Briefe an Susanne, Kommentar Brieftext
221. Gerhard E. Solingen, den 19.7.67
das Spiegelinterview] in dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ erschien am 10. Juli 1967 ein Interview mit Rudi Dutschke (29/1967); darin äußerte sich der Studentenführer zu aktuellen Fragen der deutschen Innenpolitik und zur Frage des gewaltsamen Umsturzes (Auszüge):
SPIEGEL: Sie
sind für die Abschaffung des Parlamentarismus, so wie er in der Bundesrepublik
heute existiert?
DUTSCHKE: Ja. Ich denke, dass wir uns nicht zu Unrecht als außerparlamentarische
Opposition begreifen. [...] Wenn wir sagen außerparlamentarisch, soll das
heißen, dass wir ein System von direkter Demokratie anzielen – und zwar von
Rätedemokratie, die es den Menschen erlaubt, ihre zeitweiligen Vertreter direkt
zu wählen und abzuwählen, wie sie es auf der Grundlage eines gegen jedwede Form
von Herrschaft kritischen Bewusstseins für erforderlich halten. Dann würde sich
die Herrschaft von Menschen über Menschen auf das kleinstmögliche Maß
reduzieren. […]
SPIEGEL: Kommen wir auf diesen Kampf zu sprechen. Sie führen ihn mit Ihren
Mitstudenten, indem Sie Professoren lächerlich machen, Sit-ins und Happenings
mit roter Grütze veranstalten, Tomaten werfen [...]
DUTSCHKE: […] Es kommt darauf an, irrationale Autoritäten auszuhöhlen […]
SPIEGEL: […] indem Sie gegen den Schah, gegen Notstandsgesetze oder auch für den
Vietcong demonstrieren. Das sind, wenn man Ihr Endziel einer gesellschaftlichen
Umwälzung in Betracht zieht, offenbar nur Vorgeplänkel?
DUTSCHKE: Demonstrationen und Proteste sind Vorstufen der Bewusstwerdung von
Menschen. Wir müssen immer mehr Menschen bewusst machen, politisch mobilisieren,
das heißt: In das antiautoritäre Lager – das jetzt erst aus nur ein paar tausend
Studenten besteht – herüberziehen. Und wir müssen mehr tun als protestieren. Wir
müssen zu direkten Aktionen übergehen.[…]
SPIEGEL: Ist das Werfen von Tomaten oder Rauchbomben auch eine Form der direkten
Aktion?
DUTSCHKE: Tomaten und Rauchbomben sind ohnmächtige Mittel zum Zeichen des
Protests, und nichts anderes. Niemand kann sich einbilden, dies sei ein Moment
des wirksamen Protestes.
SPIEGEL: Sind Steine wirksamer?
DUTSCHKE: Eine systematische Provokation mit Steinen ist absurd. Steine als
Mittel der Auseinandersetzung unterscheiden sich prinzipiell nicht von Tomaten.
Tomaten sind ohnmächtig, Steine sind ohnmächtig. Sie können nur begriffen werden
als Vorformen wirklicher Auseinandersetzungen. […]
SPIEGEL: Ihre Reden wurden gelegentlich wegen solcher Wendungen als versteckte
Aufforderungen zur Anwendung von Gewalt gedeutet. Predigen Sie Gewalt?
DUTSCHKE: Aufruf zur Gewalt, zu Mord und Totschlag in den Metropolen
hochentwickelter Industrieländer – ich denke, das wäre falsch und geradezu
konterrevolutionär. Denn in den Metropolen ist im Grunde kein Mensch mehr zu
hassen. Die Regierenden an der Spitze – ein Kiesinger, Strauß oder was auch
immer – sind bürokratische Charaktermasken, die ich ablehne und gegen die ich
kämpfe, die ich aber nicht hassen kann wie einen Ky in Vietnam oder Duvalier in
Haiti.
SPIEGEL: Diese Differenzierung – Gewalt dort, keine hier – erklärt sich für Sie
[…]
DUTSCHKE: […] aus dem prinzipiellen Unterschied im Stand der geschichtlichen
Auseinandersetzung. In der Dritten Welt: Hass der Menschen gegen die Form der
direkten Unterdrückung, repräsentiert durch Marionetten; darum Kampf gegen
diese. Bei uns: Attentat auf unsere Regierungsmitglieder – das wäre absoluter
Irrsinn; denn wer begreift nicht, dass bei uns heute jeglicher an der Spitze
austauschbar ist. Die terroristische Gewalt gegen Menschen ist in den Metropolen
nicht mehr notwendig.
SPIEGEL: Sie verneinen also Gewalt nicht grundsätzlich, sondern nur unter den
obwaltenden Umständen?
DUTSCHKE: Ganz sicher wird niemand behaupten können, dass es überhaupt keine
Gewalt innerhalb des Prozesses der Veränderung geben wird. Gewalt ist
constituens der Herrschaft und damit auch von unserer Seite mit demonstrativer
und provokatorischer Gegengewalt zu beantworten. Die Form bestimmt sich durch
die Form der Auseinandersetzung. […] Wir können nun innerhalb dieser
Auseinandersetzung nicht sagen: Greifen wir mal zu den Maschinengewehren und
führen wir die letzte Schlacht.
SPIEGEL: Sondern?
DUTSCHKE: Sondern wir müssen ganz klar sehen, dass unsere Chance der
Revolutionierung der bestehenden Ordnung nur darin besteht, dass wir immer
größeren Minderheiten bewusst machen, dass das antiautoritäre Lager immer größer
wird und damit beginnt, sich selbst zu organisieren, eigene Formen des
Zusammenlebens findet – in Berlin eine Gegen-Universität etwa, oder Kommunen
oder was auch immer. Gleichzeitig muss das Bestehende unterhöhlt und Neues
herausgebildet werden.
Das Beispiel der Roten Garde] Die Roten Garden waren die Träger der von Mao Zedong initiierten Kulturrevolution (1966-1976) in der Volksrepublik China. Sie bestanden aus Schülern und Studenten. Sie organisierten sich in Gruppen, genannt „Rote Garde“. Die einzelnen Gruppierungen hatten unterschiedliche Gründe für die Rebellion und damit auch verschiedene Ziele. Mao Zedong bediente sich bewusst der Emotionalisierung dieser Massen, die sich seit 1963/64 wieder stark mit dem von Mao geschriebenen „Roten Buch“ identifizierten.
Sing Out] christlich motivierte religiöse Musikgruppen, die in öffentlichen Konzerten für eine bessere Welt warben.
Aktionen für Sauberkeit (saubere Leinwand u.s.w.)] Die Aktion saubere Leinwand – gemeint war damit die Kinoleinwand – war eine in den 1960er Jahren gestartete Initiative, die sich zum Ziel gesetzt hatte, die sich nach zaghaftem Beginn immer rascher ausbreitende Sexualisierung der Medien durch Zensur- und Kontrollmaßnahmen zu unterbinden.