Dir so ohne Grund schreibe. Man kann sich zwar vieles mündlich sagen, doch in der kurzen Zeit, die wir beieinander sind, fehlen die richtigen Worte, um das auszudrücken, was uns beide bewegt.

Ich glaube hier von „uns“ sprechen zu dürfen, da ich sicher bin, daß Du ebenso fühlst wie ich.

Die Liebe, die uns verbindet, obwohl, oder gerade weil wir so grundverschieden sind, in unserer Gedankenwelt und unseren Interessen; diese Liebe ist für mich wie ein Stern, zugleich kühl und furchtbar einsam, doch dann wieder feurig glühend; eine lebensspendende Sonne.

Dies alles mag vielleicht ein wenig verschroben und altmodisch klingen, so ganz im Gegensatz zur Hast unserer Zeit; doch wo zeigt sich der Mensch stärker als individuelles Wesen, als in der Liebe? Ist Liebe nicht eine Zuflucht vor dem Unbehagen, vor der Angst allein zu sein?

Wenn ich daran denke, wie unschön und häßlich ich mit meinen Klassenkameraden gerade über dieses Thema spreche, so wird mir klar, daß die ganze Gemeinheit dieser Gespräche nichts ist, als eine Fluch vor dem eigenen Gefühl, vor der Angst, zugeben zu müssen, daß man selbst liebt. Warum kann Liebe nicht rein und untadlig in Tat und Gespräch sein; warum wird sie so beschmutzt?

Ich glaube, wenn unsere Eltern endlich aufhören zu sagen: „Du bist zu jung“; wenn sie endlich einsehen, daß auch wir etwas für einen anderen Menschen fühlen, dann endlich wird auch die Liebe etwas wunderbar Reines in uns sein. Warum schimpfen die uns so „weit überlegenen“ Erwachsenen, wenn zwei junge Menschen Arm in Arm durch die Straßen gehen, warum wenden sie sich empört ab, wenn dieses Paar sich küßt? Aus falschem Schamgefühl, aus Neid, nicht mehr jung zu sein; oder glauben sie etwa, wir tun etwas Verderbliches?

Sie sollten stolz auf die Jugend sein, sollten uns beistehen, in allen schwierigen Situationen uns helfen. Sie aber sind außer sich, wenn wir sagen: „Wir wollen unseren Dreck alleine machen!“

Empfindest Du nicht auch manchmal den Wunsch, aus der Welt zu fliehen, in eine Region ohne solche Probleme? Wenn diese Region überhaupt existiert, dann ist es der Wahnsinn, das wirre Ineinanderfließen von Gedanken und Gefühlen. Hier, so glaube ich, zeigt sich ein Wunsch, der mit allen Mitteln unterdrückt werden muß. Warum verfallen denn so viele Menschen dem Rausch, der doch nichts weiter ist, als ein gewisser Wahn? Suchen sie nicht einen Ausweg aus dem schwierigen Leben?

Für mich erfüllt sich der Wunsch, aus der Welt zu entfliehen, wenn ich in Deiner Nähe bin, wenn ich fühle, daß jemand da ist, der versucht, mich zu verstehen.

Ist die Liebe wirklich ein leerer Wahn, wenn man doch so viel Kraft aus ihr schöpfen kann?

Doch dann, wenn wir uns getrennt haben, überkommt mich wieder das Gefühl der Einsamkeit, und eine bange Frage taucht auf: Liebst Du mich noch?

Wenn ich sehe, wie leichtfertig mit der Liebe, oder besser mit dem Gefühl, verfahren wird, so frage ich mich: Wie kann ich so die Liebe als etwas Edles, von Gott Gegebenes ansehen?

Nur solange die Liebe wahrhaft tief ist, solange bewahrt sie uns vor dem maßlosen Spiel mit den Gefühlen.

Versuchen wir, den Problemen aus dem Weg zu gehen, so ist das nicht nur Feigheit, sondern auch dem Menschen unwürdig. Das Tier ist von seinen Trieben beherrscht, wir aber sollen unsere Triebe beherrschen! Das soll aber nicht heißen: „Übe strenge Askese aus!“; nein, auch die Askese ist ein Mittel, den Problemen aus dem Weg zu gehen.

Wenn wir uns aber den Problemen stellen, so heißt das, zeigen, daß wir würdig sind, die Gaben, die uns Gott anvertraut hat, zu nutzen und gut zu verwalten.

Wenn wir das beherzigen, so wird unsere Liebe aufrecht und wahr sein; sie wird uns verbinden und uns helfen, die Probleme des Lebens zu meistern.

In diesem Sinne verbleibe ich in Treue und tiefer Liebe,

Dein Gerhard.

 

[Anlage]

Für mich ist Liebe wie ein Stern,

Kühl zugleich und furchtbar einsam.

Die Eltern sagen: „Du bist zu jung!“

Wohin soll ich nur gehn?

In deine Nähe?

Ins wirre Ineinanderfließen?

Mein Stern ist eine Sonne,

Die feurig glüht.