Theodor Storm auf der Uwe-Düne – Die „Sylter Novelle“
„Zum größten Teil haben die Dünen eine von Südwesten nach Nordosten sich erstreckende Richtung genommen, in deren Schluchten der Seewind den losen Sand weiter treibt, so dass fortwährend Anpflanzungen erforderlich werden. Das Terrain zwischen Westerland und Kampen steigt in wellenförmigen schwachen Erhebungen, meist mit duftigen Heidekräutern bewachsen, bis zu einer Höhe von über 30 Metern beim Roten Kliff. Letzteres ist ein im Westen schroff nach dem Meere hin abfallender, hoher Hügelrücken, auf dem sich, vom Winde getürmt, kleine Dünen bilden, die jedoch oftmals rasch wieder zerstört werden. Der höchste Punkt des Roten Kliff liegt etwa 50 Meter bei Flut und 52 Meter bei Ebbe über dem Meere. In der Richtung nach dem Dorfe Kampen flacht sich dieser Höhenzug ab, während seine westliche, am Strande ½ Meile lange, hoch und steil sich erhebende Seite durch die mit Raseneisenstein und Geröll gemischte Erde eine rötlich ockerartige Färbung erhält, die zur Bezeichnung „Rotes Kliff“ Veranlassung gegeben hat. Zwischen dem Badestrande von Westerland und dem Roten Kliff befindet sich eine nach dem Strande hin führende Dünenschlucht, welche das Riesgap oder der Friesenhafen benannt ist. So wenig romantisch dieselbe aussieht, so hat die Sage dies kleine Tal dadurch ausgeschmückt, dass von hieraus der Weg zu dem seit langer Zeit vom Meere bedeckten Hafenplatze geführt haben soll, von dem sich Hengist und Horsa zu ihrem berühmten Zuge nach Britannien einschifften.“ (Carl Berenberg: Die Nordsee-Inseln an der deutschen Küste nebst ihren Seebade-Anstalten. Norden 1884, S. 183f.)
Hengist und sein Bruder Horsa sind legendäre Kriegerfürsten, die im 5. Jahrhundert nach dem Rückzug der Römer aus Britannien die Invasion der Angelsachsen anführten und ein Königreich auf der Insel errichteten haben sollen.
C. P. Hansen: Hannoversches Schiff gestrandet d. 20. Novbr. 1861 am Riesenloch bei Wenningstedt auf Sylt. Aquarellierte Bleistiftzeichnung (1863)
Am Sonntag, dem 14. August „machten unsere Hauswirte mit zwei Fräulein Schiff, Schwägerinnen von Julius Rodenberg, […] und natürlich Tiedemann, eine Tour nach Wenningstedt, ½ Stunde zu Wagen.
Theodor Storm an seine Frau Dorothea, Brief vom 16.8.1887
Eines ihrer Ziele war die Uwe-Düne unmittelbar oberhalb des Roten Kliffs an der Steilküste zwischen den Orten Wenningstedt und Kampen. Über sie schrieb C. P. Hansen:
„Jetzt besteigen wir die Inhockdüne [Hansen nennt sie später Uwedüne, nach Uwe Jens Lornsen], einen der höchsten Punkte der Insel, der kegelartig sich 150 Fuß über das Meer erhebt, und genießen hier eine Aussicht und einen Rundblick über das nahe Meer und die ganze Insel Sylt nicht bloß, sondern auch über das östliche und südliche Wattenmeer, Insel Römo, Föhr und Amrum, so wie die ganze Festlandsküste das Herzogtum Schleswig-Holstein von Ballum bis Horsbüll, welche in hohem Grade imposant sind und nur von dem Panorama, welches man von der Galerie des Leuchtturme bei Kampen hat, übertroffen werden. Von diesem erhabene Punkte haben wir nur einige 100 Schritte nach dem westlichen jähen Abhange der Norddörfer Landhöhe, dem roten Kliff. Wir wenden uns also dorthin, betrachten die schroffen Absätze, die Vorsprünge und Aushöhlungen dieser gelben Lehmwand, an deren Fuße die Wellen der Nordsee bei Sturmfluten donnern und schaumspritzend hoch emporschlagen, hier doppelt gefährlich für strandende Schiffe.“ (C. P. Hansen: Der Badeort Westerland auf Sylt und dessen Bewohner, S. 212.)
C. P. Hansen: Dünen auf dem roten Kliff. Aquarellierte Bleistiftzeichnung (1863)
„Das rote Kliff nimmt fast eine halbe Meile von dem westlichen Ufer dieser Gegend ein, ist meistens hoch und steil und hat seinen Namen von seiner gelblichroten Farbe, wodurch die Westküste Sylts den vorüberfahrenden Schiffern kenntlich wird. Es hat bei Wenningstedt 60 Fuß, bei Kampen 110 Fuß senkrechte Höhe. Rechnet man die Dünen auf diesem Kliff hinzu, so kommt für die höchste Dünenspitze bei Wenningstedt 170 Fuß und für die höchste Dünenspitze bei Kampen 200 Fuß senkrechte Höhe über der Meeresfläche.“ (C. P. Hansen: Die Insel Sylt in geschichtlicher und statistischer Hinsicht. Hamburg 1845, S. 25.)
Am vorigen Sonntag mit Pollacseks und Tiedemann und Schiff's nach Wennigstedt. Prächtige Dünen. Auf der Spitze einer Düne sitzend erzählt Tiedemann mir die von ihm tagsüber erdachte Novellenskizze. Ich habe sie notiert.
Theodor Storm: Braunes Taschenbuch, 19. August 1887
Als Tiedemann und ich oben auf einer Düne saßen, erzählte er mir, indem wir in die Dünenwildnis hinabsahen und der kalte Wind uns ins Gesicht blies, den Stoff zu einer Sylter Novelle, den er sich tags zuvor erdacht hatte. Er ist so vortrefflich, dass ich schon gleich ans Schreiben möchte. Die Skizzierung habe ich schon begonnen.
Theodor Storm an seine Frau Dorothea, Brief vom 16.8.1887
Dünengegend am roten Kliff auf Sylt. Lithografie nach einer Zeichnung von C. P. Hansen aus: Das Schleswigsche Wattenmeer und die friesischen Inseln, nach S. 176.
Sylter Novelle
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Einem Sylter (in Wenningstedt) wird seine einzige Tochter von einem dänischen See-Offizier (Schiff ist hier stationiert) verführt. Sein Hass gegen Militär und alles Gesetzliche. Er strandraubt etc., der König setzt einen energischen Landvogt, mit einer halbgewachsenen dito Tochter. Die Verführte war im Wochenbett gestorben; der hinterlassene Sohn (schön, stark, gleich des Landvogts Tochter) ist vom Groß-Vater im Hass gegen Militär und Gesetz erzogen und verrufen auf der Insel. Da ‒ etwa Jahrmarkt ‒ tritt er ihr, die von andern Knaben und Mädchen umringt ist, entgegen. Jene warnen sie vor dem gefürchteten Jungen, und sie sagt ihnen, sie sollten ihn wegjagen. Sie versuchen es, er wirft sie. Da werden ihre Augen zornig. ‚Zurück, lasst mich ‒ nein allein!‘ und das schöne kräftige Mädchen stürmt gegen ihn; er starrt sie an und wie sie mit ihren kleinen festen Händen ihn packt, kommt es wie Lähmung über ihn, sie wirft ihn und setzt ihren Fuß auf seinen Nacken.
Er geht schweigend fort.
Sie geht gern in die Dünen, es spukt dort, Geheul und Geschrei (aber auf Anrichten des alten Sylters von seinem Enkel um die Menschen fortzuscheuchen) da tritt der Alte ihr entgegen; sie erschrickt und entflieht; er da kommt der Alte lachend hinterher; sie stürzt, verrenkt den Fuß und kann nicht wieder aufkommen. Da ist der Junge zur Stelle; er hebt sie sanft vom Boden. ‚Trage mich nach Haus!‘ befiehlt sie ihm. ‒ ‚Ja‘, und er tut es. Sorgfältig wie eine Mutter trägt er sie. (‚Du bist doch der Stärkste!‘ sagt sie sanft und schließt dabei die Augen. ‚Nur jetzt,‘ sagt er; aber mach doch die Augen auf.‘
‚Willst du es?‘ ‒ ‚Ich will nicht, ich bitt Dich nur darum; denn Du bist doch die Stärkste!‘)
Da tut sie es; so gehen sie Aug' in Auge; er strauchelt einmal; fast wären sie gefallen. Er trägt sie nach Westerland ans Haus und pocht das Gesinde heraus. Dann wendet er sich und schweigend entflieht er, als hätte er ein Verbrechen begangen.
(Zwiespalt bei ihr, wer der Mächtigste. Er sagt ihr jetzt oder später, dass er dem Alten fort will und zur See)
Er hat sie vor dem Alten beschützt, der Alte <ist> deshalb gegen ihn. Er verschwindet.
Sie verlobt sie sich nach ca. 2 Jahren, sie denkt seiner nicht mehr sehr, wesentlich Werk des Vaters. Die Verlobten sitzen zusammen in der Laube, sie duldet unangenehm seine Zärtlichkeiten. Als er sie umfassen will springt der Schiffer herein und wirft ihn über den Zaun. Ihre Empörung gegen ihn; erbittert weist sie ihn zurück. Der Bräutigam geschunden und gestoßen klagt; ihr erscheint innerlich der Kontrast zwischen den Beiden; sie lächelt oft innerlich.
Hochzeit naht. Sie etwas erschüttert; am Tage vorher geht sie in die Dünen, um von der Größe und Stille Abschied zu nehmen. Der Schiffer will auch folgen, ist auch da, sein Schatten wird ihr sichtbar, das Brausen des Meers; es fällt ihr auf die Seele: morgen sollst Du den Jämmerlichen heiraten. Mondlicht in den Dünen. Wut, Groll, Leidenschaft, Erbitterung gegen die Menschen kämpfen in ihr mit der Keuschen Scheu, die ihr die Herrschaft über ihn gibt. Sie begegnen sich: ‚Weshalb bist du hier? Wohl deshalb, wie du. Ich will nicht, was ich soll. Ich weiß, du verachtest mich, tritt mich mit Füßen, nur einen Blick in deine Augen (oder so etwas) er umfasst sie; sie steht reglos; da schlägt sie die Arme um ihn. Rasende Leidenschaft von beiden Seiten.
Brautnacht in den Dünen. Das Meer.
Er wirft sich vor ihr nieder. Sie verlangt, dass er ihr verspricht, nie wieder zu kommen, sie nie wieder zu sehen. Er verspricht es
(Gespräch vorher, dass er morgen fort muss)
Am Morgen Trauung. Zwiespalt in ihr, dass sie schon mit einem Ehebruch in die Ehe tritt. Der Priester hält die Wahrheit als Grund der Ehe ihr vor. Sie sagt: „Nein.“ Aufruhr, Zorn des Vaters; aber sie will nicht. Bräutigam fort.
Sie lebt im väterlichen Hause bis ihre Schwangerschaft deutlich wird.
Verstoßung.
Hülfe suchen beim alten Sylter, dem sie Alles erzählt. Höhnische Freude an seinem Enkel, dass er seine Mutter gerächt hat. Aber er verlangt strengen Gehorsam, sie bleibt als Aschenbrödel, muss bei Strandraubfällen Dienste tun.
Sie gebiert ein Kind.
Sehnen nach ihm, jedes Segel lässt sie hoffen; aber sie weiß, er wird sein Wort nicht brechen.
Ein alter Schiffer erzählt, er sei bei einem gewaltigen Kapitän gewesen, der in die Nordsee eingelaufen, habe zwischen Sylt und Helgoland nach Hamburg wollen, wenn der Sturm ihn jetzt nur nicht zu fassen kriegt.
Nachts Strandfall; der Sylter sammelt seine Kameraden. Der Alte läuft um sein Gewerbe zu betreiben an den Strand. Sie von der Angst gefasst es könne Lars sein, folgt dem Alten.
Kampf in der Dunkelheit zwischen Vater und Sohn; sie kommt dazu und findet den Sohn sterbend oder tot.
‒ ‒ Eine irrsinnige Frau geht in den Dünen um. ‒
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Sie gerät in ein Dünental, läuft im Dämmern gegen einen Pfahl, der im Sande eingerammt ist; sie sieht auf, da stehen wohl über 20 Pfähle. Sie weiß es, man hat es ihr gesagt, da liegen die Heimatlosen, die Gestrandeten die Erschlagenen. Ihr graust; sie läuft zwischen die Pfähle durch; da Geheul von einer Seite, es antwortet von der andern. Sie entflieht und fällt.
(Man darf dem Meer nicht ganz rauben, was es sich erobert; darum in den Dünen begraben.)
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Theodor Storm: Sylter Novelle; nach der Handschrift in der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek, Kiel
Erste Seite der Handschrift von Storms „Sylter Novelle“.
Storm betonte mehrfach, Tiedemann habe ihm den Stoff für die „Sylter Novelle“ „vollständig skizziert“ und „erzählt“ sowie „übergeben“. Eine Untersuchung der Motive und ihrer Quellen legt allerdings eine etwas andere Entstehungsweise nahe. Die Niederschrift der Novellenskizze erfolgte erst nach der Rückkehr von dem Ausflug nach Wennigstedt, der am 14, August stattfand; in sein Tagebuch notierte Storm erst fünf Tage später, am 19. August: „Ich habe sie notiert.“ Am 16. August hatte er seiner Frau Dorothea mitgeteilt: „Die Skizzierung habe ich schon begonnen“, der Schreibprozess muss sich über mehrere Tage verteilt haben. Diese Niederschrift erfolgte anders als bei den plattdeutschen Versen, die Storm direkt in seine Tagebuch eintrug, auf 6 Einzelblättern im Format 22 x 14 cm, wurde also an einem Schreibtisch vorgenommen.
Am 18. August berichtete Storm seiner Frau von dem Besuch der alten Landvogtei in Tinnum, „die in einer demnächstigen hier spielenden Novelle vorkommt“; erst danach erfolgte die Niederschrift einer kleinen Szene, in die Storm Erinnerungen aus seiner eigenen Familie in Husum einarbeitete.
Die Motive der Sylter Novelle
1. Verführung
Ein dänischer Seeoffizier verführt die Tochter eines Sylters aus Wenningstedt. Sie stirbt bei der Geburt ihres Sohnes. Der Großvater erzieht den Enkel Lars im Hass gegen Militär und Gesetz zum Strandräuber.
2. Hass und Kampf
Lars wird im Zweikampf von der Tochter des energischen Landvogts besiegt.
3. Liebe
Das Mädchen erschrickt vor einem Dünenspuk, den Großvater und Sohn inszeniert haben und verletzt sich. Lars trägt sie auf seinen Armen nach Hause.
4. Verlassen der Geliebten
Konflikt mit dem Großvater: Lars geht zur See.
6. Kampf mit dem Nebenbuhler
Nach zwei Jahren verlobt sich die Tochter des Landvogts mit einem anderen, den sie nicht liebt. Lars kommt nach Hause und schlägt den Bräutigam nieder.
5. verweigerte Trauung
Am Tag vor der Hochzeit treffen die beiden jungen Leute in den Dünen aufeinander. Lars muss nach der Liebesnacht versprechen, nie wieder zu ihr zu kommen. Er geht am nächsten Morgen fort. Die junge Frau sagt bei der Trauung in der Kirche: „Nein!“
6. Verstoßung und Demütigung
Als ihre Schwangerschaft deutlich wird, verstößt sie ihr Vater. Sie geht zum Großvater von Lars, der sie als Aschenputtel behandelt, und gebiert ein Kind. Sie hofft, dass Lars wiederkommt.
7. Strandraub
Lars ist ein bedeutender Kapitän geworden, dessen Schiff aber bei Sturm nachts an der Westküste Sylts strandet. Der Alte geht mit seinen Kameraden zum Strandraub. Im Dunkeln tötet der Großvater den Enkel. Die junge Mutter sieht ihn sterben.
8. Frau spukt in den Dünen
Im Dünental, wo die Heimatlosen, das sind die Gestrandeten und Erschlagenen, verscharrt werden, hört sie ein Geheul. Sie wird irrsinnig und geht um.
Dänische Seeoffiziere, Ölgemälde um 1807
Die Quellen für diese Motive zeigen, dass sowohl Tiedemann als auch Storm aus ihrer Kenntnis der Literatur und der nordfriesischen Sagentradition Beiträge für den Novellenentwurf beigetragen haben.
Christoph von Tiedemann hat vermutlich während seines Aufenthalts bei seiner Schwester in Hansens Buch „Der Badeort Westerland auf Sylt und dessen Bewohner“ gelesen, das auch in Storms Bibliothek stand; darin ist eine sehr ausführlich Lebensgeschichte von Lorens de Hahn enthalten; auf mehr als 50 Seiten entfaltet Hansen ein Heldenepos, das auf eine historische Gestalt zurückgeht, die er „den Wecker der Sylterfriesen und Zuchtmeister der Strandräuber“ nennt und die von 1668 bis 1747 als Seefahrer, Walfischfänger und Strandinspektor der Insel Sylt wirkte. Von diesem Manne werden Erlebnisse und Taten berichtet, die aus einer Reihe von Motiven zusammengefügt sind, von denen einige auch in der „Sylter Novelle“ erscheinen.
Eine weitere Quelle war der Roman des Berliner Publizisten Theodor Mügge, den Storm bereits aus den 1840er Jahren kannte und dessen Werke er gerade für seinen „Schimmelreiter“ ausgewertet hatte. Auch Tiedemann kannte Theodor Mügge und seinen Roman, wie er in seinen Erinnerungen „Aus sieben Jahrzehnten“ mitteilt. „Längere Zeit hielt sich auch Theodor Mügge, dessen Romane in den vierziger Jahren viel gelesen wurden, unserem Hause auf. Er war nach Schleswig-Holstein gekommen, um Land und Leute kennen zu lernen und namentlich Studien für einen Roman zu machen, der später unter dem Titel: „Der Vogt von Sylt“ erschien und dessen Held Uwe Jens Lornsen war. […] Theodor Mügge war ein brillanter Erzähler und namentlich ein Virtuos im Vortrag von Spukgeschichten. Wir lernten durch ihn das Gruseln gründlich kennen, wenn wir dicht aneinander gedrängt des Abends in der Dämmerung die haarsträubendsten Gespenstererscheinungen uns schildern ließen.“ (Christoph von Tiedemann: Aus sieben Jahrzehnten. Erinnerungen, Bd. 1, Leipzig 1905, S. 147.)
Mügge beschreibt in seinem Roman mit dem ursprünglichen Titel „Der Voigt von Silt“ das Leben des Bauernsohns Uwe Jens Lornsen, der nach einem Jura-Studium auf seine Heimatinsel zurückkehrt. Hier warten sein Vater und der Pastor darauf, dass er sich für ein Leben als Bauer entscheidet und hoffen auf eine Verbindung mit der reichen Erbtochter Hanna Petersen. Jens ist seiner Jugendfreundin zwar zugetan, aber er hat bei einem Ausflug auf die Insel Helgoland einen dänischen Baron Hammersteen kennengelernt und sich in dessen Tochter Lina verliebt. Als dieser ihn nach Kopenhagen einlädt, wo eine Karriere in der Deutschen Kanzlei auf den jungen Patrioten wartet, entscheidet sich Lornsen, seine Heimatinsel zu verlassen. Dort will er für die Unabhängigkeit des Herzogtums Schleswig vom Dänischen Gesamtstaat kämpfen. Kurz vor seinem Abschied aber kommt es zu einer Auseinandersetzung mit seinem Jugendfreund Heinrich Hilgen, der ebenfalls in Hanna Petersen verliebt ist und in seiner Verzweiflung nach der Rückkehr des Nebenbuhlers bei auflaufender Flut ins Wattenmeer läuft. Wegen eines plötzlich aufkommenden Nebels droht der junge Mann zu ertrinken, doch Jens eilt ihm zur Hilfe. Zwischen beiden kommt es zum Kampf auf Leben und Tod, weil Heinrich glaubt, dass sein Freund ihn verderben will. Jens aber ringt den Schwächeren nieder und rettet ihn vor der Flut. An den Dünen erklärt er dem Freund, dass er die Absicht habe, die Insel zu verlassen und keine Ansprüche an Hanna stellen wird.
Titelblatt der 2. Auflage von Theodor Mügges Sylt-Roman. (Exemplar in Storms Bibliothek)
Die beiden Männer standen Brust an Brust zusammengepresst, alle Sehnen gespannt, alle Pulse pochend, wilde Todesangst in dem bleichen Gesicht des einen, grimmige Entschlossenheit in den Mienen des anderen, wie sie der Wächter hat, der den Wahnsinnigen zu überwältigen sucht, wohl wissend, dass er siegen muss, wenn er nicht sein eigenes Leben lassen will. Wie ein Verzweifelnder schlug Hilgen um sich, endlich stürzten sie beide nieder. Niemand hörte ihre Worte, niemand den letzten furchtbaren Schrei nach Hilfe, den Hilgen ausstieß, als er halb erstickt von Jens aufgehoben wurde. Leblos lag er in den Armen des Mannes, auf den sein letzter Blick mit unsäglichem Entsetzen fiel; aber ohne Zaudern nahm Lornsen den Körper auf seine Schulter, suchte nach der Rinne, die ihm allein die Richtung geben konnte, und als er sie gefunden hatte, sprang er hinein und trug Hilgen weiter mit ungeheurer Anstrengung.
Der Weg dünkte ihn unendlich lang, und mehr als einmal ergriff ihn der schreckliche Gedanke, dass er fehl gehe. Er stürzte in Löcher und hob sich mit Mühe wieder auf, immer darauf bedacht, Hilgens Leben zu erhalten. Das Wasser reichte weit über seinen Leib, hinter sich vernahm er den Schlag der Wellen, die in langen Linien heranrollten. Es war ihm, als hörte er in dem dichten Nebel ein entsetzliches Gelächter, Stimmen, die über ihm kreischend hinfuhren und deren Ton ihn durchschauerte. Er konnte kaum mehr feststehen auf den Füßen, kaum mehr vorwärts schreiten; seine Stirn bedeckte sich mit Schweiß, ein Zittern der Schwäche lief durch den starken Körper; er fühlte die Sichel der Vernichtung an seinem Haupt.
Soll ich so enden! rief er mit bitterer Heftigkeit. Wäre das mein Los und kein anderes Schicksal mir beschicken? – Es kann nicht sein, o Lina! Lina! wenn du mein Schutzgeist bist, so stehe mir bei!
Theodor Mügge: Der Voigt von Silt. Berlin 1858, S. 141.
Uwe Jens Lornsen (1793–1838). Lithografie nach einer Zeichnung von C. P. Hansen
Uwe Jens Jensen (1793-1838) war Sohn des Keitumer Kapitäns und Ratmanns Jürgen Jens Lornsen. Nach einem Studium der Rechte in Kiel war er als Kontorchef und Kanzleirat der Schleswig-Holstein-Lauenburgischen Kanzlei in Kopenhagen tätig und setzte sich in seiner Schrift „Über das Verfassungswerk in Schleswigholstein“ für eine Union zwischen der Herzogtümern und dem Königreich Dänemark ein. 1830 brach er wegen Meinungsverschiedenheiten mit dem Königshaus seine Karriere ab und wurde Landvogt auf Sylt. Nach wenigen Tagen Tätigkeit in der Tinnumer Landvogtei wurde er verhaftet und zu einer einjährigen Festungshaft verurteilt. Nach seiner Freilassung ging er ins Exil nach Rio de Janeiro, wo er das Buch „Die Unions-Verfassung Dänemarks und Schleswigholsteins“ schrieb. Er starb nach seiner Rückkehr nach Europa im Jahre 1838 durch Selbstmord am Genfer See.
Bei Hansen hatte Tiedemann gelesen, wie Lorens de Hahn die schöne Inge Ajen aus Tinnum rettet, als sie mit ihm zu Pferde durch das Wattenmeer reitet, stürzt und zu ertrinken droht. Er bringt sie nach Hause, pflegt sie gesund und hält um ihre Hand an. Bei einer schweren Sturmflut am Weihnachtsabend 1713 strandet ein Schiff westlichen der Insel bei Hörnum. Hansen verbindet in seiner Erzählung die Strandung und die Ermordung des Kapitäns sowie den Strandraub mit der Sage vom Dikjendälmann. Ein verwahrlostes Mädchen, das wahnsinnig am Strand herumirrt, wird Zeugin der Untat; Lorenz de Hahn findet die abgehauener Hand und den Leichnam. Der pflichtvergessene Landvogt verfolgt die Täter nicht, aber Lorens de Hahn vergrault sie von der Insel.
Auch Theodor Storm war zu diesem Zeitpunkt mit den Sagen von der Insel Sylt vertraut; er kannte sie bereits aus der Zeit seiner Sammeltätigkeit als Student und junger Rechtsanwalt in Husum, als er Märchen, Sagen, Lieder und Sprichwörter aus Schleswig-Holstein zusammentrug und dabei auch mit C. P. Hansen in Kontakt trat.
C. P. Hansen: Das Schleswig’sche Wattenmeer und die friesischen Inseln, S. 212
Neben dem „Dikjendälmann“ enthalten zwei weitere Sagen Hansens Motive, die Storm in den Entwurf zur „Sylter Novelle“ aufgenommen hat. Auch dies zeigt, dass der Dichter die Anregungen seines Freundes Tiedemann bei der Niederschrift im Pollacsek‘schen Hause erheblich erweitert haben muss. Aus dem Text über Niß Ipsen stammen Anregungen zu den Motiven Liebe, Verlassen der Geliebten und verweigerte Trauung. Das Motiv des wahnsinnigen Frauenzimmer, das in den Dünen spukt, wurde der Sage P. C. Lund und Maiken Peter Ohm entnommen.
Niß Ipsen
Von Niß Ipsen aus der Wiedingharde oder dem Admiral Nil de Bombell in Holland.
Der berühmte niederländische Admiral Niß de Bombell oder, wie er eigentlich hieß, Niß Ipsen – war in der Wiedingharde von armen Eltern geboren. Er diente, als er erwachsen war, als Knecht bei dem derzeitigen Hofbesitzer (wahrscheinlich Johann Hinrich Heyßinger) auf Bombüll in dem Kirchspiel Klanxbüll und zwar zu einer Zeit, als schwedische Truppen (wahrscheinlich unter Steenbock um 1713) ins Land gefallen waren. Auf dem Hofe Bombüll diente zu gleicher Zeit ein Mädchen Namens Grethe, welches sich nicht bloß durch Schönheit sondern mehr noch durch Fleiß, Treue und Sanftmut auszeichnete und die Liebe des tüchtigen Niß Ipsen gewann. Er warb um das Herz und die Hand der Jungfrau und erhielt die aufrichtigsten Versicherungen ihrer Liebe. Doch nur zu bald trat eine Störung ihres beiderseitigen Glückes ein. Ein in der Gegend des Hofes einquartierter schwedischer Offizier verliebte sich ebenfalls in das Mädchen, suchte jedoch, da seine Liebe von unedler Art war, das unschuldige Landmädchen zu verführen. Bei einem solchen Unternehmen des Offiziers ertappte ihn einst Niß Ipsen. Da entbrannte der redlich liebende Friese in seinem Zorn, sprang durch das Fenster in die Kammer seiner Braut und erstach den Schweden. Um seines Lebens sicher zu sein, musste er aber sofort nach geschehener Tat flüchten. Er lief zuerst nach Hamburg; als er aber auch hier sich nicht sicher glaubte, ging er nach Amsterdam. In dieser Stadt angekommen, entging der unerfahrene Landmann nur mit genauer Not den Schlingen der Seelenverkäufer. Er flüchtete endlich auf das Schiff eines holländischen Ostindienfahrers und trat als freiwilliger seine erste Seereise an. Er machte als Matrose mehrere Reisen nach Ostindien, erwarb sich bald viele Kenntnisse vom Seewesen, zeichnete sich in mehreren Seegefechten aus und erschlug persönlich einen sehr gefürchteten Seeräuber der damaligen Zeit ‒ der Sage nach den großen Morgan, den gefährlichsten der Flibustiere. – Nach solchen Taten stieg Niß Ipsen von Stufe zu Stufe; er wurde zum Kapitän eines Kriegsschiffes und endlich zum Admiral in holländischen Diensten befördert. Als er Admiral geworden war, schrieb er an seine trauernde, daheim gelassene, ihm jedoch noch immer treu gebliebene Braut, forderte sie auf, zu ihm nach Holland zu kommen und sich mit ihm ehelich zu verbinden, sandte auch zugleich ein Fahrzeug zu ihrer Abholung mit. Nach langem Suchen fand man die Braut des Admirals als Dienstmagd m dem Dorfe Emmerlef. Sie folgte dem Rufe ihres Geliebten, reiste nach dem Haag und wurde die glückliche Gattin des Admirals Niß de Bombell, wie er sich nach seinem Geburtsorte hatte nennen lassen.
C. P. Hansen, Die Friesen, Szenen ans dem Leben, den Kämpfen und Leiden der Friesen, besonders der Nordfriesen, S. 143-145.
P. C. Lund und Maiken Peter Ohm
In dem folgenden minder strengen Winter, im Januar 1815, kehrten ebenfalls mehrere, lange abwesend gewesene Seefahrer und Krieger über das Eis nach den Inseln zurück. Unter ändern ein alter Seefahrer der Insel Sylt, Namens Paul Cornelsen Lund, der in seiner Jugend allerlei Liebesabenteuer mit mehreren Mädchen auf seiner Heimatinsel gehabt, auch mindestens einem die Ehe versprochen hatte. Er hatte später fast alle Meere der Erde durchschifft, hatte viele Erfahrungen gemacht, viele Länder und Seestädte besucht, war auf manche seltsame Wege und Abwege geraten, soll in seinem Unmut oder Übermut sogar einst geschworen haben, seine Heimatinsel nie wieder betreten zu wollen. Die von ihm schmählich verlassene Braut daheim war unterdes schwermütig geworden, wahrscheinlich in Folge seines steten Wegbleibens. Gleichwohl war er durch vielfältiges Missgeschick nach 22jähriger Abwesenheit in seinen alten Tagen genötigt worden, die Heimat nochmals aufzusuchen und dort seine Zuflucht zu nehmen. Jedoch nach einem langen, erschöpfenden Marsche im Januar 1815 auf dem Eise über die Watten und Wattströme, die ihn nur noch von seiner Insel schieden, blieb er einige hundert Schritte außerhalb der Ostspitze Sylts ermattet und erfroren auf dem Eise liegen, ohne die Heimat erreichen zu können, so dass sein Schwur dennoch zur Wahrheit wurde. Lange Jahre nach seinem Tode wanderte ein altes, wahnsinniges Frauenzimmer noch alle Morgen nach der Landvogtei auf Sylt, um dort Erkundigungen über ihren einstmaligen Geliebten, Paul Cornelsen Lund, einzuholen, dessen Rückkehr die arme Verlassene noch immer erwartete. Erst im September 1832 wurde diese Unglückliche durch den Tod von ihren geistigen und körperlichen Leiden erlöset. Der Name dieser merkwürdigen Dulderin war Maiken Peter Ohm.
C. P. Hansen: Das Schleswig'sche Wattenmeer und die friesischen Inseln. Glogau 1865, S. 235 f.
Karl Ernst Laage führt zur geplanten Novellenhandlung aus: „ Dieser Novellenschluss ist so grausam und niederdrückend wie in kaum einer anderen Novelle des Dichters: Der Großvater erschlägt seinen eigenen Enkel; die Geliebte kann ihn nicht retten; sie verliert darüber den Verstand: ‚Eine irrsinnige Frau geht in den Dünen um‘.
Auch die Gegensätze, die der Dichter aufeinander prallen lässt, sind in der „Sylter Novelle“ noch größer als in anderen Storm-Novellen. Die beiden Hauptpersonen sind von Storm ‒ wie es scheint ‒ so konträr gezeichnet wie nur möglich: Lars ist das uneheliche Kind einer Sylterin, die von einem dänischen See-Offizier, einem Angehörigen der ‚Besatzungsmacht‘, verführt worden und dann im Wochenbett gestorben ist. Ihr Sohn Lars wird aufgezogen von einem Großvater, der einem verbotenem ‚Gewerbe‘ nachgeht, dem Strandraub, und der seinen Enkel ‚im Haß gegen Militair und Gesetz‘ erzieht. ‚Fritze‘, Friederica, das Mädchen, das Lars liebt, ist die Tochter des vom dänischen König eingesetzten Landvogts, also ausgerechnet eine Angehörige der verhassten Obrigkeit!
Zwei starke, schöne junge Menschen aus konträren Gesellschaftsschichten, die einander ähnlich und füreinander geschaffen sind, begegnen sich, verlieben sich, aber gehen an der Welt, in die sie hineingeboren sind, zu Grunde: Er wird vom eigenen Großvater erschlagen, sie wird wahnsinnig.
Hier zeigt sich eine Verdüsterung der Stormschen Lebensanschauung, die auch sonst festgestellt worden ist und für Storms letzte Schaffensperiode charakteristisch erscheint. Es gibt für den späten Storm offenbar keinen Ausweg aus den von den Menschen konstruierten Gegensätzen. Oder sollte der betont grausame Schluss der ‚Sylter Novelle‘ zum Umdenken aufrufen? Will der Dichter die Frage provozieren, ob es nicht doch Gemeinsamkeiten und Tröstliches gibt, ob es zwischen Menschen unterschiedlichster Herkunft und Erziehung nicht doch etwas gibt, das sie verbindet, über alle gesellschaft¬lichen und staatlichen Grenzen hinweg: die Liebe, das Gefühl, zusammen zu gehören, von gleicher Art, von gleicher Natur; Leidenschaft und Stärke zu sein? Nur die Obrigkeitsverhältnisse, die sozialen Verhältnisse, das scheint Storms Novellenentwurf zu fordern, müssen geändert werden!“ (Karl Ernst Laage; Theodor Storms „Sylter Novelle“. Erläuterungen zu einem fragmentarischen Novellenentwurf. In: Theodor Storm. Neue Dokumente, neue Perspektiven mit 35 unveröffentlichten Briefen. Berlin 2007 (Husumer Beiträge zur Storm-Forschung 6) , S. 110f.)
Öffentliche Gaststätte im Lornsenhain. Foto aus dem Besitz der Storm-Familie
Der Lornsenhain wurde Anfang des 19. Jahrhunderts von dem Keitumer Kapitän Jürgen Jens Lornsen auf der Heide zwischen Westerland und Munkmarsch gepflanzt, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, auf der fast baumlosen Insel einen Forst anzulegen. Von seinen Mitbürgern belächelt, begann der Vater von Uwe Jens Lornsen auf einer Fläche von zwei Hektar, die er „Die Probe“ nannte, verschiedene Baumarten anzusiedeln. Neben Nadelgehölzen wie Kiefern, Tannen und Lärchen wachsen dort bis heute auch Eichen, Buchen, Birken, Silberpappeln oder Ahorn. Der Hain liegt auf dem Gelände des Sylter Flughafens und ist für die Öffentlichkeit nicht zugänglich.
Ein Besuch Storms in diesem Gasthaus wird zwar in keinem Brief und auch nicht in Storms Tagebuch erwähnt, ist aber wahrscheinlich; Storm war mit der Gestalt des Friesischen Freiheitskämpfers und seiner Lebensgeschichte nicht nur aus der romanhaften Darstellung von Theodor Mügge vertraut, er hatte in den 1840er Jahren auch dessen Flugschrift „Über das Verfassungswerk in Schleswigholstein“ gelesen, als er sich für den schleswig-holsteinischen Unabhängigkeitskampf in seiner Vaterstadt Husum engagierte.
Theodor Storm hat nach seiner Rückkehr von der Insel den Stoff zur „Sylter Novelle“ nicht weiter ausgeführt, da die Arbeiten am „Schimmelreiter“ und an seinen autobiographischen Aufzeichnungen „Aus der Jugendzeit“ ihn daran hinderten. Nach Abschluss des „Schimmelreiter“-Manuskripts griff er Mitte Februar 1888 zu einem anderen Stoff und sammelte Informationen für seinen Novellenplan „Die Armsünder-Glocke“. Als aber die aufwändigen Korrekturen für die Buchausgabe des „Schimmelreiters“ im Juni 1888 beendet waren, hatte der Dichter keine Kraft mehr, an weiteren literarischen Projekten zu arbeiten. Er starb am 4. Juli 1888 an Magenkrebs.