Amerika, du hast es besser

Julia

 

 

 

 

Als ich einmal aus der großen Kiste auf unserem Dachboden das braune Album gefischt hatte und gerade anfing es durchzublättern, sprang Kasperl herzu und deutete mit seiner rechten Hand auf drei Bilder, die in einer Reihe aufgeklebt waren. Da sah ich meinen Opa Alex, das verrieten mir seine großen Ohren sofort. Mit denen segelt er auf allen Fotografien, die sich von ihm im erhalten haben, durch das Familienarchiv.

Schon als Soldat im ersten Weltkrieg kann man den Alex von seinen beiden Kameraden unterscheiden, mit denen er sich vor einem großen Auto präsentiert, das wohl einen motorisierten Militärtransporter der kaiserlichen Wehrmacht darstellen soll. Da ist er gerade zwanzig und guckt noch recht naiv aus seiner Uniform, aber die Ohren sind schon voll entwickelt und er darf von Koblenz aus gegen den Franzosen ziehen, wie er seiner Mutter am 26. November 1914 mit großem Stolz nach Barmen meldete. Was er in Frankreich getrieben und ob er dem Erbfeind eine gehörige Lektion erteil hat, weiß ich nicht. Wenn ich den Fotos trauen darf, so überlebte er den Krieg jedenfalls ohne Schäden an Leib und Ohren – ob auch an der Seele, weiß ich nicht. Jedenfalls müssen seine Ohren besonders attraktiv gewesen sein, denn er heiratete in Sudenburg die 19jährige hübsche Ella, schiffte sich mit ihr auf einem Dampfer nach New York ein, lernte an Bord mit ihr wilde Modetänze, zeugte Ende Februar 1923 in Jarrettsville, Maryland meinen Vater und vererbte seinem einzigen Sohn zwei große Segelohren. Mehr hat er ihm nicht hinterlassen, als er Ende 1950er beschloss, seinen Kochlöffel abzugeben.

Seinen einzigen Sohn aber hat er damals nicht gesehen, denn meine junge Oma Ella verließ ihn schon im Sommer ′23, dampfte mit ihrem Früchtchen im Bauch über den großen Teich und kehrte wieder zurück nach Sudenburg zu ihrer Mutter, wo sie an einem Nebeltag im November niederkam.

Nach einem guten Jahr aber hatte sie genug von Deutschland, von Arbeitslosigkeit und Inflation, von ihren Eltern und von dem lästigen Kind, das viel schrie und kränkelte und dessen kleine Segelohren sie viel zu oft an seinen Erzeuger gemahnten. Also packte sie ihre selbstgeschneiderten Kleider in ein Köfferchen und fuhr nur vierzehn Monate nach ihrer Niederkunft noch einmal in die USA hinüber, diesmal mit der „Bremen“, auf der sie am 21. Februar 1925 in New York eintraf, wie die Passenger Lists verraten, die sie in der Ellis Island Foundation aufbewahren. Diesmal blieben ihr die anstrengenden und entwürdigenden Formalitäten der Einreise erspart, da sie zu den offiziell anerkannten Quoteneinwanderern zählte und eine Erlaubnis zur Rückkehr in die USA bei sich führte. Ihren Sohn allerdings hatte sie bei ihrer Abreise in Sudenburg vergessen. Sie aber änderte ihren Vornamen, wurde eine richtige Amerikanerin und nannte sich von nun an Ellen.

Als sie ankam, kehrte sie aber nicht zu ihrem Alex und zu dessen großen Ohren zurück, oder sie kehrte zurück, aber das Glück war nicht von langer Dauer; vielleicht hatte ihr Mann sie betrogen, als sie ihrem Gebärgeschäft in Sudenburg nachkam und einige Monate den Säugling bemutterte und nicht sofort zu ihrem Ehegatten zurückkam. Kasperl sagte: „Doppelt hält besser. Die kommt nie wieder nach Germany!“ und wir verzichteten schließlich darauf, unsere Posse von der Rabenmutter und das Stück vom verlorenen Vater zu inszenieren, denn wir wussten, dass sich meine noch sehr junge und schöne Oma in Manhattan mit einem gewissen Greenberg eingelassen hatte. Der hatte zwar kleinere Ohren, dafür aber eine markante Nase, an der man den „ollen Juden“ sofort erkennen konnte, wie meine Oma Sudenburg mir immer wieder vorerzählte. Das „mit dem gelben Stern“ hätten sich die Nazis auch sparen können, „denn den Juden erkenne ich gleich an der Nase“, sagte sie. Da packte mich die Lust, ein Stück über Juden aufzuführen, aber Kasperl bremste meinen Elan und erinnerte mich an den Totentanz, den wir zum Gedächtnis an die dunkle Freundin meiner Mutter aufgeführt hatten.

Den Greenberg konnte Oma Sudenburg nicht leiden, weil er „wie alle Juden“ geizig war und kaum etwas zu den Paketen beisteuerte, die Ellen (meine Oma sagte „von Ella’n“) seit 1927 fast dreißig Jahre – und nur für ganz kurze Zeit durch den zweiten Weltkrieg unterbrochen – an ihre Mutter schickte. Wer dieser Greenberg gewesen ist, konnte ich auch später nicht ermitteln; es wird sich aber um ein Ehrenwertes Mitglied des jüdischen Greenberg-Clans gehandelt haben, der im New York der dreißiger und vierziger Jahre eine auch kulturell nicht unbedeutende Rolle gespielt hat. Bei meinen späteren Recherchen im Internet stieß ich mehrfach auf den amerikanischer Kunstkritiker Clement Greenberg, der ab den späten 1930er bis in die 1970er Jahre eine einflussreiche Person in der amerikanischen Kunstszene war. Ob aber meine Oma Ellen, die kleine Schneiderin Ella aus dem Magdeburger Stadtteil Sudenburg, bei der Rezeption des Abstrakten Expressionismus und der Entwicklung des Colourfield Painting eine – wenn auch marginale – Rolle gespielt hat, wie Kasperl nachdrücklich behauptete, wage ich zu bezweifeln. Meine Phantasie reichte aber noch heute aus, um mir solche Verbindungen vorzustellen.

Immerhin hat sie sich nach den Erzählungen meines Opas Fritz auch noch 1944 und sogar Anfang 1945 bemüht, die Lebensbedingungen ihrer Eltern in Deutschland durch regelmäßige Paketsendungen zu erleichtern und sie soll schon im Herbst 1945 parallel zur Aktion Care-Pakete ihre privaten Lebensmittelsendungen in die sowjetische Zone wieder aufgenommen haben. Denn ihr schlechtes Gewissen war gewiss kein sanftes Ruhekissen und sie versuchte sich durch Kaffee, Schokolade, Nylonstrümpfe und Apfelsinen zu entlasten. Dass es weltanschauliche Gründe waren, die sie bewogen hatten, ihrem unbekannten Enkel in der Sowjetischen Besatzungszone einen amerikanischen Kasperl als moralische Stütze zur Seite zu stellen, bezweifele ich allerdings. Vielleicht aber war es ein Wink des Schicksals, der sie in die 47. Straße führte, wo sie den Mr. Bluster in einem Spielzeugladen sah und ihn sofort für ihren kleinen Enkel kaufte, ohne daran zu denken, dass dieser witzige Kerl einen bedeutenden Beitrag zur ideologischen Umerziehung ihrer früheren Landsleute leisten und darüber hinaus eine ˗ wenn auch bescheidenen ˗ Rolle im Kampf gegen die Ausbreitung des Stalinismus in aller Welt spielen würde.

Mein groß-ohriger Opa Alex also hat sich nie um seinen Sohn gekümmert, was auch nicht Not tat, da sich die Ohren programmgemäß entwickelten und mitten in der Pubertät ihre volle Größe erreicht hatten; erst als der dreißigjährige Neulehrer aus der Ostzone in den Westen rüberjemacht hatte, gab ihm Tante Maria die Adresse seines Vaters, der damals in Syracuse, südlich des Ontariosees im Bundesstaat New York lebte und dort als Koch arbeitete.

Auf einem Foto aus diesen Jahren steht er neben seiner zweiten Frau, deren Nase keine jüdische Herkunft verrät und deren Namen ich damals nicht in Erfahrung bringen konnte. Selbst der weltgewandte Kasperl wusste nicht weiter. Ich blickte ratlos zu ihm auf, aber er deutete immer wieder auf das Bild, machte Hem, Hem, Hem! Und dann sah ich es plötzlich auch:

Im Hintergrund stehen auf einem Heizkörper neben dem großen, von bunten Vorhängen verdeckten Fenster einige gerahmte Fotos und auf einem kann ich bei genauerem Hinsehen mich selber erkennen, wie ich Weihnachten ‘47 oder ‘48 ausgesehen habe, ein traurig blickendes Kind, das mich bis heute auch aus anderen Fotos anblickt, die mein Vater in das braune Album geklebt hat. Vielleicht hat dieses Kinderbild, das ein vergessener Sohn seinem Vater im ersten Brief mitgeschickt haben muss, eine gewisse Sehnsucht bei meinem Opa in Amerika nach dem verlorene Sohn und einem kleinen Enkel ausgelöst.

Ich halte es aber für wahrscheinlicher, dass es sein schlechtes Gewissen war, das ihn zwang, dem, der da ein Jahr nach dem Ende des großen Krieges im fernen Germany zur Welt gekommen war, einige Aufmerksamkeit zu schenken, die er seinem eigenen Sohn einst verweigert hatte. Denn nachdem sein einziger Sohn nun bereit stand, zu ihm zurückzukehren, musste er sich genau überlegen, wie er die alte Schuld abtragen sollte.

Da genügt es nicht, den Nachbarn zu erklären, dass der junge Mann „from Germany“ die Schlachtorgien des Weltkrieges trotz oder vielleicht auch wegen des imponierenden Einsatzes an Menschen und Material schwer verletzt überlebt hatte. Da konnte er nicht einfach sagen: Dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden. Denn seine Sache stellte sich ganz anders dar. Er, der Vater, war ja der Auswanderer, der seinen Sohn zurückgelassen hatte. Wie Tonio Feuersinger wollte er die große weite Welt kennen lernen, wollte mehr vom Leben haben, als es die triste Stadt an der Elbe oder die Textilmaschinen an der Wupper ihm bieten konnten.

So hatte er sein Glück in New York erträumt, so konnte es sein elfjähriger Sohn in den Scala-Lichtspielen an der Halberstädter Straße sehen, wenn in dem Globus-Film vom verlorenen Sohn, der am Anfang der Nazizeit noch in New York fertig produziert werden konnte und der 1934 in Stuttgart seine Uraufführung erlebte, eine Auswanderer-Tragödie erzählt wurde . Da sah er, wie Luis Trenker, der übrigens – wie seine eigene Mutter – mit dem deutschen Linienschiff „Bremen“ in die USA gedampft war und mit versteckter Kamera arbeitete, nach seiner Ankunft in New York keine Arbeit findet, so sehr er sich auch darum bemüht. Und so kann es sein Enkel noch heute im Programmheft lesen:

Weil Tonio Feuersinger kein Geld mehr hat, wird er aus seinem Dachzimmer hinausgeworfen. Durch einen anderen Obdachlosen findet er schließlich Arbeit auf der Baustelle eines Wolkenkratzers. Dabei sind seine Erfahrung beim Bergsteigen und seine Schwindelfreiheit von Vorteil, als er in großer Höhe auf den Stahlträgern arbeiten muss. Nachdem er diese Arbeit verloren hat, beginnt er zu verwahrlosen. Er schleicht in abgerissenen Kleidern durch die Straßen und sieht viel Elend in den Straßen und Mietskasernen. Der Hunger ist sein ständiger Begleiter. Um ihn zu stillen, stiehlt er eines Tages auf einem Markt ein Brot. Ein Polizist, der in verfolgt, sieht die ausgemergelt Gestalt gierig das Brot verschlingen und geht still weg. Zur karitativen Essensausgabe, vor der sich eine lange Schlange gebildet hat, singt die Heilsarmee: „Wer nicht fortkommt, kehrt niemals heim.“

An dieser Stelle des Films muss mein Vater weinen und wird auch nicht getröstet, als sein Film-Idol erkennt, dass dieses Land der sozialen Gegensätze und Ungerechtigkeiten nicht seine Heimat sein kann und als Tonio genauso wie Luis Trenker geläutert nach Deutschland zurückkehrt. Denn sein leiblicher Vater kehrte ja nicht nach Deutschland zurück und mein Vater musste auch Anno ‘34 das Weihnachtsfest wieder einmal ohne Vater und Mutter feiern.

Dass der Republikflüchtling überhaupt einen Brief an meinen Opa geschrieben und ein Foto von mir hineingelegt hatte, fand ich völlig in Ordnung, denn schließlich versorgte ihn seine Mutter im Jahre 1923 vorsorglich gleich mit drei Vornamen. Der dritte, Alex, stammt von seinem leiblichen Vater, der sich nun plötzlich an seine nie erfüllten Pflichten erinnert sah: Dein Sohn, den dir die Schneiderin aus Sudenburg vorenthalten hatte, kommt bald mit einer jungen Frau und mit einem kleinen Enkel, um für immer bei dir zu bleiben! – Der Stolz seines Alters sollte ich werden; nach dreißig Jahren voller mütterlicher Care-Paketen sollte nun ein väterlicher Marschall-Plan alles bisher Versäumte wieder gut machen.

 

Das braune Album hat mein Vater zusammengestellt, nachdem er mit meiner Mutter ganz überraschend im Hause meiner Großeltern erschienen war. Es muss im März '54 gewesen sein, als beide unvermittelt auftauchten und nach wenigen Tagen wieder verschwanden. Im Radio behaupteten die Comedian Harmonists, dass „Wochenend und Sonnenschein“ genüge, um glücklich zu sein, mich aber machten sie für mehrere Monate sprachlos, denn weder schien die Sonne an den drei oder vier Tagen, an denen ich mit meiner Mutter zusammen sein durfte, noch fühlte ich mich besonders glücklich, als sie plötzlich wieder weg war.

Was meinen Vater dazu bewogen hatte, ohne Genehmigung in die DDR zu fahren, die er doch erst vor zwei Jahren verlassen hatte, und wo er als Republikflüchtling mit bis zu drei Monaten Gefängnis rechnen musste, wenn sie ihn erwischt hätten, blieb mir lange unklar. Ob er seine Mutter nachahmen und durch die doppelte Flucht endgültig jede Rückkehr zu seinem Sohn unmöglich machen wollte? Noch als Robert Bottke auftrumpfte, dass immer mehr Flüchtlinge, die „rüberjemacht ham, ausm Westen widder inne Zone zurück“ kämen, „wegen die hohe Årbeitslosigkeit un so. Die kriejen hier sogår ne Wohnung und Möbel und widder Årbeit!“ glaubte ich lange, dass meine Eltern vor Ort sondieren wollten, ob es für sie wieder ein gemachtes Bett im Arbeiter- und Bauernstaat geben könnte, wo sie doch im Westen nicht so richtig Fuß fassen konnten und immer noch von der mageren Arbeitslosenunterstützung leben mussten. Erst später wurde mir klar, dass dieser Besuch andere Gründe hatte. Meine Eltern brauchten für die geplante Auswanderung gültige Abstammungsurkunden und die konnten sie nur auf dem Standesamt bekommen, in dem sie sich ihr ewiges Ja-Wort zu einer Zeit gegeben hatten, in der das Deutsche Reich zusammengebrochen war und noch kein ordentlicher Nachfolgestaat existierte.

Jedenfalls saß mein Vater am Wohnzimmertisch meiner Großmutter und klebte Fotos in ein Album ein, alte braunstichige Bilder von Oma und Opa Sudenburg, von seinen Eltern und von ihm selber. Da starrte mich seine Oma mit ihren durchdringenden Hexenaugen an und auf ihrer Schulter hockte eine Katze, die fixierte mich auch mit ihren stechenden Augen.

Da guckte Opa Sudenburgs rechtes Segelohr unter der Proletenmütze hervor, vor ihm saß mein kleiner Vater in einem karierten Mantel mit einer karierten Mütze und glotzte in die Welt.

Auch meine Oma Ella klebte er gleich viermal in sein Album ein, die war 1927 noch eine ganz junge Frau und saß elegant gekleidet in Manhattan auf einer Bank, dann stand sie im Riverside Park und ließ eine Paddler hinter sich auf dem Hudson River vorübergleiten. Auch sah man sie vor dem Eingang eines neuen Wolkenkratzers stehen.

Auf dem vierten Foto aber – einem Kodacolor Print vom 17. Dezember 1951 – war sie um vierunddreißig Jahre gealtert, stand allein vor einem dunkelbraunen Buffetschrank in ihrer Wohnung im Riverside Drive 230, und die Matrone lachte nach links aus dem Bild hinaus.

Mein Großvater aber, den mein Vater dreimal auf die Gegenseite des Albums klebte, hatte mittlerweile am Pier von Syracuse anlegte und schaute alle, die ihn begutachteten, freundlich an. Er arbeitete als Restaurantleiter und Koch und verdiente 1100 Dollar im Jahr, wie mir der United States Federal Census von 1930 verriet. Auf einer Anzeige, die sein damaliger Dienstherr anlässlich der Eröffnung von „Palmer's for Fine Foods“ am 4. September 1934 im Syracuse Harald aufgegeben hat, steht schwarz auf weiße gedruckt, dass mein Opa Alex als einer der besten Chefs in Syracuse bekannt ist und alle einlädt, das neue Etablissement zu besuchen. Er lud Ende 1954 auch meinen Vater ein, zu ihm an den großen See zu kommen, weil es dort Arbeit für ihn gab, und ich glaube, der alte Drückeberger hoffte, dass er ihm seine Schwiegertochter und seinen kleinen Enkel mitbringen würde. Dann wollte er auf seine Knie fallen, die drei um Verzeihung bitten, und es würde alles, alles gut sein!

 

Da sah ich in dem braunen Album noch andere Menschen aus der Vergangenheit. Das waren die Großeltern von meinem Vater, hohe Herrschaften aus Barmen und ihre stolzen Kinder Maria und Alex, der aus einem Foto herausgeschnitten worden war, weil ihn seine Eltern verstoßen hatten. Denn er hatte gegen ihren Willen die mittellose Tochter eines Maschinenarbeiters geheiratet, der seinen kargen Arbeitslohn bei Polte in Magdeburg verdiente. Mein Großvater wollte nicht in die Firma seines Vaters eintreten und brach mit einer Familientradition, die sich – wie Kasperl und ich später herausfanden – bis in die 1820er Jahre zurückverfolgen lässt. Ihm war das Schneidermädchen aus Sudenburg wichtiger, zumindest so lange, bis er Amerikaner geworden war und irgendwo an der Ostküste sein Auskommen und eine bessere Frau als meine Oma Ella gefunden hatte.

Als ich mit Kasperl in diesem Album meines Vaters blätterte, packte mich die Lust, mehr über meine Familie zu erfahren, und ich durchwühlte die große Kiste. Ich fand auch einige alte Dokumente, in die ich mich vertiefte und die mir weiterhalfen. Kasperl, der mich vom hohen Schrank aus beobachtete, an dem ich ihn mit dem Spielkreuz aufgehängt hatte, fing plötzlich an zu deklamieren:

 

Amerika, du hast es besser
Als unser Kontinent, das alte,
Hast keine verfallene Schlösser
Und keine Basalte.

 

„Ist das von dir?“, fragte ich ihn. „Nö, vom ollen Göthe“, sagte er. – „Willst du das Gedicht von der Bühne herab aufsagen?“ – „Lieber nicht; ich weiß das was Besseres!“

Und als ich ihn heruntergenommen hatte, setzte er Bär und Mi auf die Bühne. „Die kommen aus Amerika“, die wissen es besser! Und er ließ Bär brummen und klatschte nur den Takt dazu:

 

I went to a dance with my sister Kate
Everybody there thought she danced so great

I realized a thing or two
When I got wise to something new

 

Dann war Mi mit ihrer Quack-Stimme dran:

 

When I looked at Kate, she was in a trance
And then I knew it was in her dance
All the boys are going wild
Over Sister Katie's style

 

Und schließlich sangen beide im Duett:

 

Oh, I wish I could shimmy like my sister Kate
She shimmies like a jelly on a plate
My mama wanted to know last night
What makes the boys think Kate's so nice

 

„Was ist Shimmy?“ fragte ich Kasperl.

„Das war ein neuer Tanz in den USA, gerade als deine Großeltern beschlossen, nach Amerika auszuwandern. Da wurde er mit Fats Waller zum Hit. Hör mal weiter.” Und als er sang, klang es wie von einem alten Grammophon:

 

Now all the boys in the neighborhood
They know that she can shimmy and it's understood
I know that I'm late, but I'll be up-to-date
When I shimmy like my sister Kate
I mean, when I shimmy like my sister Kate

 

Da tanzten auf unserer kleinen Bühne Ellen und Alex mit ihren Freunden Sidonie und Carl, die auch aus Magdeburg stammten, Artisten waren und die der weltberühmte Circus Ringling Bros. and Barnum & Bailey für seine Vorführungen im Madison Square Garden engagiert hatte. Und dann zeigte Sidonie der Ella, wie sie mit dem Hintern wackeln musste, und Carl machte dem Alex vor, wie der Hootchy-Kootchy ging und schlotterte mit allen seinen Gliedern. Aber Kasperl konnte es am besten. Und so schüttelten alle die Schultern, beugten den Körper und tanzten mit X-Beinen von einer Seite der Bühne zur anderen. Sidonie beherrschte auch den Bumb und stieß den Unterleib abrupt nach vorn; da kreischte Ella: „Ich mach den Grind!“, stolzierte mit kreisenden Hüften nach vorn und Carl zuckte mit den Muskeln dazu. Und dann sangen wir vier den Refrain:

 

Now I can shimmy like my sister Kate
I know that I'm real late
I think I'll do a real shimmy dance
Dancing like my sister Kate
Sweet papa, just like my sister Kate

 

Nach dieser anstrengenden Vorführung brauchten wir ein Schiff, um den weiteren Gang der Dinge inszenieren zu können. Ich nahm eines von den Segelschiffen, die ich gelegentlich auf unserem Dorfteich schwimmen ließ, montierte den Mast ab und setzte runde Bauklötze auf das Deck, denn wir tauften das Dampfschiff „Sierra Nevada II“ und rüsteten es für seine Jungfernfahrt aus, die es 6. September 1922 mit einer Reise nach New York begann.

Das 133 m lange und 17 m breite Schiff war von der Vulcan-Werft in Stettin gebaut worden und sollte nun für die Reederei Norddeutscher Lloyd nach New York und nach Südamerika fahren. Mit seinen 8753 Bruttoregistertonnen konnte es dreizehneinhalb Knoten laufen und rund 1300 Passagiere befördern; das Schiff erreichte die neue Welt in nur 12 Tagen.

Da stehen meine Großeltern nun neben ihren Freunden und freuen sich gemeinsam mit anderen Bekannten auf das, was sie in der neuen Welt erleben werden. Mein Opa Alex lässt sich den Wind um die Segelohren blasen und meine Oma Ella, die sich nach ihrer zweiten Landung in den Staaten Ellen nennen wird, trägt einen Mantel, aus dem sie später ein Mäntelchen und ein Mützchen für ihren kleinen Sohn nähen soll, denn sie war Schneiderin und musste dafür sorgen, dass ihr ihr Sohn im fernen Deutschland immer gut gekleidet war. Und plötzlich verstand ich, warum das von ihr mit Schmerzen geborene leibliche Kind das Lächeln seiner Mutter nicht erwidern konnte, als es vor Fahrrad seines Großvaters in eben demselben Stoff gekleidet in die Kamera blickte.

Selbst ich sollte noch einmal von ihren textilen Künsten profitieren, aber die Baby-Ausstattung, die sie kurz nach Kriegsende an meine Oma Sudenburg in die sowjetische Okkupationszone schickte, rückte die geizige alte Hexe erst heraus, als ich aus den Babysachen herausgewachsen war und meine Mutter nichts mehr damit anfangen konnte.

Auf dem Foto mit den Freunden auf dem Ozeanriesen „Sierra Nevada“ aber war mein Vater noch nicht gezeugt und die beiden konnten sich der Vorfreude hingeben, denn es war ja ihre Hochzeitsreise, die sie nach Amerika führte, zwar in der 3. Klasse, was aber dem Spaß keinen Abbruch tat, da es auf der Jungfernfahrt der Sierra Nevada gut zu Essen und gut zu trinken gab und natürlich tanzten sie tiefe in die Nacht hinein.

Und Kasperl gab ihnen den Rest des Goethe-Gedichts mit auf ihre Reise, indem er mit großem Pathos sprach:

 

Dich stört nicht im Innern,
Zu lebendiger Zeit,
Unnützes Erinnern
Und vergeblicher Streit.

Benutzt die Gegenwart mit Glück!
Und wenn nun eure Kinder dichten,
Bewahre sie ein gut Geschick
Vor Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten.

 

Wie die beiden die Überfahrt auf der „Sierra Nevada“ von Bremerhaven nach New York und ihre Ankunft dort erlebt haben, konnte ich in einem Buch nachlesen, das ich aus Onkel Franz‘ Bücherschranke herausfischte. „Der Nachmann“ hieß es und stammte von Ehm Welk, dessen „Kummerow“-Romane mein Onkel sehr verehrte.

Sie waren in der 3. Klasse in Schlafräumen untergebracht, Männer und Frauen sorgsam getrennt in Gruppen bis zu 18 Personen. Alex hatte Glück, dass er seinen Schlafraum nicht mit den vertriebenen Juden aus Polen und Rumänen, Handwerkern und Fabrikarbeitern aus Galizien, ungarischen Dorfmädels, Bauern aus Frankreich sowie Zigeunern aus der Slowakei teilen musste, sondern dass die Rederei deutsche Passagiere mit Geschäftsreisenden verschiedener Nationen getrennt einquartiert hatte.

Wie das zuging, lesen Kasperl und ich bei Ehm Welk, der die Reise im selben Jahr auf einem anderen Schiff unternommen hat. Im Nebenraum liegen am helllichten Tage etwa zwölf Männer zwischen zwanzig und sechzig Jahren auf ihren Betten. Sie sind nur halb angezogen, denn einigen fehlen die Röcke, dafür haben andere Stiefel an. Sie liegen da, rauchen, essen und trinken Früchte, Brotschnitten, Fleischstücke, sogar Heringe, spucken auf den Fußboden, an die Wände oder auf gut Glück in den Raum, lärmen durcheinander und stinken durcheinander.

Ella aber musste mit Frauen und Kindern zusammen hausen und erleben, wie einige der Weiber sich dauernd stritten. Erzürnte Frauen, gereizte Mütter, die schreckliche Luft aus ungemachten Betten, ungewaschenen Frauen und Kindern, ungeleerte Gefäße, Dutzende von Speiseresten, die sich unter fettigem Zeitungs- und Packpapier verbargen.

Dabei war die Ausstattung der Salons in der 3. Klasse recht gut. Alles war nagelneu, denn sie befanden sich ja auf der Jungfernfahrt eines gerade vom Stapel gelaufenen Schiffes. Da ist ein Rauchsalon, ein Damensalon – gediegen eingerichtet –; es gibt Wachräume und Toiletten mit Wasserspülung.

Der Speisesaal ist mit gedeckten Tischen ausgestattet, tadellosem Geschirr, Besteck und Servietten. Das Essen ist auch in der 3. Klasse sehr reichhaltig und abwechslungsreich. Für die Leute aus Galizien und Rumänien ist es sogar zu viel, wie die Stewardess meiner zukünftigen Oma erklärte.

„Sie bekommen zu viel zu essen. Sie sind in ihrem ganzen Leben nicht richtig satt geworden und versuchen nun bei jeder Mahlzeit das, was sie beim besten Willen nicht mehr herunterbringen können, sich aufzuheben. In Zeitungspapier, in Taschentüchern, in Unterröcken, lose in den Taschen. Aber nicht bloß Obst und Kuchenstücke, nein, auch fettige Fleischstücke. Manche schlingen den ganzen Tag, essen den Rest noch kurz vor den neuen Mahlzeiten, so dass sie von dem frischen Essen mit jedem Male mehr übriglassen müssen, das sie sich dann wieder aufheben und verstecken. Nach vier, fünf Tagen können sie es nicht mehr richtig verstecken, ach, das liegt oft nicht bloß in den Betten, auch im Lesezimmer unter den Sofas, irgendwo an Deck, sogar in den Toiletten. Ja. Und immer sind sie in Angst, ein anderer könnte es ihnen stehlen. Weil wir ihnen zu viel zu essen geben, haben sie Angst, sie werden nicht satt.“

 

Nach 12 Tagen auf See ertönte irgendwann zwischen Nacht und Morgen aus vielen Kehlen „Land! Amerika!“ Und so schildert Ehm Welk seine Ankunft im Gelobten Land:

„Gelber wird der Nebel und dünner, bald ist das ganze Schiff zu sehen, Wasser wächst in die Breite, verscheucht die Stille und gebiert unter Wimmern, Heulen und Pfeifen plumpe Ozeanriesen, die leblos liegen, und zierlich rennende Flusszwerge. Dann reißt, nach einer Viertelstunde erregten und fast stillen Starrens, der mürbe Vorhang aus Wasserdunst jäh auseinander und hebt sich, und aus den Fetzen schälen sich, leuchtender mit jeder Sekunde, die ersehnten Küsten Amerikas.

Wie seltsam ist das doch: Bis ins letzte Dorf Galiziens und Rumäniens wissen sie um diese Freiheit der Unabhängigkeit und Menschlichkeit und um die riesengroße Figur, die als Freiheitsgöttin vor Amerika steht, und die man als erstes bei der Ankunft zu sehen bekommt.

‚Da habt ihr die grüne Mary mit der Klopfpeitsche!‘ ruft ein Matrose den Auswanderern zu. Sie verstehen nicht, was er mein, und es ist auch nicht wahr, dass das, was die Figur in der Hand hält, eine Klopfpeitsche ist. Es ist eine Fackel, und wenn man sie aus der Entfernung verwechseln kann, so doch höchstens mit einer Keule, bestimmt, die Feinde der Freiheit zu zerschmettern.

Aber die Auswanderer haben keine Zeit, solche Vergleiche zu machen, in ihrem Blickfeld ragen nun hunderte von rauchenden Fabrikschloten auf. Da vergessen sie die Figur, alle, und reden nur noch von Arbeit, von Dollars und Verdienen, laut, hastig, fiebernd schon, als seien sie in diesem Lande groß geworden. Und so übersehen sie die drohenden Gebäude, die halbrechts aufsteigen wie eine Festung: Es ist Ellis Island, die Einwandererinsel.“

 

Direkt nachdem die „Sierra Nevada“ am Peer von Hoboken festgemacht hatte, durften die Passagiere der 1. Und 2. Klasse das Schiff verlassen. Die Passagiere der 3. Klasse aber mussten warten, was ihnen endlos vorkam, bis sie endlich mit Tender-Booten nach Ellis Island gebracht wurden, wo mein Großvater und meine Großmutter die 50zig stufige steile Treppe zum Registrier-Raum hochsteigen mussten, wobei sie von Ärzten beobachtet wurden. Oben angekommen durften sie durch eine Tür mit der Aufschrift „Push to New York“ treten und waren angenommen.

 

Als wir an einem späten Vormittag – es muss im Sommer 1956 gewesen sein – meine mir fast unbekannten Großeltern mit der „Sierra Nevada“ wieder einmal auf die Reise über den großen Teich geschickt hatten, und Kasperl mir den neuen Modetanz vorführte, den er Charleston nannte, kam mein Opa Fritz die knarrende Treppe hinauf geschlürft und unterbrach unser Spiel. Ob ich mit ihm morgen zu meinen Eltern nach Solingen fahren wollte, fragte er mich; der Postbote habe ihm gerade die Erlaubnis von der Volkspolizei gebracht. – Und ob ich wollte!

Kasperl aber hörte nicht auf, seine Hüften, Schenkel und Hinterbacken zu bewegen und ließ seine Hände alle Teile des Körpers wie in Ekstase berühren. Er machte abwechselnden X- und O-Beine und drehte Knie und Füße nach außen und innen, ging sogar in Hockstellung. Ich hatte den Eindruck, dass sein Gesicht plötzlich alle Fröhlichkeit verlor, aber ich achtete vor lauter Freude, meine Mutter wiederzusehen, nicht weiter darauf.

Vier Jahre lebte ich nun schon bei meinen Großeltern in der Schulstraße, wo ich mich eigentlich ganz wohl fühlte, wenn ich in Haus und Garten meinen eigenen Geschäften nachging, die meine Großeltern und meinen Onkel nichts angingen. Und da sie mich gewähren ließen, hatte ich auch zugestimmt, als ich in die Schule gehen sollte. Zwar profitierte ich von meinen damaligen Lehrern nicht besonders, obwohl einige von ihnen sich große Mühe gaben, aus mit ein hoffnungsvolles Mitglied der sozialistischen Lebensgemeinschaft zu machen, aber ich ließ mich nicht von den Parolen der Partei einfangen und blieb auch den jungen Pionieren fern, da mein Opa Fritz mir die Welt auf seine Weise erklärte und mir nicht erlaubte, Junger Pionier zu werden.

Gelegentlich beschoss ich das Fenster jenes Raumes, in dem die Pioniere sich regelmäßig zu ihren Gruppenversammlungen trafen, von meinem Garten aus mit meiner Armbrust, aber die Spannkraft der Eisenstäbe, die mein Opa beim Bau dieser Waffe verwendet hatte, reichten nicht aus, um meine mit bleierner Spitze versehenen Holzbolzen durch die Fensterscheiben zu schleudern. Und der Verlust von vier Bolzen beförderte meine Einsicht, dass diese Bemühungen eigentlich sinnlos waren.

Ich hatte gerade die vierte Klasse erfolgreich abgeschlossen und genoss die Sommerferien, die erst zwei Wochen alt waren. Da hatten wir noch sechs lange Wochen vor uns und die wollte ich gerne bei meiner Mutter in Solingen verleben. Sie hatte mir in einem langen Brief über eine Wohnung geschrieben, die gerade fertig geworden war; und da stellte ich mir vor, wie herrlich es sein müsste, wenn ich dort in meinem Bett liegen und vor dem Einschlafen durch die noch einen Spalt geöffnete Tür hören würde, wie meine Mutter in der Küche die Reste des Abendbrots beseitigte, bis es allmählich stiller im Haus wurde und ich einschlafen konnte.

Meine Oma packte meinen Koffer und ich durfte Bär und Mi mit hineinlegen, während Kasperl wieder in sein spezielles Köfferchen wanderte. Er sagte nichts zu der bevorstehenden Reise, aber er schien sich nicht auf den Westen zu freuen, obwohl er als geborener Amerikaner doch eine gewisse Sehnsucht nach der Welt von Lucky Strike und Coca Cola haben musste.

Abends lag ich noch lange wach; ich konnte nicht einschlafen und dachte an unsere Reise und an meine Mutter. Von einem Kühlschrank hatte sie mir geschrieben, in dem sie frische Milch aufbewahrte; so etwas hatten meine Großeltern nicht, und von saftiger kühler Fleischwurst, so wie ich sie von Heyneckes kannte und die man zwischen zwei Butterbrote klemmte. Große Mengen von Schokolade stellte ich mir vor, Eszet-Mandelsplitter, wie sie mir meine Mutter regelmäßig in die Pakete legte, die meine Großeltern von ihr erhielten. Und als ich mitten in der Nacht aufwachte, dachte ich an meine Erlebnisse in Memmingen und den Flüchtlingslagern, vor allem aber durchfocht ich noch einmal die Kämpfe mit den Feuerdrachen und rettete schöne Prinzessinnen.

Als wir am nächsten Morgen zum Bus gehen wollten, der uns nach Sudenburg fahren sollte, weinte meine Oma; ich aber wunderte mich, da wir doch in spätestens vier Wochen wieder zurückkommen wollten. Die Straßenbahn schaukelte uns über ausgeschlagene Gleise und am Hasselbachplatz mussten wir umsteigen. Im Magdeburger Hauptbahnhof kletterten wir in den fauchenden Interzonenzug und die große Reise begann. Als wir die schikanösen Kontrollen an der Zonengrenze hinter uns hatten und der Zug wieder über die endlosen Gleise ratterte, packte mein Opa die leckeren Sachen aus, die ihm meine Oma mitgegeben hatte, und ich spachtelte in Braunschweig nach Herzenslust Kartoffelsalat und trank in Minden auch von dem sauren Apfelsaft, den wir dabei hatten. Die Telegraphenmasten sausten vorbei und ich sah von Hamm bis Schwerte aus dem Abteilfenster, wie die Drähte immer auf- und niederschwangen.

Mein Opa fragte mich, was ich von Amerika wusste. Das war nun eine ganze Menge und ich erzählte ihm ganz begeistert von der Reise über den Großen Teich, die ich gerade mit Kasperls Hilfe inszeniert hatte. Da zog mein Opa Fritz mit bedeutungsvollem Lächeln ein braunes Album aus seiner Aktentasche, in der er unsere Reisepapiere aufbewahrte, und legte es mir auf den Schoß. Ich war sprachlos. Woher er das hätte, fragte ich, als er es aufschlug. „Vom Boden“, sagte er; „ich habe euch beim Spielen beobachtet und es heute Morgen eingesteckt. Wir könne es jetzt gut gebrauchen.“ Er deutete auf das Foto, dass meine Oma Ella und meinen Opa Alex mit ihren Freunden auf der Fahrt nach Amerika zeigte.

„Du fährst auch nach Amerika“, sagte er. – „Wann?“ – „Vielleicht schon nächste Woche.“ Und dann erzählte er mir, dass meine Eltern vorhatten, nach Amerika auszuwandern und dass wir bei meinem Opa Alex am großen See wohnen sollten. Dann blätterten wir in dem Album, sahen uns alle Bilder gemeinsam an und mein Opa Fritz erzählte mir alles, was er von Amerika wusste.

Als er zu erzählen begann, stellte ich mir vor, wie das sein würde auf dem großen Schiff, mit dem wir über den Großen Teich fahren wollten. Dann sah ich die Wolkenkratzer von New York und stellte mir vor, wie uns meine Oma Ellen in ihrer Wohnung am Hudson River mit Mandarinen und mit eisgekühltem Zitronensaft bewirtete. Nach ein paar Tagen stiegen wir in ein Flugzeug, das uns über die weiten Prärien zu den großen Seen bringen sollte, denn die große Zeit der Dampflokomotiven war vorbei, seitdem die Super Constellation diese Aufgabe viel schneller erledigen konnte.

Ob mein Opa Alex ein eigenes Boot besaß? Oder Pferde? Dann konnte ich auf einem reiten und mich im Lasso-Werfen üben, wie es der Cowboy auf dem Pullover meines Vaters mir gezeigt hatte. Vielleicht gab es in den Wäldern um die großen Seen noch Indianer oder ich konnte jagen gehen, wie ich es im Lederstrumpf gelesen hatte. So verging die lange Eisenbahnfahrt und wir stiegen frohgemut in Solingen-Ohligs aus dem Interzonenzug.

Der Bus der Linie 2 hangelte sich an seinen Stromkabeln entlang und spuckte uns am Demmeltrath aus. Als meine Mutter die Tür öffnete und uns beide sah, machte sie große Augen und ich sah, wie ihr die Spucke wegblieb. Es gab einen heftigen Wortwechsel zwischen Vater und Tochter und allmählich begriff ich es: Wir waren zu spät gekommen.

Und ich verstand langsam, was da passiert war. Mein Vater war vor ein paar Tagen in den Zug gestiegen und auf den Spuren seiner Eltern von Bremerhaven aus mit dem Passagierschiff „Berlin“ über Halifax nach New York gefahren. Seine Mutter hat er in Manhattan nicht angetroffen, aber – so berichtete mir meine Mutter – er sei bei Opa Alex in Syracuse angekommen und helfe dem nun beim Kochen. Schon bald würden wir beide ihm nachreisen, versprach sie mir, aber er müsse dazu erst einmal das kleine Häuschen bauen, in dem wir dann gemeinsam wohnen sollten.

Da erinnerte ich mich daran, dass er das mit dem Häuschen schon einmal gesagt hatte und zwar damals in Memmingen, wo wir an einem Sonntag an einer Reihe neu gebauter Einfamilienhäuser vorbeispaziert waren und mir die grelle Mittagssonne Kopfschmerzen bereitet hatte.

So war mein Traum von Amerika schon nach wenigen Stunden geplatzt und mir blieb nichts anderes übrig, mich nach einem anderen Terrain umzusehen, wo ich meiner Fantasie freien Lauf lassen konnte.

 

Bald begann ich, die Amerika-Romane von Karl May zu verschlinge und ritt neben Old Shatterhand durch die Staaten. Mit ihm, den anderen Westmännern und den Indianerhäuptlingen mussten wir immer neue Schurkereien vereiteln, und ich ärgerte mich, wenn einer meiner Freunde wieder einmal wegen seines großen Edelmuts Verbrecher frei ließ, die schimpfend und fluchend hinter dem nächsten Waldsaum verschwanden, nur um uns ein paar Stunden später schon wieder aus dem Hinterhalt anzugreifen. So war der Tod Winnetous nur die Konsequenz des ewigen Gutseins und eine Frage der Zeit, aber ich weinte trotzdem an dieser Stelle immer so bitterlich, wie mein Vater zwei Jahrzehnte zuvor über das Missgeschick von Luis Trenker geweint hatte.

In den ersten Monaten schrieb mein Vater mehrmals im Monat Briefe an meine Mutter; auch kamen regelmäßig Pakete mit Schokolade, Kaffee, Zigaretten und Nylonstrümpfen; einmal fiel auch ein rotes Auto aus dem Paket, das war für mich. Geschrieben hat mir mein Vater nie, auch später nicht, als ich das Gymnasium besuchte und meine Mutter ihm stolz berichtete, dass ich fleißig Latein lernte. Allmählich verlor ich die Lust, nach Amerika zu fahren und auch Kasperl konnte mich nicht mehr dazu bewegen, unsere Reisen in die Neue Welt zu inszenieren. Das war aber schon in dem Jahr, als er meiner Mutter aus Syracuse mitteilte, dass mein Opa Alex gestorben sei. Dann kamen Briefe aus Guttenberg in Iowa und meine Mutter erzählte mir, dass wir noch ein bisschen warten müssten mit dem Auswandern nach Amerika. Denn mein Vater sei schon wieder arbeitslos und das Haus, in dem wir zusammen wohnen sollten, habe er auch noch nicht gebaut.

Als ich die Quinta des städtischen Gymnasiums besuchte und meine Mutter uns auf einem Wandertag in die Ohligser Heide begleitete, verliebte sich mein Deutschlehrer in sie und machte ihr den Hof. Diese Verbindung, die meine Mutter vor mir verheimlichen wollte, ersparte mir zwar einige Ohrfeigen, denn Dr. Huhn teilte mit seiner rechten Hand mächtige Schläge aus, wenn jemand von uns die Hausaufgaben vergessen hatte, aber mich konnte sie nicht belügen. Denn sie leugnete mir gegenüber, dass sie es mit meinem Lehrer trieb, der den martialischen Vornahmen Siegfried trug und ebensolche Ohrfeigen austeilte, und die Zeit, in der ich mich nach einem Vater sehnte, ging langsam vorbei.

In der Quarta wurden die Briefe von meinem Vater immer spärlicher, Pakete kamen überhaupt keine mehr und am Küchentisch unserer kleinen Wohnung saßen immer mal wieder neue Onkel, die meine Mutter in dem Betrieb kennen gelernt hatte, in dem sie arbeitete. Mein Vater fehlte mir nicht.

 

Julia