„Menschenfleisch in der Nase“

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Mein Lieblingsmärchen ist „Sechse kommen durch die ganze Welt“. Das las ich immer wieder in dem Buch, das meine Eltern mir 1955 zum Geburtstag geschenkt hatten: Brüder Grimm. Kinder und Hausmärchen. Ich mochte auch einige der anderen Märchen in diesem Buch, z. B. „Das tapfere Schneiderlein“, „Hänsel und Gretel“, „Rotkäppchen“ und so weiter. Aber die „Sechse“ blieben lange Zeit mein meistgelesenes Märchen. Das änderte sich erst zwanzig Jahre später. Und das kam so:

Als ich unseren Sohn für alt genug hielt, fing ich an, ihm jeden Abend beim Zubettgehen eine Geschichte vorzulesen. Ich suchte mein altes Märchenbuch heraus und begann mit „Das tapfere Schneiderlein“. Am nächsten Abend kam „Der gestiefelte Kater“ dran, dann „Der Froschkönig“ usw.

Unser Sohn hörte geduldig zu, sagte nichts und schlief meist nach der Lesestunde ein. Das ging so, bis ich zum 26. Märchen der Sammlung gekommen und „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“ dran war.

Zunächst war es wie immer; ich las vor, das Kind hörte zu, sagte nichts und schlief ein. Am nächsten Abend aber, als ich „Die kluge Else“ ankündigte, sagte er: „Teufel mit den Haaren!“ Ich fragte ihn nicht, warum, sondern las das Märchen noch einmal vor. Am nächsten Abend geschah genau das gleiche und dann wieder und wieder.

Bald konnte ich den Text auswendig:

Eine arme Frau bringt einen Sohn mit Glückshaut zur Welt. Diese soll in seinem weiteren Leben dafür sorgen, dass alles, was er anfängt, sich zum Guten wenden wird. Ihm wird geweissagt, er werde im Alter von 14 Jahren die Königstochter heiraten. Der König aber kauft den armen Leuten ihr Kind ab, legt es in eine Schachtel und wirft sie ins Wasser. Sie geht jedoch nicht unter, sondern treibt zu einer Mühle, wo das Kind – wie weiland Mose – von den Müllersleuten aufgenommen und in Liebe aufgezogen wird. Als der König vierzehn Jahre später in die Mühle kommt und die Geschichte hört, schickt er den Jüngling mit einem Brief zur Königin mit dem Befehl, man solle ihn sofort töten. Auf dem Weg zur Königin übernachtet der junge Mann im Wald bei Räubern. Diese lesen den Brief, vertauschen ihn aus Mitleid, so dass er mit der Königstochter vermählt wird. Doch der König fordert von ihm die drei goldenen Haare des Teufels.

Unterwegs zur Hölle fragen zwei Torwächter den Jüngling, warum ein Brunnen austrocknet, aus dem sonst Wein quoll, warum ein Baum verdorrt, der sonst Goldäpfel trug, und ein Fährmann, warum ihn keiner ablöst. In der Hölle versteckt ihn des Teufels Großmutter als Ameise in ihren Rockfalten. Sie reißt dem schlafenden Teufel dreimal ein Haar aus und sagt, sie habe von dem Brunnen, dem Baum und dem Fährmann geträumt. Der Teufel erläutert der Großmutter jeweils, wie das Problem zu lösen ist. So erhält das Glückskind die Haare, gibt dem Fährmann des Teufels Rat weiter, dem nächsten die Ruderstange zu geben, und lässt die Kröte im Brunnen und die Maus in der Baumwurzel töten, wofür er je zwei Esel mit Gold bekommt.

Dem gierigen König sagt das Glückskind, das Gold liege wie Sand am anderen Ufer. Als sich der König aus Geiz dorthin begibt und vom Fährmann begehrt, er solle ihn ans andere Ufer rudern, übergibt ihm der Fährmann nach der Überfahrt die Stange, auf dass er nun zur Strafe ewig fahren muss.

Einmal aber, es muss nach mehreren Monaten gewesen sein, unterbrach das Kind mich an der Stelle, wo der Teufel nach Hause kommt. In der für die Jugend ausgewählten und neu bearbeiteten Ausgabe las ich: „Kaum war er eingetreten, merkte er, dass die Luft nicht rein war. ‚Ich rieche, rieche Menschenfleisch‘, sagte er, ‚es ist hier nicht richtig.‘ Dann guckte er in alle Ecken und suchte, konnte aber nichts finden.“

Unser Sohn unterbrach mich: „Immer hast du Menschenfleisch in der Nase“ und wollte nicht, dass ich weiterlas. Ich fragte ihn, ob er ein anderes Märchen hören wollte, aber er sagte: „Teufel mit den Haaren!“ So ging das Ritual den nächsten Abend weiter und danach noch ein paar Monate.

Irgendwann schlug ich ihm vor, eine tolle Geschichte vorzulesen von einem Jim Knopf und von Lukas, dem Lokomotivführer. Er stimmte zu, die Märchenzeit war vorbei, und ich las ihm die beiden Bücher von Michael Ende Kapitel für Kapitel vor.

 

Erst Jahre später wurde mir klar, warum ich damals mehr als ein halbes Jahr jeden Abend dasselbe Märchen vorlesen musste.

Unser Sohn erzählte, dass er im Chemieunterricht eine schlechte Note bekommen hatte, weil er mit Gerüchen nichts anzufangen wusste. Er zeigte mir sein Chemiebuch und ich las: „Der Geruchssinn (olfaktorische Wahrnehmung) ist der „direkteste“ menschliche Sinn. Man unterschiedet verschiedene Geruchsklassen: 1. blumig (z.B. Rosen), 2. minzig (z.B. Pfefferminz)., 3. ätherisch (z.B. Fleckputzmittel, Birnen), moschusartig (z. B. Moschus), 5. campherartig (z.B. Mottenkugeln), 6. faulig (faule Eier – H2S), 7. schweißig (z. B. Schweiß, ranzige Butter), 8. stechend (z.B. Essig).“

Sie hätten im Unterricht Stoffeigenschaften bestimmt und dabei Geruchsproben vorgenommen. Er habe aber nichts wahrgenommen, keine Unterschiede, nur manchmal ein scharfes Gefühl in der Nase gehabt. Der Lehrer habe ihm nicht geglaubt, dass er nicht riechen könne.

Mir fiel schlagartig ein, dass unser Sohn ein schwieriger Esser gewesen ist, immer die gleichen Speisen verlangt und – er litt als Kleinkind häufig an Bronchitis – selbst die bitterste Medizin freiwillig geschluckt hatte und gern kräftig gewürzte Speisen bevorzugt. Wir wussten, dass er süß, sauer, salzig, bitter und – wie es heute heißt – umami unterscheiden konnte, den vollmundigen Geschmack, wie er typisch für Fleisch, Käse oder Pilze ist.

Ich ging mit ihn zum Arzt, der feststellte, dass mit seinem Riechkolben im Vorderhirn etwas nicht in Ordnung war.

Die Arzthelferin führte ihn in ein Behandlungszimmer, ich stand einige Meter hinter ihm an der Wand. Um den Geruchssinn zu testen, gibt es verschiedene so genannte Sniffin‘ Sticks. Das sind Textmarker-große Stifte, die Gerüche abgeben, nach Fisch, Kaffee, Zwiebeln oder Leder.

Die Helferin hielt ihm einen nach dem anderen unter die Nase und notierte seine Reaktionen. Er sagte ihr, dass er das Gefühl habe, die Luft sei bei diesem etwas kälter, beim nächsten wärmer. Den fünften oder sechsten Stift hielt sie ihm länger direkt unter die Nase und sagte mit angespanntem Gesicht: „Du musst schon ordentlich Luft holen!“ Er holte hörbar Luft, sog den vermeintlichen Geruch tief ein und verzog keine Miene. Er nahm nichts wahr. Keine Veränderung, kein Kribbeln, nichts. Ich aber hielt mir wegen des fauligen Fisch-Geruchs die Hand vor Mund und Nase.

Bei unserem Sohn hat sich dieser Riechkolben nie richtig entwickelt. Daher kam es zu einer so genannten Anosmie, dem völligen Verlust des Geruchssinns. Angeborene Anosmie ist eine Erkrankung, bei der Menschen mit einer lebenslangen Unfähigkeit zu riechen geboren werden. Nicht riechen zu können, kann einen großen Einfluss auf das Leben eines Menschen haben, sowohl in praktischer als auch emotionaler Hinsicht. Kein Duft, nirgends: Kein Kaffee am Morgen, kein frisch gemähter Rasen und auch kein Stechen in der Nase, wenn jemand alte Autoreifen auf seinem Feld verbrennt. Keine Fäkalien und auch die eigenen Körpergerüche nicht.

Da wusste ich, warum ich „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“ immer wieder vorlesen musste. Weil unser Sohn nicht wusste, was riechen bedeutet, konnte er auch nicht begreifen, was des Teufels Großmutter mit der Metapher meint, mit der sie ihren Sohn zurechtweist: „Immer hast du Menschenfleisch in der Nase“. Das Problem hat ihn mehr als ein halbes Jahr beschäftigt und ich habe davon nichts mitgekriegt.

 

 

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