Amerika roch nach Apfelsinen
Die ersten Apfelsinen meines Lebens bevölkerten einen Pappkarton, der an einem verschneiten Dezembertag bei uns ankam. Mein Vater stürmte damit lärmend in den Hausflur: „Kuckt mål, was ich hier habe!“ Er knallte die Haustür hinter sich zu, rief „Is'n Care-Paket! Is'n Care-Paket!“ und stemmte das schwere Ding die enge Holztreppe zu unserer kleinen Wohnung hoch. Meine Mutti stand oben auf dem Treppenabsatz und guckte sprachlos auf das, was sich da im Dämmerlicht unseres Hausflurs abspielte.
Ich kauerte neben ihr und drückte mein Gesicht neugierig zwischen die runden Pfosten des Geländers, von wo aus ich alles übersehen konnte. Ich hörte das Schnaufen meines Vaters und sah, wie er mit gerötetem Gesicht und abstehenden Ohren die steilen Holzstufen herauf polterte.
Von unten keifte meiner Oma aus der offenen Küchentür heraus: „Jünter!, zieh dir doch man die dreckijen Schuhe aus! Immer rennste durch'n Hausflur. Habe doch jerade frisch jeputzt! Und alles voll von Kohledreck. Die Piepers streun doch nich mit Asche, die neh'm immer den Dreck von die billije Braunkohle!“ Dann sah ich, wie er den Kopf einzog, damit er mit seiner Birne nicht an den Querbalken stieß.
Mein Vater verlangsamte seine Schritte, kam aus dem Tritt, stolperte, bollerte mit seinen Schuhen zwei Stufen höher und musste sich mit dem verschnürten Pappkarton auf der oberen Treppenstufe abstützen; er holte dreimal tief Luft und wuchtete das Paket auf den Treppenabsatz, schnaufte noch einmal und richtete sich langsam auf. Dann drehte er sich wortlos um und stakste mit steifen Beinen die Treppe wieder runter, klappte vor dem Querbalken den Kopf nach vorn ab und gelangte in den unteren Flur.
Ich wusste, dass er sich jetzt umständlich die langen Schnürsenkel aufknüpfte, seine dreckigen Schuhe auszog und sie auf den feuchten Scheuerlappen stellte, den meine Oma neben der Küchentür auf den gefliesten Boden des Hausflurs ausgebreitet hatte. Dann schlüpfte er in seine gelbkarierten Hausschuhe, die an der Garderobe standen, und stürmte die Treppe wieder zu uns herauf, während ich immer noch den Kopf zwischen den Gitterstreben, meine Oma dabei beobachtete, wie sie sich bückte und mit ihren Spinnenfingern die Schnürsenkel ordentlich in den Schuhen meines Vaters verstaute.
Auf der vierten Stufe schrammte er mit seinem Kopf unter dem Querbalken durch, schrie „Aua!“, rieb sich kräftig mit der Hand über die Platte, und meine Mutti sagte: „Kucke doch hin, Jünter!“
„Is' von meine Mutti aus New York!“ rief er stolz und rieb sich die angeschrammte Birne. „Is'n Care-Paket, aber nich so'n Null-acht-fuffzehn-Ding wie all die andern, sondern eens, wasse selber jepackt hat!“ Er nahm den Karton an die Brust und drückte sich damit an mir und meiner Mutti vorbei in unsere Küche. Die folgten ihm, und auch meine Oma war die Treppe hoch gehumpelt und half mir, meinen Kopf zwischen den Gitterstäben zurückzuziehen, was meine Ohren hartnäckig – aber schließlich durch den energischen Zugriff ihrer knöchernen Hände vergeblich – verhindern wollten.
Die kleine Küche, die sich zwischen den oberen Hausflur und das Schlafzimmer meiner Eltern zwängte, hatte ein Fenster zum Hof, aus dem ich oft beobachtet hatte, wie der alte Helmecke zum Kacken aufs Klo ging. Als ich das meiner Mutti erzählte, schlug sie mir auf die Finger und herrschte mich an: „Sowat sacht man nich!“ Meine Mutti sagte zu mir immer, wenn ich mal kacken musste: „Jeh mal aufs Häuschen und mach n' Berch!“ Aber „pinkeln“ durfte ich sagen, denn alle Männer gingen zum Pinkeln an den Misthaufen, aus dem die Jauche von Trenklers Schwein bis in unsere Küche stank. Und mein Vater hatte mir gezeigt, wie man sich an die Scheunenwand stellte und im Stehen pinkelt.
Als der Karton auf dem Küchentisch lag, durften wir drei meiner Oma beim Auspacken helfen. Ich schaute mir das Paket genauer an und staunte über seine Größe. Da kamen mir Zweifel an der Behauptung meines Vaters. „Die Leute bei die Post ham' es jründlich nach verbotene Sachen untersucht“, denn die Schnüre waren fest und sorgfältig durch mehrere Knoten gesichert. Zunächst zurrte mein Vater ungeduldig an der Verpackung, wollte schon mit einem Messer den Bindfaden durchschneiden, aber meine Oma hinderte ihn daran: „Lass ma janz, Jünter! Son juten Bindfaden kriejen wir in die Zone doch nicht!“. Da ließ er meine Oma die Knoten mit ihren spitzen Fingern aufknibbeln und öffnete dann eigenhändig den festen Karton.
Er hob einige Blechdosen und einen kleineren Karton heraus, von dem meine Oma mit geübtem Griff ein großer Bogen Packpapier abgestreift und danach wieder eine Schnur abknotete. Dies alles nahm sie sofort an sich, um Knoten und Schlingen geschickt aufzuknüpfen, die Schnüre aufzurollen, das Papier sorgfältig zusammenzufalten und glattzustreichen.
Während dessen fischte mein Vater weitere Dosen und Schachteln aus der Tiefe des Pakets, was bei meiner Mutti spitze Schreie der Begeisterung auslösten: „Gucke må, Jünter, feine Seife! Gucke må, Jünter, Nylonstrümpfe! Gucke må, Jünter, echter Kaffee!“ Sie steigerten sich mit zunehmender Fülle der Sachen, die mein Vater auf dem Tisch stapelte, immer mehr zu Lustschreien: „Kucke må, Jünter! Kucke må, Jünter! Jünter! Jünter! Jünter!“ Ihre Augen wurden immer größer und ihr Gesicht lief puterrot an. Nur meine Oma ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, legte nur ihren Kopf zur Seite, schielte wie eines ihrer Hühner mit nur einem Auge von schräg oben auf den Tisch und sagte „Sieh mal an!“, und sie stellte alles sorgfältig zur Seite.
Heute frage ich mich, was alles darin gewesen sein mochte. Damals kommentierte mein Vater jedes einzelne Objekt, und ein gelegentliches Echo meiner Mutti bestätigte seine Erkenntnisse. Ich erinnere mich an Rindfleisch in Dosen („Wurscht, keene Elsardinen!“), Leberwurst („Bah, essichnich!“), Corned Beef, Frühstücksfleisch, Speck („Is der fett, Mann!“), Margarine, Honig („Ham wer doch selber!“), Vollmilch-Pulver, Eipulver („Die Eier vonne Hühner sind frischer!“), Kaffee, Kakao, Margarine, Schmalz („Pottsuse schmeckt besser!“), Zucker, Rosinen („Ảrbsen essich nich jerne, die kullern mich immer vons Messer! Ha, ha, ha!“), Zigaretten („Issen Kamel druff!“), Strümpfe („Kucke må, Jünter! Kucke må, Jünter!“) und Seife („Kucke må, Jünter! Kucke må, Jünter! Jünter! Jünter! Jünter!“), an einen Pullover mit einem Lasso schwingenden Cowboy („Her damit, isfürmich!“). Und alles war sorgfältig in Zeitungspapier gewickelt.
Seltsame Zeitungen waren das, deren bräunliche Bilder sofort mein Interesse weckten, nachdem meine Oma auch sie mit ihren Händen glatt gestrichen und wieder richtig zusammengelegt hatte. Ich sah braune Fotos, die uns eine unbekannte Welt zeigten; Bilder von hohen Häusern, die meine Oma „Wolkenkratzer“ nannte, und Straßenschluchten, durch die Autos krochen. Und mein Vater sagte: „Sind von New York. In so 'nem Haus wohnt deine Oma!“ Dann waren da noch fünf dicke Zitronen, die nach nichts rochen und mit denen ich nichts anfangen konnte.
Viel mehr interessierten mich die bunten Bilder, die in einem Briefumschlag steckten, der sich vergeblich zwischen den größeren und kleineren Sachen versteckt hatte. Die zerrte mein Vater heraus und gab sie mir. Sie zeigten kleine Mädchen, die sich über Zitronen freuten. Zu einer der beiden, die einen Zweig hochhielt, an dem Zitronen hingen, ergriff mich eine fantastische Neigung, weil sie mich von der Seite her so verlockend ansah: Die hätte ich gerne zur Schwester gehabt! Wie sie dastand mit ihrer kurzen weißen Hose und ihren weißen Turnschuhen! Ja, so ein Schwesterchen hätte ich gerne gehabt!
Die andere in ihrem Hängekleidchen konnte ich nur bedauern, denn die musste bestimmt aus dem großen Glas trinken, an das sie sich so lässig lehnte. Als meine Mutti nämlich ein paar Tage später eine Zitrone durchschnitt und mich daran lecken ließ, durchschüttelte mich ein großer Widerwille: „Pfui bah, sauer!“ Ich konnte nicht glauben, dass Kinder in Amerika Zitronensaft trinken mussten und dann auch noch mit Eisstücken, wie wir sie gelegentlich aufsammelten, wenn der Pferdewagen von der Magdeburger Brauerei mit Eisblöcken vor Kalles Eisdiele am Eichplatz hielt. Dann schleppte ein Mann in einer dicken Jacke und einem Sack als Kapuze über Kopf und Nacken zwei der tropfenden Eisstangen in die olle Bude. Wenn wir an den runter gefallenen Brocken leckten, schmeckte es nach gar nichts.
Was mich am meisten interessierte, waren zehn braune, längliche Tafeln, auf denen „Hershey's Milk Chocolate“ stand, wie mir meine Mutter vorlas. Obwohl ich noch nicht eingeschult war, kann ich mich daran erinnern, dass ich noch Wochen später, wenn ich mir von meiner Mutti eine halbe Tafel erbettelt hatte, „Hershey's mit Schokolade“ las. Das süße Zeug schmolz langsam in meinem Mund und schmeckte herrlich. Leider waren die Schokoladenstücke immer schnell alle, und sie schmeckte nach mehr.
Und die Apfelsinen. Die runden, festen Apfelsinen, die ich schon gerochen hatte, bevor mein Vater sie aus dem Karton herauskullerte, den er zunächst wie achtlos zur Seite gestellt hatte, und die jede für sich in bunt bedrucktes Papier eingewickelt waren. Meine Oma wickelte sie aus, legte sie vorsichtig auf den Tisch und ich durfte mit ihr zusammen zählen: eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, elf, − „wie ville dat sind!“ − zwölf, dreizehn und vierzehn. Davon bekam jeder von uns eine, die man zunächst schälen musste und dann essen durfte. Meine schälte mir meine Oma; die Spalten schmeckten süß, nur die Kerne waren so bitter, dass ich sie wieder ausspuckte. Dann legte meine Oma zehn in den inzwischen leeren Karton zurück, der von meinem Vater („Her damit!“) auf den hohen Schrank gehievt wurde („Und dass de mir ja nich dran jehst!“), von wo aus sie bis zum Weihnachtsfest ihren charkateristischen Duft ausströmten und mir verrieten, dass es da zum Fest noch etwas Besonderes geben sollte.
Der Briefumschlag, aus dem mein Vater die bunten Mädchenbilder gefischt hatte, enthielt auch eine Fotografie, die er mir mit der Erklärung zeigte, das sei meine andere Oma. Ich sah eine ältere, dickliche Frau, die vor einem Wohnzimmerschrank stand und irgendwen seltsam fremd anstarrte. Dann deutete er auf eines der frisch geglätteten Zeitungsblätter: „In sonem Wolkenkratzer bei Riverzeit Dreif hat se ne schicke Wohnung! Wo mein Vati jetze wohnt, weeß ich nich. Guck' se dir an. Das is deine Oma in Amerika!“
Das war gar nicht so einfach zu begreifen, denn ich hatte bereits zwei Omas, also genug für jedes Kind der Welt, und meine Omas kannte ich gut. Die zweite wohnte mit ihrem Mann in Sudenburg und beide wurden daher − zur Unterscheidung der Oma und des Opas, in deren Haus wir lebten − Oma und Opa Sudenburg genannt. Soweit war das alles in Ordnung, aber nun hatte ich ein Problem. Plötzlich bekam ich noch zwei Großeltern dazu, hatte also jetzt: One, two, three, four. – Can I have a little more? – fünf, sechs, und zwei davon lebten jenseits eines großen Teichs, wie mein Vater mir sagte.
Unser Dorfteich, in dem die Stichlinge lebten, war ganz klein und ich brauchte nur eine Minute, um einmal herum zu sausen, aber ich kannte auch einen großen Teich, der war in Klein-Bördeleben, wohin wir gelegentlich gingen, wenn meine Mutti mit mir die Rüschs in ihrem Gartenrestaurant besuchten, wo ich immer ein Glas Brause bekam. Bei der nächsten Stippvisite versuchte ich mein Glück, denn ich konnte um den großen Teich in geschätzten drei Minuten einmal herum laufen. Eine Uhr, um das zu überprüfen, hatte ich noch nicht. Ich lief sicherheitshalber sogar zweimal rund herum, an dem großen Weidenbaum vorbei, an der Pappel-Allee und an dem Häuschen der Bushaltestelle und dann noch ein drittes Mal, aber Amerika fand ich damals nicht.
Heute glaube ich nicht mehr, dass meine Eltern mir die Sache gleich nach dem Auspacken erzählt haben; erst nach und nach verstand ich die komplizierten Verhältnisse. Mein Vater, so erfuhr ich, war gar nicht von seinen Eltern großgezogen worden, sondern von seinen Großeltern und deshalb waren meine Oma Sudenburg und mein Opa Sudenburg eigentlich seine Oma und sein Opa. Die Eltern meines Vaters aber lebten in Amerika. Amerika war ein großes Land am anderen Ende der Welt, viel zu weit, um hinzulaufen oder mit dem Fahrrad hinzufahren. Noch viel weiter weg als Indien und China. Und da war auch noch dieser wirklich große Teich, über dem man mit einem Ozean-Dampfer fahren musste, und das dauerte mindestens zwei Wochen!
Eigentlich war mir das alles egal, denn Omas und Opas waren für mich alte Leute, nicht ganz so alt, wie die Greise und Greisinnen, die mich immer anglotzten, wenn wir nach Sudenburg fuhren und an dem Feierabendheim vorbei gingen. Da streckten sie − die meisten waren Frauen − ihre weißen Köpfe aus den Fenstern hielten und nach dem Tod Ausschau. Die sahen viel älter aus als meine junge Mutti, der alle Männer schöne Augen machten.
Und warum leben die Oma und der Opa in Amerika und wie sind sie dort hingekommen? − Das gehörte zu dem schwer begreiflichen Schicksal, das offenbar allen Männern zugestoßen war, die ich damals kannte. Das war vor der Zeit, in der ich zur Welt gekommen war, und wurde Krieg und Nachkriegszeit genannt. Was wusste ich damals davon? − Krieg, das war das, was die Männer erlebt hatten, nur ich nicht, und der Krieg war ganz, ganz schlimm. Meinem Onkel hatte er die linke Pobacke geteilt, als er in Russland mit seiner Haubitze so sorgfältig für Ordnung sorgte, dass irgendein Adolf ihm dafür das Ritterkreuz verliehen hat.
Als ich es mal sehen wollte, beteuerte er mir, er habe es auf den Misthaufen geschmissen, als die Russen '45 seinen Vater abholten und ihn nach Buchenwald brachten. Warum mein Opa in diesem Buchenwald hungern musste und so verprügelt wurde, dass ihm die Zähne aus dem Mund flogen, erfuhr ich damals nicht. Er jedenfalls sagte, dass der Lagerkommandant ein Jude war, der sich an ihm rächen wollte. „Und dabei is dein Opa doch son juter Mensch und hat unser Dorf auf Vordermann jebracht und überall Jrünzeuch anpflanzen lassen; åber seit die Kommunissen ihn rausjeschmissen håbn, verkommt doch hier alles in de Zone!“
Erst sehr viel später fand ich heraus, dass er Ende August 1945 verhaftet und ohne Gerichtsurteil ins Konzentrationslager Buchenwald eingeliefert worden war.
Das Speziallager Nr. 2 galt als sogenanntes Schweigelager, d. h. es war von der Außenwelt völlig isoliert. Hier starben offiziellen sowjetischen Dokumenten zufolge von den zwischen 1945 und 1950 Inhaftierten 28.455 Männer und Frauen mehr als 7.000 Häftlinge. Sie wurden in Massengräbern verscharrt.
Mein Großvater überlebte und wurde 1948 nach Hause entlassen, wo er zu seiner Überraschung einen zweijährigen Enkel vorfand.
Meinem Vater hatte der Krieg ein Stück aus dem rechten Unterarm herausgerissen, als er sich Monte Casino näherte, wofür ihm ein Fallschirmjägergeneral (das betonte er immer wieder: „War en richtijer Jeneral!“) ein Verwundetenabzeichen angehängt hatte. Nur mein Opa Sudenburg war heil geblieben, weil er zu alt für den Krieg gewesen war. − Was hatte das aber mit meiner Oma und meinem Opa in Amerika zu tun?
Eigentlich gar nichts, aber mein armer Vater hatte nicht nur das Schicksal erlitten, in den Krieg ziehen zu müssen, sondern auch noch, von seiner Mutter bei seinen Großeltern vergessen worden zu sein. Und das erzählte mir meine Mutti so: Nachdem Deutschland den Ersten Weltkrieg verloren hatte, ging es den meisten Menschen so schlecht, dass die Eltern meines Vaters riefen: „Amerika, du hast es besser!“ Darum reisten sie über den großen Teich nach Amerika, um nie wieder zurück zu kommen.
Dann zeigte sie mir ein paar Fotos von Oma und Opa aus Amerika, auf denen sie noch jung und schön aussahen, nicht so alt wie Opa und Oma Sudenburg, sondern so jung wie meine Eltern. Als sich dann mein Vater ankündigte, fuhr meine Oma mit ihrem dicken Bauch auf einem Ozeanriesen zurück nach Deutschland, brachte meinen Vater zur Welt, ließ ihn bei ihrer Mutter zurück und dampfte anschließend über den großen Teich wieder zu ihrem Mann nach Amerika. Und mein armer Vater musste nun ohne richtige Eltern aufwachsen.
Mein armer Vater! Ach, wie musste ich ihn bedauern. Auch krank war er gewesen und als Kind fast an Hirnhautentzündung gestorben, weil sie ihm einen Hamster geschenkt hatten, der von einem Klassenkameraden stammte, der an Hirnhautentzündung gestorben war. Ach, mein armer Vater! „Ein Wunder, dass aus dem noch was geworden ist“, sagte meine Oma, legte den Kopf schräg, spitzte den Mund und schaute mich durch ihre Brille an. Ich aber fürchtete mich vor seiner knochigen Hand, mit der er mich immer schlug.
Was sollte aus mir werden?
Alle sagten mir: „Wie dein Vater sollste werden!“ Ich wollte aber nicht so werden wie mein Vater, denn der hatte viele Ohrfeigen in der linken Hand. „Der Junge hat zweimal Hier! geschrien, als der liebe Gott die Horchlöffel verteilt hat“, sagte mein Onkel Franz. So wie mein Vater werden, das ging gar nicht, denn der hatte so Schreckliches erlebt, mit dem musste ich doch Mitleid haben: keine Mutti, die Krankheit, der Krieg und die kaputte Hand! Ich konnte ja gar nicht so werden wie mein Vater denn der war ein langer Kerl und klug und fleißig.
Groß sollte ich werden, sagte mein Onkel, wenn er sein sechstes Stück Kuchen aß; stark sollte ich werden, sagte Zippi, wenn er seine Hand unter das Kleid meiner Mutti steckte; reich sollte ich werden, sagte der dicke Onkel Tist, wenn er mir einen Markschein in die Hand drückte.
„Der sieht aus wie Kohlenklau“, sagte Onkel Tist und: „Mach nich sonne Glupschooren, Kåler!“ Der Kohlenklau, das war ein fetter Kerl mit Schiebermütze, der mit einem Sack über der Schulter braven Bürgern auflauerte und durch sein ungesetzliches Treiben unsere Soldaten daran gehindert hatte, den Endsieg zu erringen. Im Seifenschrank meiner Oma waren die Bretter mit alten Zeitungen ausgelegt. Und von solch einer Zeitung grinste er mich frech an. Sein rechtes Auge starrte riesengroß wie ein Scheinwerfer aus dem Verbrechergesicht und spürte jedem Krümel Kohle nach.
So soll ich auch ausgesehen haben; Onkel Tist rief: „Kohlenklau! Kohlenklau! Kohlenklau!“ und mein Vater fügte noch hinzu: „Segelohren hat er, sonne Segelohren! Der fliecht uns noch må bei starken Wind bis nach Måchteburch!“. Dann lachten beide und Onkel Tist sabberte dabei auf den Kuchenteller.
Ich war klein und dumm und faul, sagte mir mein Onkel. Ich machte alles falsch und stellte mich in der Werkstatt saublöd an, denn ich hatte zwei linke Hände. „Der Kåle is son richtjer Dollbräjen!“ Und Frau Helmecke, die hinten auf dem Hof wohnte, hörte ich einmal sagen: „Guck mål, der Russe! Der is ja man son kleener Russe!“ Da wurde meine Mutti bitterböse und lief mit mir ins Haus, stellte mich in den Hausflur, rannte ins Schlafzimmer und heulte in ihr Kissen. Dann wollte sie nicht einmal, dass ich mich zu ihr ins Bett legte.
Aus mir konnte also nichts Ordentliches werden und ich taugte nur dazu, Schrauben oder Nägel zu sortieren, die mein Opa in Zehn-Kilo-Eimern anschleppte und dann in die Werkstatt hinter dem Bienenhaus stellte, da wo die Hühner wohnten und den Boden unter dem Pflaumenbaum von allem Gras frei hielten. Wenn ich sie besuchte, dann kakelten sie vor sich hin und zupften die letzten Grashalme aus, die noch in ihrem Gehege wuchsen. Das eine oder andere kam heran, legte den Kopf schief, machte „Goooak“ und guckte mich durch den Maschendraht so an, wie mich meine Oma gelegentlich durch ihre Brille anstarrte.
Die Hühner legten die warmen Eier, die wir jeden Morgen einsammelten und in einem kleinen Weidenkorb in die Küche brachten. Wenn ich ihnen fette Engerlinge aus dem Komposthaufen zuwarf, die sie gierig aufpickten und herunterschlangen, hatten die Eier ein paar Tage später besonders gelbe Dotter.
In der Werkstatt neben dem Bienenhaus wurde ich schon als Sechsjähriger in die elementaren Techniken des Handwerks eingeführt, wozu nach Meinung meines Opas vor allem Sauberkeit und Ordnung gehörten, denn ich musste die Werkstatt regelmäßig fegen und, wenn ich einen Hammer, eine Zange oder eine Säge benutz hatte, alles an seinen Platz zurückräumen.
Wie man mit einem Besen umging, zeigte mir mein Opa: „Du fasst hier in der Mitte den Stiel an, fegst drei-, viermal mit leichtem Druck, stößt dann den Besen kräftig auf und wiederholst das so lange, bis du den Kehricht auf einen Haufen zusammengefegt hast.“ Also fegte ich den Weg zum Hühnerstall, dann den Hof bis zur Pumpe und wollte gerade auf der Schulstraße weiterfegen, da nahm mir mein Onkel Franz den Besen weg, weil doch Sonnabend war und die Straße richtig sauber werden musste. Dazu taugte ich nicht. „Weg da, du Kohlenklau!“
Wenn aber ein neuer Eimer mit Schrauben oder Nägeln angekommen war, wurde ich plötzlich zum Sortieren gebraucht. Dazu schüttete mein Opa mir einen Haufen Schrauben auf die Hobelbank und schon gingꞌs los. Bald konnte ich sie unterscheiden, die Maschinenschrauben von den Holz- und Blechschrauben, die Rechtsgewundenen von denen mit Linksgewinden und die Flachköpfigen von solchen mit Linsen- oder Senkköpfen. Muttern musste ich gesondert einsortieren.
Dafür gab es eine Reihe von Blechdosen, die immer noch nach dem rochen, was früher einmal darin gewesen war. Von einer der Dosen ermunterte mich ein streng riechender Prince Albert hoheitsvoll, die Muttern hineinzuwerfen. Die anderen Dosen waren halb verrostet, aber man konnte noch Reste des Aufdrucks erkennen und erahnen, was einmal drinnen gewesen war: Kakao, Kaffee, Bleistifte, Pfeifentabak, Schuhkreme, Printen, Tee, Zwieback, Nähnadeln, Maggi-Würfel und Hühneraugenpflaster. Aber das war alles längst aufgegessen oder aufgebraucht, und heute steckten nur noch Schrauben, Nägel, Stifte, Ösen, Scheiben und Muttern darin, alle nach Art und Größe wohl sortiert und Gleiches zu Gleichem gelegt, so wie mein Opa mir es beigebracht hatte. Und immer, wenn ich die Werkstatt betrat, war ich stolz auf diese Ordnung. Die großen Holzschrauben rochen nach Kakao, die Linsenschrauben nach Schuhcreme, die Schlitzschrauben nach Maggi, die 5er Maschinenschrauben nach Tee, die 6er nach Zwieback und die 8er nach Nähmaschine. Größere Metallteile waren in Holzkisten verstaut, die mein Opa selber zusammengezimmert hatte. Und das Werkzeug lag entweder in Schubladen, die sich nur sehr schwer unter der Arbeitsplatte herausziehen ließen, oder sie hingen wie die Sägen an Nägeln, die mein Onkel in die Schuppenwand getrieben hatte, alle in Reih' und Glied und drei Reihen übereinander.
Mein Opa brachte mir nicht nur das Fegen und das Schraubensortieren bei, sondern er sagte mir auch, wie die Welt um mich herum funktioniert. Dabei korrigierte er mein bisheriges Weltbild auf das Gründlichste. So glaubte ich, dass der Wind deshalb wehte, weil die Bäume sich mit ihren Blättern bewegten. Und ich hielt den Donner für ein Zeichen dafür, dass die schwarzen Regenwolken am Himmel zusammenprallten. Als ich erfuhr, dass es andersherum war, wunderte ich mich nicht lange, sondern spürte bei allem, was ich sah, hörte und roch, den Ursachen nach.
Mein Opa führte mich auch in die Grundlagen der Naturkunde ein, erklärte mir, dass der Donner auf den Blitz folgt und lehrte mich, die Entfernung zu der Stelle auszurechnen, wo der Blitz gerade eingeschlagen war. Er begann nach einem kräftigen Blitzen langsam zu zählen: „eins – zwei – drei – vier – fünf – sechs – sieben – acht – neun“ und hörte mit dem Donnerschlag auf; Bums! „Der Donner braucht für einen Kilometer drei Sekunden, für zwei Kilometer sechs Sekunden und für drei Kilometer?“ – „Neun!“, rief ich. – „Das lehrt uns, dass der Blitz da eben drei Kilometer weit weg war.“
Immer, wenn mein Opa mir die Welt erklärte, sprach er sauberes Hochdeutsch wie auch meine Oma, denn ich sollte mir „bloß keen Machteburcher Tonfall“ angewöhnen. Schließlich waren wir wer und unterschieden uns von den Dorfdeppen.
Wenn an einem heißen Nachmittag im Juli oder August die schweren Gewittertürme von Südwesten heranzogen, dann suchte ich mir einen etwas erhöhten Aussichtsplatz, der mich aber vor Regen und vor allem vor den Blitzen schützen konnte, denn ich durfte bei Gewitter nicht draußen sein und musste mich, wenn einmal ein überraschendes Unwetter kommen sollte, in einem Gebäude unterstellen. Dass ich dummen Sprüchen wie „Buchen sollst Du suchen“ und „Eichen musst Du weichen“ nicht trauen durfte, hatte mir mein Opa mit folgenden Worten erklärt: „Jeder Baum, ganz gleich welcher Art, stellt eine Erhebung dar und ist daher besonders in Gefahr, vom Blitz getroffen zu werden. Du solltest daher alle Bäume bei Gewitter meiden!“ Das tue ich bis heute noch.
Einen sicheren Platz glaubte ich am Hoftor zu Alfred Knochenmuß' Klempnerei gefunden zu haben, von dem aus ich über den Denkmalplatz nach Südwesten schauen konnte. Der runde Torbogen gewährte mir Schutz und notfalls konnte ich noch immer durch die offene Tür unter den überdachten Anbau hinten auf dem Hof laufen, wo die erste Etage des alten Tanzsaales mehr als ein Meter überstand.
Von meinem Standort aus konnte ich sehen, wie sich die drohende schwarze Wolkenfront ziemlich schnell heran schob. Ab und zu zuckten Blitze aus den Wolkenrändern und ihr Donner verriet mir, dass sie noch fünf bis sechs Kilometer entfernt sein mussten. Noch war es fast windstill, dann verdunkelte sich der Himmel, schlagartig verschwand die Sonne und es kam ein starker Wind auf, der Staubwolken über den Platz wirbelte. Immer noch fiel kein Regen. Die Blitze erhellten die einbrechende Dunkelheit und der Donner krachte in gefährlicher Nähe. Plötzlich schlug der Regen herab, erst nur in Tropfen, dann in Strömen, die von den Böen fast senkrecht über den Platz getrieben wurden. Es roch nach fettem Bördeboden. Um Roseburgs Hausecke verschwand ein schwarzer Vogel und suchte Schutz unterm Dach.
Ich sah einen grellen Blitz und hörte gleichzeitig den Donnerschlag, Das Gewitter musste genau über mir ein. Jetzt war es ganz dunkel geworden, nur die Blitze ließen mich die Häuser auf der gegenüber liegenden Straßenseite erahnen. Der Regen hörte nicht auf und fiel wie Bindfäden senkrecht vom Himmel. Aus einer Dachrinne sprudelte das Wasser in eine hölzerne Regentonne, die bereits überlief. Dann platschte Wasser direkt aus der Traufe von Knochenmuß' Haus auf die Straße. Ich blickte hinauf und konnte im Halbdunkel sehen, wie vom Dach ein Wasserfall auf der ganzen Breite über die Traufe im Bogen herunterstürzte. Plötzlich stand ich in einem Bach, der vom Hof her unter dem nur angelehnten Tor hindurch auf die Straße floss. Dort vereinigte er sich mit dem anderen Bach, der den Rinnstein entlang rauschte, und beide Gewässer stürzten sich vereint die Teichstraße hinunter zur Pferdeschwemme. Die ganze Straße glich einem Fluss, überall entstanden Stromschnellen und die Wassermassen gurgelten und spuckten. Ich hatte einige Mühe, gegen die Strömung auf den Hof zu waten und den schützenden Überstand zu erreichen.