Steuerschulden in der Magdeburger Börde

Ein Brief an die brandenburgische Kloster-Kommission in Potsdam vom 2. Januar 1694

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Brief umfasst drei Seiten auf einem Folio-Kanzleibogens und ist auf der vierten Seite mit Notizen der Kommission versehen. Der Text wurde zeichengetreu transkribiert und durch Modernisierung von Schreibung, Wortstand und Zeichensetzung lesbar gemacht; in Klammern stehen Erläuterungen vor allem der juristischen Fachbegriffe.

 

An die Churfürstlich Brandenburgische zu Untersuchung des Klosters Unser Lieben Frauen Angelegenheiten hochverordnete Herrn Commissarii

Hochwürdiger, wohlgeborene, hoch edle, gestrenge, erste und hochgelehrte, höchste und hochgeehrte Herrn!

 

Ob mir gleich Klosters wegen die Gemeinde zu Großen Ottersleben, einen Domvogtei‘schen Dorfe alljährlich 1) an Garben-Zehnt (Zehnt: eine etwa zehnprozentige Steuer in Form von Geld oder Naturalien an eine geistliche oder eine weltliche Institution) dreißig Schock (Maßeinheit in der Landwirtschaft für 20 Garben) Weizen und dreißig Schock Hafer, 2) an Fleisch-Zehnt (Steuer auf Vieh pro Stück) auf Walpurgis (Walpurgis ist ein Name einer Heiligen, die auch als Walburga bezeichnet wird. Ihr Jahrestag ist der 30. April) von einem jeglichen Hofe, und von einem jeglichen Kalbe einen Bauergroschen, von einem jeglichen Garten einen halben Bauergroschen, 3) von einem jeglichen Hofe ein Huhn, auf Nativitatis Mariae (das Fest Mariä Geburt am 8. September), zu geben schuldig, 4) auch ein Zehndner (Finanzbeamter, Steuereinnehmer) um das dritte Jahr zu kiesen ist, der einen Eid tun muss mit solchen Worten: So als ich gekoren bin zu einem Zehndner, hab ich den Herrn und Bauern ein rechter Zehndner zu sein, einen Eid getan, als mir Gott helfe, danach hat selbige Gemeinde seithero (seitdem) ihrer Schuldigkeit übel nach gelebt, ist kein Zehndner fürhanden (vorhanden), mein gütliches Ersuchen und persönliches Reisen vor etlichen Jahren zu ihnen, dass sie sich bequemten, verachtet, auch das Versprechen, sich im Kloster einzustellen, außer Augen gesetzt. Nachdem aber so ein ansehnliches Stück der klösterlichen Alimente (regelmäßig zu zahlender Unterhaltsbeitrag, Aufwendungen für den Lebensunterhalt) nicht negligiret (negligieren: etwas vernachlässigen, nicht beachten) noch entraten (auf etwas verzichten), und doch gegen die morosos (Verdruss) anders nicht als denn durch Hohen Arm etwas geschafft werden kann, also gelangt an Eure hochlöbliche Kommission mein gehorsames hochfleißiges Bitten, beruhrte (oft berührte, oft bedachte) Gemeinde auf einen kurzen (in Kürze) Termin ut in re nota et confestata peremtorio (damit in einer bekannten und schlüssigen Angelegenheit) )vorzuladen, dass sie durch legitimirte Syndicos (zugelassene Rechtsanwälte) erscheinen, und wegen solches unbefugten Verhaltens Rede und Antwort geben, sodann in rechtem Zuerkennen, dass 1) mir Klosters wegen diese Gemeinde den nur specificirten (im Einzelnen aufgeführten) Garben-Zehnten und 2) den Fleisch-Zehnten, auch 3) die Hühner, nach Zahl der Höfe, so lange solche gestanden, das Feld gebraucht und Vieh gezogen worden, was sie daran nicht durch sattsam (genügend, hinlängliche) Quittung unsäumlich (ohne Säumen) vermindern können, nach jedes Jahres Markt-Preise, bar bezahlen, und 4) die verursachten Kosten nach richterlicher Moderation (Verfahren zur Streitbeilegung) erstatten, auch 5) hinführo (in Zukunft) alljährlich mit dem Garben-Zehnt in natura (in Naturalien), mit dem Fleisch-Zehnt mittelst Abstattung izo libellirten Fixi (Erstattung der jetzt durch die Klageschrift festzusetzenden Beträge), auch mit Reichung (Übergabe) der Hühner von jedem Hof-Stato (der Anzahl der Bauernhöfe) die unfehlbar (untrüglich, wahr, zuverlässig) continuiren (fortsetzen) , und 6) solchen Zehnt nebst den Hühnern ins Kloster, auf ihre Kosten und Fahr (Fuhre) einliefern, oder die execution (zwangsweise Durchführung) leiden müssen, dar nebst bitte <ich> 7) ganz dienstlich um zeitige Anordnung, dass ein tüchtiger Zehndner gleichsonsten (ebenso), vor Eurer hochlöblichen Kommission erkieset (gewählt), vereidet, als die praestationes (Gewährleistung, Garantie) um so viel richtiger und völliger errichtet werden, inmaßen (indem) bekannt <ist>, dass man mit dem Domvogtei-Amt ob atroces Injurias et Processus de super exortos (wegen schwerer Verletzungen zu Beginn des Verfahrens) nichts Gütliches noch Ordentliches handeln könne, welches und was mehr omni meliore modo et ratione (auf gütlichem Wege und Berechnung) zu bitten, darüber ich das milde richterliche Amt decenter implorire (taktvoll anrufe) und dafür dankschuldigst erscheinen will.

 

Derer Hochverordneten Herren Commissarien meiner hochgehehrten Patronen

gehorsamer Diener

Philip Müller, Propst

Kloster Unser Lieben Frauen, den 2. Januar 1694

 

Klage geführt wird über die Gemeinde Groß Otterleben, da sie seit mehreren Jahren die Zahlung von Steuern verweigert.
Aus den rückseitig angebrachten Notizen ergibt sich folgende Entscheidung: Die Kommission nimmt mit Datum vom 21. Januar 1694 die Klage von Propst Müller an und setzt einen Anhörungs- und einen Schlichtungstermin fest.

 

Matthäus Merian: Topographia Saxoniae Inferioris, Frankfurt am Main 1653

 

Das Kloster Unser Lieben Frauen wurde um 1017/18 durch den Magdeburger Erzbischof Gero (um 900-976) für den Prämonstratenserorden gestiftet. Unter Albrecht dem Bären (um 1100-1170), dem ersten Markgrafen in Brandenburg, erhielt das Kloster 1151 als Schenkung mehrere Dörfer, darunter wohl auch das südöstlich von Magdeburg gelegene Bördedorf Groß Ottersleben.

 

Kupferstich von Matthäus Merian, 1650

 

Die Stadt wurde im Jahr 805 erstmals urkundlich erwähnt. 968 wurde durch Otto I., den ersten Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, das Erzbistum Magdeburg begründet. Im Mittelalter erlangte die Hansestadt große Bedeutung durch den Freihandel und das Magdeburger Stadtrecht. Sie war im Spätmittelalter eine der größten deutschen Städte und Zentrum der Reformation und des Widerstandes gegen die Rekatholisierung im Schmalkaldischen Bund. Nach der fast völligen Verwüstung im Dreißigjährigen Krieg wurde Magdeburg in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wiederaufgebaut und Anfang des 18. Jahrhunderts zur stärksten Festung des Königreichs Preußen ausgebaut.

Im Jahr 1650 erfolgte die Übereignung des Klosters an den Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg. Zuständig für die Abrechnung dieser Einnahmen war der Kloster-Probst, der dem nunmehr protestantisches Kanonikerstift vorstand. Seit 1680 war der evangelische Theologe Philipp Müller (1640-1713) Propst des Klosters.

 

Friedrich-Schiller-Universität Jena

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Johann Jakob Günter: Lebensskizzen der Professoren der Universität Jena seit 1558 bis 1858. Jena 1858, S. 183.

 

Das Herzogtum Magdeburg war ein aus einem größeren Nord- und einem kleineren Südteil bestehendes Territorium, das im Westfälischen Frieden 1648 dem im Norden und Osten angrenzenden Kurfürstentum Brandenburg zugesprochen wurde. Der Nordteil lag zwischen dem Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel im Westen und dem aus mehreren Kleinstaaten bestehenden Anhalt im Süden.

 

Theatrum Orbis Terrarum, sive Atlas Novus in quo Tabulæ et Descriptiones Omnium Regionum, Editæ a Guiljel et Ioanne Blaeu 1645.

 

Das Seit 1688 regierte in Potsdam Friedrich III. Markgraf von Brandenburg und Kurfürst des Heiligen Römischen Reiches; als souveräner Herzog aus dem Hause Hohenzollern wurde er 1701 zu ersten preußischen König gekrönt und nahm den Namen Friedrich I. an.

 

 

Der Karten-Ausschnitt zeigt „Meydburg“ rot markiert und südöstlich davon „Oterleben“ (blau markiert).

 

Groß Ottersleben wird als Otteresleba erstmals im Jahre 937 in einer Schenkung König Otto I. an das Magdeburger Mauritiuskloster erwähnt. Auch später gegründete Klöster brachten Ländereien des heutigen Ottersleber Gebietes in ihren Besitz. In der Folgezeit wechselte Das Dorf, das später Goßen Ottersleben genannt wird, häufig den Besitzer, wurde mehrmals zerstört und wieder aufgebaut.

Im dreißigjährigen Krieg wurde der Ort so stark zerstört, dass es von 1639 bis 1647 unbewohnt war. Nach 1648 wurde es wiederaufgebaut; 1694 gab es im Dorf ca. 70 bis 80 Bauernstellen; die Bevölkerung wird auf etwa 500 Personen geschätzt.

 

 

Abb. in Jürgen Kempe und Hans Wieduwilt: Die Entstehung und Entwicklung Otterslebens bis 2006. (Vervielfältigtes Typoskript) Magdeburg 2007. (Beiträge zur Otterslebener Ortsgeschichte, Heft 17.)

 

Aus der Größe ergibt sich die wirtschaftliche Bedeutung des Dorfs für das Kloster Unser Lieben Frauen. Der Probst empfiehlt, den Streit auf gütigem Wege zu schlichten, einen Zehntner zu wählen und zu vereidigen, damit dieser unverzüglich die Steuerschuld der letzten Jahre eintreiben kann.

Der Zehnt, eigentlich der „Zehnte Teil“", bezeichnete ursprünglich eine Abgabe in Höhe von 10% des erwirtschafteten Ertrages. Diese wurde seit dem fünften Jahrhundert zum festen Bestandteil der Pfarreinkünfte. Für die Gemeinde bedeutete dies, dass sie den jährlichen Zehnt als Steuer auf ihre landwirtschaftliche Produktion an das Kloster abführen mussten.

Der Zehntner war ein mittelalterlicher Amtsträger oder Beauftragter von Klöstern, Pfarren, Grundherren oder Zehntpächtern, dessen Aufgabe es war, den Zehnt einzutreiben. Zur Aufbewahrung des Zehnten wurden große Zehntscheunen gebaut, und meist mussten die Zehntpflichtigen ihre Abgaben dort oder am Kloster selbst abliefern.

 

Ottersleben ist heute ein Stadtteil von Magdeburg.