Von Solingen nach Ägypten

Eine Geschäftsreise im Jahre 1923

 

Am Abend des 6. März 1923 stieg der Solinger Fabrikant Walter Wielpütz in Köln Hauptbahnhof in den Nachtzug nach München, wo er am Morgen des nächsten Tages um 9 Uhr eintraf.

    

Walter Wielpütz (1888-1968)   Ehefrau Elfriede und Sohn Kurt

Er kaufte sich einen Fahrschein für den Zug nach Triest, der am nächsten Tag um 8:25 Uhr in Richtung Wien abdampfen sollte. Also blieb genügend Zeit, um sich in München umzusehen. Wielpütz war leidenschaftlicher Raucher und kaufte sich ägyptische Zigaretten. Nach einer Nacht im Hotel ging es am nächsten Morgen weiter.

 

„Der Zug nach Triest war nur wenig besetzt. Wunderbare Fahrt durch die bayrischen & österreichischen Alpen. Abends 11½ Uhr war Triest in Sicht.“ So berichtet Walter Wielpütz in dem ersten von drei Briefen, die er von seiner nach Hause zu seiner Frau schickte. Da war er schon an Bord des Dampfers „Semiramis“ des italienischen LLOYD TRIESTINO, das seit 1895 auf der Linie Triest-Alexandria eingesetzt wurde.

Die drei Briefe sind gleich adressiert: Frau Elfriede Wielpütz/ Beckmannstr. 73/ Solingen (Rheinl.)/ Germany.

  

Der erste enthält einen Reisebericht über die Fahrt bis in die ägyptische Hafenstadt Alexandria, ist mit zwei italienischen Briefmarken frankiert und entwertet mit dem Kreisstempel BRINDISI CENTRO ARRIVI E PARTENZE/ 10.3.23 21.

Brief 2 wurde mit einer Briefmarke der Ägyptischen Post frankiert und ist entwertet mit dem Kreisstempel ALEXANDRIA/ 23. MR 23 11 30 A. In ihm berichtet der Unternehmer, wie er seine von Solingen nach Alexandria expedierte Ware den ihm seit Jahren bekannten ortsansässigen Großhändlern anbietet und wie es bei den Verhandlungen zugeht.

Der dritte Brief wurde ebenfalls in Alexandria aufgegeben, ist mit zwei ägyptischen Briefmarken frankiert und mit demselben Stempel entwertet wie der zweite Brief: ALEXANDRIA/ 5. AP 23 12 30 A. Dieser letzte Brief enthält den Bericht von einer Bahnreise nach Kairo, wo es dem Fabrikanten gelang, die mitgeführte Ware zu einem annehmbaren Preis zu verkaufen.

Die Reise verlief weitgehend angenehm: „Am Bahnhof angekommen, erfuhren wir zu unserer Freude, daß wir kein Hotel aufzusuchen brauchten, sondern mit einer Droschke zum Schiff fahren und dort übernachten konnten. Morgens sind wir (3 Passagieren) um 7 Uhr aufgestanden, haben auf dem Schiff gut gefrühstückt und haben uns dann auf die Beine gemacht um die Stadt Triest zu besichtigen. Die Lage erinnert mich an Innsbruck, nur ist Triest modernen und größer.“
Am Freitag, dem 9. März ging es los. „Punkt 1 Uhr setzte sich unser Schiff in Bewegung, es wurde durch einen Lotsen aus dem Hafen geführt um sich dann zu drehen und in die blaue Adria geschleppt zu werden. […] Etwa 6 Uhr setzte Sturm und Regen ein. Das Schiff schaukelte hin und her. Wandelnde Leichen sieht man unstet umherirren, zu denen ich auch bald gehöre.“

In Brindisi traf man am nächsten Tag nachmittags um halb drei ein. Die Weiterfahrt dauerte bis Dienstag, den 12. März, wo man Mittags in Alexandria anlegte.

Die Prunus-Stahlwarenfabrik stellte in Solingen Bestecke und Rasiermesser her. Sie wurden auf dem internationalen Markt zu Gebinden von einem Dutzend gehandelt. Walter Wielpütz hatte 1.000 Gebinde nach Alexandria verschiffen lassen und konnte seine Ware dort beim Zoll abholen. Die Messer waren nicht in Deutscher Mark fakturiert, sondern sollten gegen englisch Pfund verkauft werden. Der Anlass für diese Geschäftsreise war die angespannte wirtschaftliche Lage Deutschlands nach dem Ende des Krieges und der Gründung der Weimarer Republik.

„Nach der Novemberrevolution 1918 verpflichtete der Friedensvertrag von Versailles 1919 Deutschland zu Reparationszahlungen an die Siegermächte (insbesondere an Frankreich). Deutsche Reparationsleistungen mussten in Goldmark, Devisen und Sachgütern geleistet werden und waren daher nicht von der Inflation betroffen. Im Januar 1920 hatte die Mark gegenüber dem US-Dollar nur noch ein Zehntel ihres Wechselkurses vom August 1914.Auch die anderen kriegsbeteiligten Staaten hatten unter den Folgen des Weltkrieges zu leiden. In den Jahren 1921 und 1922 kam es zu einem weltweiten Konjunktureinbruch. Die deutsche Volkswirtschaft konnte sich in dieser Zeit erholen. Die entwerteten Löhne und Einkommen wirkten wie Lohndumping. Das deutsche Wirtschaftswachstum war stärker als in den Volkswirtschaften der Sieger. Im Oktober 1921 wies die Mark noch ein Hundertstel ihres Wertes vom August 1914 auf.“ (Wikipedia)

 

Ägypten wurde am 28. Februar 1922 von Großbritannien in die staatliche Unabhängigkeit entlassen und entstand mit der Proklamation des bisherigen Sultans Fu’ad I. zum König am 15. März 1922. Vorausgegangen war dem 1919 ein Volksaufstand gegen die Kolonialmacht. Damit war nach über 2000 Jahren mehrerer Fremdherrschaften unter einer monarchistischen Staatsform erstmals wieder ein souveräner ägyptischer Nationalstaat entstanden.

Das Königreich Ägypten erstreckte sich über das Territorium der heutigen Republiken Ägypten, Sudan und Südsudan und umfasste zeitweise Teile der Staaten Libyen (Großteil der historischen Region Kyrenaika) und Tschad (Regionen Ennedi und Borkou) und das umstrittene Ilemi-Dreieck (heute von Kenia kontrolliert) und war bislang der größte neuzeitliche Staat Afrikas und zur damaligen Zeit der sechstgrößte Staat der Erde. Mit über 27 Millionen Einwohnern war die Monarchie auch das bevölkerungsreichste Land des Nahen Ostens. Das Land hatte dadurch eine enorme politische und kulturelle Ausstrahlung in der arabischen und islamischen Welt und löste damit quasi das 1922 untergegangene Osmanische Reich, zu welchem das Land nominell bis 1914 gehört hatte, als sunnitische Führungsmacht ab. Drei Jahrzehntelang beanspruchte das Königreich Ägypten daher politisch, militärisch und wirtschaftlich eine regionale Hegemonialmachtsrolle gegenüber den dortigen europäischen Kolonialmächten und den bereits unabhängigen arabisch-islamischen Staaten.

Während der Zeit des Königreichs war Ägypten wirtschafts- und sozialgeschichtlich durch eine schnelle Industrialisierung und einen gesellschaftlichen Modernisierungskurs geprägt, der unter anderem auf eine radikale Säkularisierung, die weitgehende Gleichstellung der Geschlechter, sowie eine Verbesserung des Lebensstandards abzielte. Ökonomisch und sozial-strukturell begann sich das Reich ab ca. 1925 vom Agrar- zum ersten Industriestaat Afrikas zu wandeln. Durch den Ausbau des Handels mit Baumwolle und des Bankwesens gewann auch der Dienstleistungssektor an Bedeutung. Diese wirtschaftliche und gesellschaftliche Stabilisierungsphase dauerte von 1922 bis 1939. (nach Wikipedia)

Über die Verhandlungen in Alexandria erfahren wir im zweiten Brief, der am 22. März geschrieben wurde. Da sich die Auslieferung der Ware beim Zoll verzögerte, konnte der Kaufmann erst am 27. März über seine Ware verfügen. Er klagt über die schlechten Angebote seiner Geschäftspartner und beschließt, nach Kairo zu fahren, wo er sich bessere Geschäfte erhofft. „Das Klima und das Land ist wunderschön, doch an die Menschen und ihre Eigenarten muß man sich erst gewöhnen. Die Araber sind halbwilde Völker. Sie kennen kaum ein Bett. Die Landbevölkerung wohnt in Höhlen und Zelten. Auch an das Essen muß man sich gewöhnen. 10-15 mal täglich trinkt man Kaffee (Mocca). Bei jedem Kunden wird man mit Kaffee empfangen, schlägt man ihn ab, so beleidigt man ihn.“

Im Hafen von Alexandria

Wegen der schleppenden Geschäfte nimmt der Kaufmann seine noch nicht verkauften Rasiermesser mit nach Kairo, wohin er am ersten April mit der Eisenbahn fährt. Zwischen Alexandra und Kairo wurde im Jahre 1854 die von Robert Stephenson gebaute erste Eisenbahnstrecke auf afrikanischem Boden eröffnet.
Diese Reise bringt nun den Erfolg; innerhalb weniger Tage gelingt es dem Kaufmann, alle Rasiermesser zu verkaufen. Er erlöst – nach Abzug aller Spesen – rund 400 Pfund, die er zum Großteil telegraphisch an das Barmer Bankhaus in Solingen überweist.

Dem Fabrikanten blieb sogar noch Zeit, die ägyptischen Altertümer zu besichtigen, wie eine Ansichtskarte belegt, die er seinem dritten Brief beigelegt hat.

Der Brief vom 5. März gibt auch Aufschluss, wie Rückreise nach Solingen ablief. Am Mittwoch, dem 11. April fuhr ein Dampfer von Alexandria nach Athen. Dort blieb Walter Wielpütz noch einige Tage und verkaufte die Reste seiner Waren. Die Weiterreise erfolgte mit dem Orientexpress von Athen durch den Balkan nach Wien und über München und Köln zurück nach Solingen.

Nach der Rückkehr des Kaufmanns begann die Hyperinflation, die für einen Zusammenbruch der deutschen Wirtschaft und des Bankensystems führte; im November 1923 betrug der Kurs für 1 US-Dollar 4,2 Billionen Mark.

Am 5. April 1923, dem Tag der Rückkehr von Kairo nach Alexandria, entsprach ein Dollar 21.300 Mark und ein Pfund 98.750 Mark. Walter Wielpütz war also gut beraten, seine Geschäfte in Ägypten in Britischen Pfund abzuwickeln. Denn nach Ende der Inflation und nach Einführung der Rentenmark war ein Pfund ca. 20 Mark wert.
Auf dem rechten oberen Teil des Briefbogens, auf dem er den dritten Bericht an seine Familie geschrieben hat, hat er übrigens dieses geschäftliche Ergebnis in Rotstift notiert.

Die Firma Prunus wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von Kurt Wielpütz weitergeführt und produzierte Bestecke bis 1973.