Vorwort

 Der Mensch erobert den Weltraum, doch daheim auf der Erde häufen sich die Probleme. Die 60er Jahre sind ein Jahrzehnt des Umbruchs und der großen Konflikte“, lesen wir heute im Internet. (http://www.planet-wissen.de/wissen_interaktiv/die_60er_jahre.jsp; 7-2011)

Als Anzeichen dieses Umbruchs werden genannt: „Mauerbau, Mondlandung, Studentenproteste, der Besuch des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy in Berlin und dessen Ermordung – Bilder, die sich im kollektiven Gedächtnis für die 60er Jahre eingebrannt haben.“ (http://www.daserste.de/60erjahre/)

„Während der 60er Jahre vollzog sich eine Veränderung im Denken vieler junger Menschen in der Bundesrepublik. Die Generation nach dem Krieg war ganz damit beschäftigt gewesen, Deutschland wieder aufzubauen. Als Tugenden galten deshalb Fleiß, Pflichterfüllung, Gehorsam, Achtung vor den öffentlichen Institutionen wie Schule, Polizei und Armee, Staat und Kirche. Auch in der Hitlerzeit davor (1933-45) waren die Deutschen zum Gehorsam erzogen worden.

In den 60er Jahren war jedoch eine neue Generation herangewachsen. Sie hatte den Untergang der Demokratie 1933 in Deutschland durch Hitler nicht selber miterlebt. Sie wollte nichts davon wissen, daß nur ein starker Staat Unheil durch radikale Gruppen und Parteien verhindern kann. Sie war im Wohlstand aufgewachsen und gewohnt, ihre Wünsche erfüllt zu bekommen. Diese jungen Leute wollten sich deshalb den vielen älteren Menschen im Staat nicht mehr unterordnen. Sie hatten keine Achtung mehr vor den öffentlichen Autoritäten wie Schule, Polizei, Armee und Kirche. Sie wollten selber mitreden und mitbestimmen. Sie wollten soviel Freiheit wie möglich für sich haben. Sie verlangten überall im Staat nach Reformen.“ (http://www.derweg.org/deutschland/geschichte/deutschland1960-1970.html)

Nach Darstellungen, die über diese Schlagworte und Ansätze hinausgehen und den Zeitraum zwischen 1960 und 1970 genauer beschreiben und analysieren, sucht man zurzeit im Netz vergebens. Vielleicht ist der Abstand von vier oder fünf Jahrzehnten noch zu gering, um allgemeine Aussagen über die Zeit und über ihre Menschen formulieren zu können.

Wie sich das Denken und Fühlen junger Menschen während dieses Jahrzehnts entwickelt hat, lässt sich den etwa 250 Briefen und Postkarten entnehmen, die in diesem Zeitraum an ein junges Mädchen in der deutschen Provinz geschickt wurden. Es handelt sich um Dokumente einer Alltagskultur, die sich in den letzten Jahren durch eine Revolution unserer Kommunikationsgewohnheiten radikal verändert hat. Wer heute einem Freund oder Bekannten etwas mitzuteilen hat, bedient sich aktueller Medien der Telekommunikation oder des Internets und ist unmittelbar mit seinem Partner verbunden. Das war vor 50 Jahren ganz anders. Wollte man sich mit jemandem austauschen, der in einer anderen Gemeinde oder gar im Ausland lebte, so war der Brief die preiswerteste Möglichkeit, ihm etwas mitzuteilen, da Ferngespräche teuer waren und nicht jeder über einen Telefonanschluss verfügte. Die Briefkultur, die sich im Bürgertum des 19. Jahrhunderts entwickelt hatte, ermöglichte es Jugendlichen noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Informationen, Gedanken und Reflexionen auszutauschen und dabei ein selbstbestimmtes Verhältnis von Distanz und Nähe aufrecht zu halten.

Das Leben der Jugendlichen wird zunächst durch die Schule bestimmt, die ihnen die technischen Fertigkeiten vermittelt, eine selbständige Korrespondenz zu beginnen. Ihr Leben in den frühen 60er Jahre wird durch eine neue Medienkultur geprägt; Musik, Film, Fernsehen und Zeitschriften spielen als moderne Informations- und Unterhaltungsmedien eine bedeutende Rolle. Reisen führen in den Ferien aus der regionalen Enge des Lebensumfeldes hinaus bis ins europäische Ausland, und es entwickelt sich ein Schüleraustausch vor allem zwischen Deutschland, Frankreich und Groß-Britannien.

Fast alle dieser jungen Leute besuchen weiterführende Schulen und beabsichtigen, nach ihren Abschlüssen an einer Hochschule zu studieren. Die Brieffreundschaft mit ausländischen Jugendlichen dient der Verbesserung der Alltagskommunikation in den Fremdsprachen und wird von den Schulen gefördert; zugleich befriedigen die Briefe eine gewisse Neugier, wie das Leben in anderen Kulturen verläuft und unter welchen unterschiedlichen Bedingungen zum Beispiel in Frankreich oder Kanada gelernt wird. Sie begleiten oft die von Schulen organisierten gegenseitigen Besuchsprogramme im Rahmen von Schul- oder Städtepartnerschaften.

Ein Sonderfall stellte die DDR dar. Die Staatsführung untersagte der Nachkriegsgeneration ins „nichtsozialistische Ausland“ zu reisen, so dass die Korrespondenz mit Freunden im Westen eine der wenigen Möglichkeiten war, etwas Unmittelbares über die dortigen Lebensbedingungen zu erfahren. Für die westdeutschen Jugendlichen wurden Fahrten in die DDR von kirchlichen und politischen Organisationen aus weltanschaulichen Gründen organisiert, damit die Teilnehmer Einblicke in die Lebensbedingungen ihrer Altersgenossen und deren Familien gewinnen und ihre überlegene Position im „Wettkampf der Systeme“ bestätigen konnten. Die Briefe, die aus Berlin-Pankow an Susanne geschrieben wurden, zeigen eindrucksvoll, wie die autoritären Institutionen der DDR die Hoffnungen und Pläne eines jungen Menschen gebremst und zunichte gemacht haben.

Für die Jugendlichen im Westen eröffneten sich andere Möglichkeiten, allerdings waren diese auch vom sozialen Status und vom Vermögen der Eltern abhängig. So entschied sich Susanne für eine der beiden französischen Briefpartnerinnen, weil nur deren Familie die Voraussetzungen für eine gegenseitige Einladung und Beherbergung erfüllen konnte. Der Aufenthalt in England wurde nur möglich, weil ihrer Eltern Kosten für die Reise, für Schule und Unterkunft aufkamen.

Unterschiedlich begann die Zeit nach dem Schulabschluss; die Jungen mussten zum Militär, die Mädchen reisten nach Möglichkeit ins Ausland, um ihre Sprachkenntnisse zu erweitern. Die im Anschluss geplanten Studiengänge waren sehr unterschiedlich und entsprachen den eigenen Möglichkeiten, vor allem aber der sozialen Stellung der Eltern. Die Jugendlichen stammten zumeist aus bildungsorientierten Schichten, ihre Eltern waren Kaufleute, Fabrikanten, Lehrer, Ärzte und Handwerker.

In vielen Briefen wird etwas über das Bildungsinteresse dieser Generation erkennbar, der Leser erfährt Details über die beginnende internationale Pop-Kultur, über Lesestoffe und die Bedeutung literarischer Bildung. Zugleich werden die aktuellen politischen Ereignisse wahrgenommen und altersgemäß interpretiert. Es ist eine Generation im Aufbruch, die ihr eigenes Leben in die Hand nehmen will und sich kritisch an den Traditionen der Elternhäuser abarbeitet.

 

Susanne wurde 1948 im Bergischen Land geboren und wuchs in einer bürgerlichen Mittelstands-Familie auf. Sie besuchte ein Gymnasium und korrespondierte mit Freundinnen aus der Nachbarschaft, der Schule und mit Bekanntschaften, die sich aus den Urlaubsaufenthalten ihre Familie ergeben hatte. Dazu kamen Briefkontakte mit gleichaltrigen Mädchen aus der DDR, der Schweiz, aus Frankreich, Kanada und England. Später kamen Briefe von Jungen aus der Nachbarschaft und aus dem Freundeskreis hinzu, die belegen, wie sich die außerfamiliäre Sozialisation in diesem Zeitraum vollzog.

Insgesamt sind 256 Briefe und Postkarten erhalten. Der erste Brief, den Susanne aufbewahrt hat, stammt von Ende November 1959; es sind zunächst einzelne Briefe, erst 1962 werden die Zeitabstände der Briefeingänge kürzer; aus diesem Jahr sind 14 Briefe erhalten, die Jahre 1963 und 1964 repräsentieren mit 57 bzw. 41 Briefen Freundschaften mit in- und ausländischen Jugendlichen; aus den beiden Folgejahren sind nur etwa halb so viele Belege erhalten; die schwärmerische Begeisterung für Pop-Idole weicht allmählich der Diskussion von ernsteren Lebensfragen. Das letzte Jahr des Briefwechsels (1967) ist mit 92 Briefen am umfangreichsten dokumentiert.

An dem Briefwechsel (die Briefe von Susanne sind nicht erhalten) nahmen 36 Personen teil; davon sind nur 4 Erwachsene. Die 32 Jugendlichen wurden fast alle noch in den 1940er Jahren geboren und beendeten in den 1960er Jahren ihre Schulzeit. Der Briefwechsel beginnt, als Susanne 11 Jahre alt ist, am Ende der hier dokumentierten Zeit ist sie 19 Jahre alt und nimmt ihr Studium auf.

Die älteste Gruppe besteht aus drei Mädchen, die Susanne Ende der 1950er Jahre in einem Ferienort im Schwarzwald kennen gelernt hat. Man schreibt sich vor allem, um sich über gemeinsame Erlebnisse und Bekannte auszutauschen. (21 Briefe)

Weiter sind 6 Briefe von der Freundin Brigitte aus Kindertagen (Nachbarschaft) erhalten, die mit ihren Eltern nach Kanada ausgewandert war; dieser Briefwechsel schläft bald ein; Brigitte hat eine englischsprachige Klassenkameradin an Susanne vermittelt, aber auch diese Korrespondenz kommt nicht recht in Gang; erhalten sind nur 9 Briefe verteilt über einen Zeitraum von vier Jahren.

Umfangreicher sind die zwei Briefwechsel mit jungen Französinnen, Marie-José C. aus Paris und Brigitte G. aus Chalon-sur-Saône (27 bzw. 24 Briefe). Es kam zu mehren gegenseitigen Besuchen zwischen Susanne und Brigitte, allerdings konnte Marie-José ihren Wunschtraum nicht verwirklichen, nach Deutschland zu fahren und auch Susanne reiste nicht nach Paris, da die dortigen beengten Wohnverhältnisse dies verhinderten. Im Falle der beiden französischen Mädchen entschied die soziale Herkunft über den weiteren Kontakt, da Brigittes und Susannes Eltern selbständige Familienunternehmen betrieben.

Die Bekanntschaft mit einem jungen Mann (Eitel P., 7 Briefe) bestand nicht lange, weniger wegen des Altersunterschied von 5 Jahren als vielmehr wegen der unterschiedlichen Bildungsvoraussetzungen und Interessen.

Der umfangreichste Briefwechsel mit 65 Briefen und Karten ist der mit Gerhard E., der sich auch durch die Form mancher Briefe und durch die vielfältigen Anlagen von den anderen Briefen unterscheidet. Aus diesen Briefen kann eine Jugendliebe rekonstruiert werden, die von allen Höhen und Tiefen der Selbstfindung junger Menschen dieses Zeitraums gekennzeichnet ist.

Die übrigen Korrespondenzen bestehen nur aus jeweils wenigen Briefen; es handelt sich um Schulfreundinnen, die nur schrieben, wenn sie auf Reisen waren oder wenn Susanne sich für längere Zeit im Ausland aufhielt. Auch tauchen einige Jungen unter den Briefschreibern auf, die ebenfalls aus den Freundeskreisen stammen, mit denen Susanne in Solingen aufwuchs. Eine Besonderheit stellen auch die 22 Briefe dar, die von Susannes Mutter im Sommer 1967 nach England geschickt wurden und die zeigen, wie sich die Tochter immer deutlicher vom Elternhaus löst.

Insgesamt entfalte sich in dieser nur einseitig erhaltenen Korrespondenz ein vielfältiges Kaleidoskop von Eindrücken und Wahrnehmungen eines Jahrzehnts, das den späteren Lebensgang der ersten Nachkriegsgeneration entscheidend geprägt hat.