Anfänge
Es lässt sich heute geografisch und zeitlich nicht festlegen, wo und wann das Spiel mit Puppen seinen Ursprung hatte. Die Wissenschaft hat unterschiedliche Theorien über die Herkunft des Puppenspiels entwickelt, die entweder von einer gemeinsamen Quelle oder aber von einer räumlich und zeitlich unabhängigen Entwicklung ausgehen. Für die letztere Annahme spricht, dass sich in vielen kulturellen Epochen an verschiedenen Orten der Erde ähnliche Formen der Puppen und des Puppenspiels entwickelt haben.
Manche Forscher vermuten die Heimat des Puppenspiels in Indien, von wo aus Zigeuner es nach Europa gebracht hätten. Andere nehmen das antike Griechenland als Herkunftsland an, doch zeigen einige Forschungsergebnisse, dass lediglich die genauere Herkunft bestimmter Hauptformen des Puppenspiels, wie Handpuppen, Stockpuppen und Marionetten ermittelt werden kann. Diese Puppenformen haben sicherlich nicht das gleiche Ursprungsland und stammen auch aus verschiedenen Zeiten.
Das Handpuppenspiel
Über das Handpuppenspiel liegen in Europa Dokumente erst aus dem frühen 13. Jahrhundert vor. Die Quellen lassen vermuten, dass sich diese Art des Puppenspiels im persischen Raum entwickelt hat, da es in Asien und Europa in ähnlichen Ausprägungen vorkommt. Im Mittelpunkt des Geschehens steht eine lustige Person, die dem Volksschauspiel verbunden ist und ihre jeweilige regionale Ausprägung erfährt. Sie entstammt den unteren Schichten und greift soziale Missstände auf, gegen die sie rebelliert. Weitere Figuren parodieren menschliche Unzulänglichkeiten durch Übertreibungen (z. B. Bauer, Polizist, Großmutter usw.).
Die lustige Figur des „Hans Wurst” wird im 18. Jahrhundert durch das Wiener Volkstheater in den gemäßigteren „Kasperl Larifari” verwandelt, der im Spiel die Interessen der städtischen Unterschichten wahrnimmt. Diese Figur wird im ausgehenden 18. Jahrhundert vom Puppentheater übernommen und wandelt sich in den nächsten Jahrzehnten immer mehr zur belanglosen Klamaukfigur des Kindertheaters, weil sich das Erwachsenenpublikum vom Puppentheater abwendet und der zeitkritische Bezug verloren geht.
Das Marionettenspiel
Marionetten werden Gliederpuppen genannt, die an Fäden, Drähten oder Stangen geführt werden. Über ihre Herkunft ist nichts Genaues bekannt. Man vermutet China, Persien oder Indien als Heimat; in China war ihre Entwicklung Ende des 16. Jahrhunderts am weitesten fortgeschritten, als Jesuiten diese Puppenformen nach Europa brachten. Ob hier schon vorher Marionetten bekannt waren, lässt sich aus den vorhandenen Quellen (Abbildungen) nicht ohne weiteres nachweisen.
Im 18. Jahrhundert genoss das Marionettentheater in Europa ein hohes Ansehen; oft wurde das Menschentheater kopiert. Die Theatergruppen waren von der Gunst der Fürsten abhängig, das Spiel unterschied sich aber durch die höheren technischen Anforderungen auch qualitativ von dem der Handpuppenspieler, die dem Jahrmarkttreiben und der Schaustellerei verbunden blieben. Im 19. Jahrhundert erfuhr das Marionettenspiel eine Vervollkommnung und erlangte durch die neuen stehenden Bühnen ein hohes Ansehen.
Das Stockpuppenspiel
Diese in China schon kurz nach Christi Geburt verbreitete Puppenform wird an einem starren Stock geführt, auf dem der Kopf sitzt. Die Hände können durch Stäbe bewegt werden. In Deutschland spielt man seit Beginn unseres Jahrhunderts verstärkt mit Stockpuppen; die Mechaniken zur Bewegung von Mund, Augen usw. sind immer komplizierter geworden.
Vom Hans Wurst zum Kasper
Schon in früheren Jahrhunderten stand im Mittelpunkt des Theater- und Puppenspiels für das einfache Volk eine lustige Person, die in der Sprache der Zuschauer Missstände kritisierte. Das geschah in einer an Fäkal- und Sexualausdrücken reichen Sprache, die vom Publikum auf dem Markt akzeptiert wurde, weil sich hinter der Dummdreistigkeit des Hans Wurst die Gestalt des Verweigerers und Kritikers der starren feudalen Gesellschaftsordnung verbarg. Scheinbar einfältig aber voller Bauernschläue nimmt er wie sein Vetter Till Eulenspiegel die Aufforderungen und Befehle wörtlich und schafft durch Verdrehung des Wortsinns Unordnung und Verwirrung. Stets nur auf die Befriedigung sinnlicher Triebe bedacht, ist er verfressen, faul, oft betrunken, im Ganzen ein Gemütsmensch, der am liebsten in Ruhe gelassen werden will. Doch in allen Stücken kommt die Bedrohung von außen: Ob Tod, Teufel oder ein Soldat irgendeines Heeres, der Hans Wurst weiß sie alle unter deftigen Flüchen mit seiner Pritsche zu vertreiben und geht stets siegreich aus dem Kampf gegen Gefahren und Mächte dieser Welt hervor.
Unter dem Mantel des Narren verbirgt sich der Widerstand des einfachen Volkes, das sich nicht nur gegen die Ansprüche und Anmaßungen der wechselnden Obrigkeiten zur Wehr setzt, sondern auch den Versuchen widersteht, das deftige, sinnliche Volkstheater durch ein nur rationalistisches, bürgerliches Aufklärungstheater zu ersetzen. Dieser Hans Wurst überlebt die Theaterreform der deutschen Aufklärung und Klassik (trotz des kurzen Sturm- und Drang-Protestes) nur in den Vorstadttheatern Wiens und auf der Puppenbühne. Hier hat ihn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der bayrische Graf Pocci der Nachwelt bewahrt, indem er für das erste stehende Marionettentheater von J. L. Schmid zahlreiche Stücke schrieb, deren Hauptfigur Kasperl Larifari ist. Dieser Larifari erscheint als Nachfahre jenes Hans Wurst, allerdings ist er von fäkalischen und sexuellen Späßen gereinigt. Übrig bleiben die Fress- und Trinklust, der Hang zur Prahlerei und eine gewisse Feigheit, die den Kasperl zur Identifikationsfigur des neuen, bürgerlichen Publikums machen, das inmitten der biedermeierlichen Beschaulichkeit ein gewisses Ventil vorfindet.
Durch die zunehmenden Bemühungen um eine moralische Erziehung der Kinder gewinnt am Ende des 19. Jahrhunderts die Handpuppe im Kinderzimmer eine gewisse Bedeutung und kann sich einen festen Platz unter dem Spielzeug für Mädchen und Jungen erobern. Hier taucht auch Hans Wurst als Kasperl wieder auf, diesmal ist er aber nur noch der lustige Gesell, dem schon ein Hang zur Belehrung der Kinder eigen ist.
Durch die Puppenspielgemeinde der „Hohensteiner”, die sich um ihren Meister Max Jacob in den zwanziger und dreißiger Jahren schart, wird aus unserer traditionsreichen Figur endlich der „Kasper”, ein positiver moralischer Held, der die Kinder zu gutem Benehmen, zum richtigen Verhalten im Straßenverkehr und zum Zähneputzen erziehen will. Damit ist der Kasper auf die Stufe des bloßen „Tritratrullala”-Kindergarten-Unterhalters herabgesunken und verleugnet seine oft ernste, oft witzige Vergangenheit.
Soziale Lage der Puppenspieler bis zum Ende des 18. Jahrhunderts
Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts führten die wandernden Puppenspieler ein armseliges Leben, standen auf einer Stufe mit Marktschreiern, Betrügern und Bettlern und wurden allgemein verachtet. Das lag nur zum Teil daran, dass gescheiterte Existenzen und abgemusterte Soldaten aus purer Not zu diesem Broterwerb griffen, vielmehr hat die Obrigkeit viel dazu beigetragen, die Puppenspieler in Misskredit zu bringen, indem sie überall vertrieben, entrechtet und ehrlos zuletzt die Vorurteile bestätigen, die ihnen als „Fahrendes Volk” von den ehrbaren Bürgern entgegengebracht wurden.
Das künstlerische Niveau des Jahrmarktpuppenspiels wird entsprechend niedrig gewesen sein, wenngleich in der damals reizarmen Zeit allein schon die bunten Puppen und die Bereitschaft der Zuschauer, sich durch das Spiel verzaubern zu lassen, genügten, den Spielern sofort Aufmerksamkeit zu verschaffen.
Neben der Fülle der oft schlechten Jahrmarktpuppenspieler gelang es einigen Truppen, an fürstlichen Höfen erfolgreich aufzutreten. Diese wandernden Truppen agierten teilweise sowohl als Schauspielertruppe auf den Theaterbrettern und spielten gleichzeitig mit Marionetten; diese Puppenspielkunst wurde genauso geachtet, wie die Schauspielkunst. Manchmal kamen auch italienische Spieler mit ihren „Polischinela”-Komödien nach Deutschland und ergötzten durch ihr gekonntes Spiel die Damen und Herren in den Residenzstädten. Diese Art des mehr künstlerischen Puppenspiels entfernte sich mehr und mehr vom derben Unterhaltungsbedarf der Bürger und der sogenannten niederen Stände.
Wie wenig damals Menschentheater und Puppentheater getrennt waren, zeigt die Person des Josef Anton Stranitzky, der noch 1698 in Nürnberg als Marionettenspieler aufgetreten war und schon 1712 im Wiener Komödienhaus am Kärntnertor die Rollenfigur des Hans Wurst kreierte und sie erfolgreich bis zu seinem Tode 1726 auf der Bühne verkörperte.
Puppenspieler, die bei Hofe Erfolg hatten oder wie Stranitzky erfolgreich auf die Menschenbühne wechselten, bildeten allerdings die Ausnahme. Der großen Mehrheit blieb nichts übrig, als Lücken in der Überwachung durch die Obrigkeit zu suchen und auf Märkten und sonstigen Treffpunkten des Volkes seine derben Späße zum Besten zu geben. Die Qualität des Spiels kann schon wegen des geringen Bildungsstandes der Zuschauer nicht besonders hoch gewesen sein. Andererseits muss man auch berücksichtigen, dass damals allein die Abwechslung vom Tageseinerlei genügt haben mag, die Zuschauer zu begeistern. Mit nur geringen Mitteln war die Fantasie des Publikums angesprochen und damit der Erfolg sicher. Dass dabei keine Reichtümer zu verdienen waren, ergibt sich aus der allgemeinen Armut der niederen Stände, für die fast ausschließlich gespielt wurde.
Puppentheater im 19. und frühen 20. Jahrhundert
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte sich einiges gegenüber früher geändert: Menschenbühne und Puppentheater hatten sich getrennt, die Unternehmen waren nicht mehr in beiden Bereichen zugleich aktiv, und aus den vormals großen Truppen waren durch Spezialisierung auf Marionetten Familienunternehmen geworden. Während sich das Menschentheater einen anerkannten Platz im Bereich der Künste erobern konnte, drifteten die Puppenspieler immer mehr zu den Schaustellern ab. Dadurch veränderten sich auch Publikum und Stücke: Immer weiter verbreitete sich die Ansicht, das Puppenspiel sei Kindersache. Gleichzeitig waren die sozialen Verhältnisse der Feudalzeit den veränderten Bedingungen des Industriezeitalters mehr und mehr gewichen und der Hans Wurst konnte seine destruierenden Späße nicht mehr unter dem Mantel des Narren an sein Publikum bringen.
Den wandernden Puppenspielern des 17. und 18. Jahrhunderts war es nicht gelungen, gesellschaftliche Anerkennung oder gar Ansehen zu erlangen. Das Beispiel von Josef Leonhard Schmid (1822-1912), der die erste stehende Marionettenbühne in München gründete, zeigt, dass dies weniger mit dem Gewerbe zusammenhing, als viel mehr mit dem Wanderleben der früheren Puppenspieler.
Denn seit der Gründung 1858 erfreuten sich diese und viele dem Vorbild folgende Puppenbühnen großer Beliebtheit.
Für Schmid schrieb der Hofmusikintendant und Zeremonienmeister Franz Graf von Pocci (1807-1876) viele Puppenspiele, für die er vor allem Märchenstoffe verwendete. Hauptfigur ist Herr Kasperl Larifari, der noch durch seine Fress- und Sauflust sowie seine Prahlerei und Feigheit an die Figur des alten Hans Wurst erinnert.
Neben einer romantischen Rückbesinnung auf alte Stoffe des Volkstheaters, die im modernen pädagogischen Sinne „gereinigt” wurden, griff das Puppentheater aber auch aktuelle Stoffe auf, wie sie zum Beispiel durch kriegerische Ereignisse vorgegeben wurden.
Im 20. Jahrhundert wurde das Puppenspiel von neuen Medien zurückgedrängt und verlor als populäres Unterhaltungsmedium endgültig an Bedeutung. Vor allem im pädagogischen Zusammenhang spielt es noch eine gewisse Rolle.