Wieder da

  Mein erster Schultag

 

 

 

 

Erst ein halbes Jahr später, als ich mich wieder im vertrauten Hause meiner Großeltern eingelebt hatte, war es mir möglich, meine Erlebnisse mit Kasperls Hilfe auf unserer Dachbodenbühne darzustellen. Ich erinnerte mich daran, wie sich die Schienenwürmer auf dem Bahngelände in Gießen ineinander verdrehten, hörte die schnaufenden Drachen heran jagen und sah, wie sie schwarze Rauchwolken aushusteten, stand im strömenden Regen vor dem zerbröckelnden Mauern der Solingen Gaststätte, in der man nur auf dem Plumpsklo Ruhe fand, suchte mit einigen anderen Kindern in einer Schlackenhalde nach dem glänzenden Großen Mamut, der sich selber verstecken konnte und der nur sehr schwer zu finden war, aß Gravensteiner Äpfel aus meinem Garten, die mir mein Opa von meinem Lieblingsbaum gepflückt und in einem Pappkarton geschickt hatte, bekam zu meinem Geburtstag eine Tafel Schokolade geschenkt, wollte mich nicht an die Tanten im Kindergarten am Roten Platz erinnern, sah am Himmel einen Flieger vorbeibrummen, der seinen „Lunika wäscht wunderbar“-Schwanz an Wattebäuschen vorüber zog, drehte einen Schlüssel achtmal nach rechts und ließ das rote Auto im Kreis fahren, verscheuchte mit gelb bemalten Holzknarren Katzen und Vögel und ließ grüne Blechfrösche springen, die alle Erdal hießen. Schließlich schenkte mir eine gute Tante, die meine Eltern erst in Solingen kennen gelernt hatten, einen nagelneuen Roller mit Ballonreifen. Ich wusste gar nicht, wie viele Tanten ich hatte. Die mit dem Ballonroller hieß Maria und war eine Schwester von meinem Opa in Amerika.

In meiner Erinnerung waren diese Bilder hängen geblieben, mit deren Hilfe ich ein paar Monate später, als ich in der Schule leidlich schreiben gelernt hatte, ein Drehbuch für einen Film verfassen wollte. Unter dem Gerümpel auf dem Dachboden hatte ich nämlich ein Dux-Kino mit 15 Filmen gefunden, das angeblich von meiner Tante Lolo stammte. Nachdem ich mit Hilfe meines Opas ein paar Flachbatterien organisiert hatte, sah ich mir mit Kasperl die Fünfminuten-Filmchen mit dem Projektor an. Alles billiger Spielzeugkram; die besseren hatten viel versprechende Titel wie „Cowboy Jim“, „Die Schatzinsel“, „Das geheimnisvolle Haus“, „Am Nordpol“ und „Der Luftpirat“.

Außerdem lag ein Album von einem Fritz Vopel dabei, einem Cousin meiner Oma, der zufälligerweise den gleichen Vornamen wie mein Opa Fritz trug. Dieser Film-Fritze hatte in Babelsberg als Fotograf gearbeitet und dabei ein ganzes Album mit Filmbildern voll geklebt. Die meisten erzählten von Streifen, an denen er mitgearbeitet hatte.

In der Familie wurde schlecht über ihn gesprochen, weil Tante Rita kurz nach dem Selbstmord ihres Mannes ein Verhältnis mit ihm gehabt haben soll, denn sie wollte unbedingt zum Film. Das behauptete zumindest Theo Bullerjahn, dessen Vater 1927 mit Marlene Dietrich und Willi Forst vor der Kamera gestanden hatte, wenn er bei meinem Onkel mit den Erlebnissen seines Alten bei der UFA prahlte. Beim Durchblättern suchte ich nach Tante Rita, konnte sie aber nur unter den vielen Statisten erahnen, während der schöne Fritz Vopel in mehreren kleinen Rollen neben Hans Albers und Maria Paudler einen arroganten Schönling gab, der er im wirklichen Leben auch gewesen sein soll.

Zu den Fotos hatte er mit weißer Tinte geschrieben: „Ein blonder Traum“, „Lauben-Kolonie“, „Hitlerjunge Quax“, „Der Korvettenkapitän, „Leutnant warst du einst bei den Husaren“ und so weiter. Solche Filmtitel weckten bei mir nur mäßiges Interesse, aber einige Fotos, neben denen „F.P. 1 antwortet nicht“ geschrieben stand, interessierten mich doch.

Vor allem die Flugzeuge hatten es mir angetan; 12 kleine Kontaktabzüge und vier großformatige Fotografien ließen mich erahnen, wie die tollen Luftaufnahmen mit den großen Kameras gemacht worden waren. Solche Filme hatte ich auf meinem Dachboden nicht, aber einmal sah ich den richtigen Film „F.P. 1 antwortet nicht“ im Schafstall, unserem Dorfkino, in das ich immer sonntags um 3 Uhr trottete, und in dem neben neuen DEFA-Produktionen einige alte UFA-Filme liefen, die schon vor der Nazi-Zeit entstanden waren: Sonst zeigten sie meist russische Produktionen wie „Die geheimnisvolle Insel“ nach Jules Verne, ein toller Abenteuer, das ich mir drei- oder viermal ansah. Am meisten aber faszinierte mich der Film, an dem mein Großonkel mitgearbeitet hatte und dessen Standfotos ich bereits kannte.

Kapitänleutnant Droste will eine Flugplattform mitten im Ozean errichten, damit die Piloten auf dem Flug von Europa nach Amerika eine Landebahn zum Auftanken ihrer Flugzeuge kriegen. Mit Hilfe seines Freundes, des Piloten Hans Albers, gelingt es ihm, die Leitung der Lennartz-Werke von seinem Projekt zu überzeugen.

Weil Hans Albers immer wieder das Lied „Flieger, grüß mir die Sonne“ singt, verliebt sich die schöne Claire in ihn, eine Schwester der Eigentümer, er will sie aber nicht heiraten und lieber einmal um die ganze Welt fliegen. Währenddessen schrauben und schweißen fleißige deutsche Techniker und Arbeiter die Plattform aus Eisen und Stahl zusammen. Als das Riesending fertig ist, schippert es mitten auf den Atlantik und bleibt zwischen Amerika und Europa auf Position. Oben drauf stehen neben dem Flugplatz Hallen für die Flugzeuge. Aber ein böser Finsterling will das Schiff vernichten. Dann kommt ein Unwetter und durch ein Telefon kann man in Deutschland Schüsse und Schreie hören. Hans Albers, der an seiner Erdumrundung gescheitert ist, kann nicht von Claire lassen, fliegt mit ihr zur Plattform und baut eine Bruchlandung. Die Offiziere und Matrosen wurden mit Gas betäubt und der Kapitänleutnant Droste angeschossen. Das hat der Schurke Damsky gemacht, der böse Chefingenieur, der die Plattform versenken will, wofür er auch noch von dunklen Gestalten viel Geld bezahlt bekommt. Bevor er mit einem Boot flüchtet, dreht er die Ventile auf, damit die Plattform absaufen muss. Jetzt erkennt Hans Albers, dass Claire seinen Freund Droste mehr liebt als ihn. Der ist zwar halb tot, wird aber von Claire wieder gesund gepflegt. Da rafft sich Hans Albers auf, singt noch einmal sein Fliegerlied und saust los, um Hilfe zu holen. Als er endlich ein Schiff sichtet, springt er mit einem Fallschirm ins Meer, wird von der Schiffsbesatzung an Bord geholt und kann über Funk Hilfe herbeirufen. Eine Flotte von Schiffen und Flugzeugen macht sich auf den Weg, und man kann F.P. 1 retten.

Ich beschloss, einen noch besseren Film drehen. In meinem Film sollte die Insel viel größer werden und ich dachte mir aus, dass sie von hundert Dampfdrachen bombardiert werden soll, die ich als mutiger Flieger allein mit einem Maschinengewehr abschießen wollte. Ich begann auf dem Dachboden mit den Proben, da wir aber keine Kamera auftreiben konnten, kam ich nicht dazu, den geplanten Film zu verwirklichen. Auch überzeugte mich Kasperl, dass es besser wäre, wenn wir uns auf die Bretter konzentrierten, die für ihn die Welt bedeuteten. „Da hast du den unmittelbaren Kontakt zum Publikum und kannst die Reaktionen der Menschen spüren“, sagte er mir. „Das ist wichtig, weil du sonst ganz allein vor dich hin spielst und nie erfährst, ob du gut warst oder schlecht. Das kann dir nur das Publikum sagen.“ Und er hatte wieder einmal Recht.

Zunächst waren wir beide da oben ganz allein, dann aber meldeten sich immer mehr Leute, die bei uns mitmachen oder nur einfach zuschauen wollten. Bald lebte ein ganzes Volk dort oben und half uns dabei, unsere Stücke aufzuführen. Bär und Mi waren schon ein paar Jahre vor Kasperl aus Amerika zu mir gekommen. Ich kann mich an ihre Ankunft nicht mehr erinnern und war lange Jahre davor überzeugt, dass sie schon immer da gewesen seien; aber meine Mutti erzählte mir, dass beide von meiner Oma aus Amerika stammten.

Bär war ein dunkelbrauner Teddy mit hellbraunem Bauch aus feinem samtigem Plüsch. Ihm fehlte die hervorstechende Nase, die Bären seiner Art sonst eigen waren; sein flacher Riecher bestand nur aus einem aufgenähten schwarzen Wollflecken, über denen seine ernsten Knopf-Augen melancholisch in die Welt schauten. Nach meiner Reise auf der Lokomotive nach Magdeburg habe ich seine Adresse auf einen Zettel geschrieben und ihn mit einem Band an seinem Hals befestigt, damit er immer wieder nach Hause finden konnte, wenn ich ihn einmal wegschicken würde.

Mi war eine Ente mit zwei Stummelflügeln und einem roten Schnabel; unter den Flügeln ließ sich fühlen, dass sie aus weißem Schafsfell gemacht war. Sie konnte fliegen und wurde von meinem Vater aus der Armbeuge immer wieder in hohem Bogen durch das Wohnzimmer geschleudert, worüber ich so herzlich lachen musste, dass ich mir in die Hose machte. Nachdem ich schmerzhafte Bekanntschaft mit den harten Fingerknochen meines Vaters gemacht hatte, verlosch mein Lachen für lange Zeit, bis es in Memmingen von Kasperl wieder entfacht wurde.

Bär und Mi spielten auf dem Dachboden natürlich von Anfang an mit, da sie ja – genau wie Kasperl – aus Manhattan stammten, wo meine Großmutter sie in einem Spielzeugladen gekauft und dann in eines der Pakete gesteckt hatte, die sie an meinen Vater in Bördeleben adressierte und aus denen beide wohlbehalten im Jahr der Gründung der DDR herausgefischt wurden.

Die Wehrmachtssoldaten und die Tiere vom benachbarten Bauernhof glotzten so lange zu uns rüber, bis Kasperl diese Truppe als Claqueure akzeptierte: Pferde, Kühe, Ochsen, Esel, Schafe, Schweine, eine Ziege und eine Hofhund – alle 22 von Holz geschnitzt und bunt bemalt sowie diverses Federvieh aus Ton, Zinn und Blei (darunter drei flugunfähige Enten). Außerdem konnte ich aus meinen Spanschachteln mehr als hundert Zinnsoldaten herausschütteln, die zu Fuß oder auf Pferden mehrere bunte Haufen darstellten, denen ich aber nach einigen schlimmen Erfahrungen streng verbieten musste, während der Proben oder gar bei einer Aufführung ihre Waffen zu gebrauchen. Da gab es hessische Infanteristen und welche aus Preußen, die 1871 in Paris einmarschiert waren. Auch besaß ich berittene Jäger aus Österreich, die weniger prächtig bemalt waren und die deshalb gegen die Preußen anno 66 unterlagen. Den 1. Weltkrieg, in dem mein Opa französische Soldaten vergasen musste, hatten mehr als 50 englische und deutsche Soldaten von Maschinengewehr-Abteilungen überlebt. Mit diesen besaßen wir 160 Mann und – wenn man die Pferde mitzählte, fast 200 Zuschauer für unser Theater.

Irgendwann stießen auch noch zehn oder zwölf DDR-Indianer aus dem Landkaufhaus dazu, die sogar ein eigenes Zelt und einen Bratspieß samt Lagerfeuer mitbrachten.

In unserem Theater verhielten sich die wilden Kerle erstaunlich diszipliniert, und sie haben nur einmal, als eine schwierige Szene mich für längere Zeit ablenkte, einen der Wehrmachtssoldaten an den Marterpfahl gebunden und zu Tode gequält.

 

„Hereinspaziert! Hereinspaziert! Damen und Herren, hereinspaziert! Hier wird Ihnen was vorgelacht, aber Sie werden nicht ausgelacht. – Damen und Herren! Treten Sie ein! – Sie da! Ja, Sie mit den roten Segelohren. Kommen Sie. Hier wird Ihnen die Welt erklärt. Hier vergeht Ihnen das Lachen. Die Amis landen in Italien, kastrieren Ihren Vater und ein Haufen Russen machen gleich darauf Ihrer Mutter ein Kind. Helga und Adolf sorgen dafür, dass Sie die Revolution nicht verpassen. Und was das Beste dabei ist: Sie verlieren nicht den Kopf, ja Sie werden nicht einmal erschossen. Was aus Ihnen wird, das ist die Frage, die wir auf diesen Brettern beantworten. Und wenn Ihr Onkel ein Ei legt und dann aus den Kulissen ruft: Aus dem Bengel wird doch nichts!, so verbitten wir uns den Applaus. Nur dem Kasperl steht es zu, mit seiner Leichenbittermine ein paar Tränen zu lachen.

Gestatten: Kasperl ist mein Name, Kasperl Larifari. Ich lächere diese Welt in Grund und Boden. Nehmen Sie mich nicht ernst, auch wenn ich so gucke. Sie da! Ja, Sie, junger Mann! Sie sehen aus wie Graf Koks von der Gasanstalt. Sie sind nun mal keine Träne wert. Das müssen Sie endlich begreifen. Nehmen Sie gleich hier auf dem Rasiersitz für nur fünfzig Pfennig Platz. Kopf hoch und auf mich geschaut! Hier darf jeder nur über sich selber lachen.

Achtung, Junger Mann, jetzt beginnt der erste Akt: Zippi spielt auf dem Klavier und befummelt Ihre Mutter; Onkel Tist bezahlt Ihnen dafür eine Mark. Zippi darf durch ein Loch im Sargdeckel dabei zusehen, wie sein Busenengel nach Berlin abhaut und dann mit ‘nem englischen Flieger nach München brummt.

Im zweiten Akt wird gezeigt, wie man im Allgäu aus einem gescheiterten Neulehrer, der aus der Deutsche Demokratischen Republik abgehauen ist, einen Ostflüchtling macht, der arbeitslos in Lagern rumhängt, mit geringer Sozialhilfe vor sich hin vegetiert und seinen kleinen Sohn gelegentlich ohrfeigt. Derweilen lernt Ihre Mutter die Vorzüge des Kapitalismus kennen und wird von einer abgefeimten Kapitalistin schamlos ausgebeutet. Der evangelische Pastor und die Damen vom Arbeitsamt applaudieren dazu.

Der dritte Akt zeigt den Höhepunkt der dramatischen Handlung: Sie dürfen freiwillig in die DDR zurückkehren und dabei sogar auf der Lokomotive mitfahren.

Aber Vorsicht! Im vierten Akt unserer Komödie könnten Sie bei der planmäßigen Herausbildung der deutsch-sowjetischen Freundschaft im Abwehrkampf gegen die Boykotthetzer von einem Panzer überrollt oder gar erschossen werden! Nehmen Sie sich also in Acht!“

 

Meine Großmutter bestand darauf, dass ich mich nur in Hof und Garten aufhielt und erst, als ich bereits die zweite Klasse der Ernst-Tille-Schule besuchte, gab sie widerwillig nach und erlaubte mir auf dem Denkmalplatz zu spielen. Aber nur in Sicht- und Hörweite ihres Stubenfensters, aus dem sie sich in regelmäßigen Abständen auf einem Sofakissen abgepolstert hinauslehnte und nach mir Ausschau hielt oder, wenn sie mich nicht gleich erspähen konnte, mit durchdringender Stimme nach mir rief. Sollte ich einmal, was nur selten vorkam, nicht sofort reagieren, dann verschärften sich ihre Locklaute, schlugen bei mangelndem Erfolg in ärgerliche Rufe um, die sie in Minutenabstand wiederholte und denen ich umso schneller folgte, weil es nun galt, den Schaden zu begrenzen. Denn neben einer Tracht Prügel, die sie mir mit strenger Hand auf die gespannte Lederhose verabreichte, bedeutete ein solcher Verstoß gegen ihre ehernen Erziehungsprinzipien auch immer ein Haus-, Hof- und Gartenarrest von einem bis zwei Tagen.

Irgendwann war Lolo zu Besuch, die Tochter von Tante Resi, die mit ihrem Mann in Cracau wohnte. Sie muss damals wohl gerade schwanger gewesen sein und war daher aus natürlichen Gründen an Erziehungsproblemen interessiert. Dieser Tante verdanke ich, dass ich meine Wirkungskreise in den nächsten Jahren ausweiten konnte, allerdings nur nach und nach. So entkam ich dem Gängelband meiner Großmutter nach der energischen Intervention der jungen Tante: „Lass den Jungen doch ooch mål alleene im Dorf rumlofen. Kann doch nichts passiern. Muss doch mål selbständich werdn!“

Und wenn ich mich dann ordnungsgemäß bei meiner Großmutter abgemeldet hatte, durfte ich zunächst eine, dann zwei und später auch bis zu vier Stunden allein im Dorf herumstreichen. Allerdings unter bestimmten Auflagen: Du badest nicht im Dorfteich! Du überquerst nicht die Chaussee! Du bist pünktlich zum Essen zu Hause! und das unter strikter Einhaltung der präzise vorgegebenen Zeitlimits.

Dies einzuhalten fiel mir umso leichter, als es an markanten Punkten unseres Dorfes öffentliche Uhren gab, die ich mit geringem Aufwand zur Vergewisserung des mir noch zur Verfügung stehenden Zeitraums befragen konnte: Im Norden die von den Jungen Pionieren „Ernst Thälmann“ restaurierte Uhr am Eichplatz, wo die Busse aus Magdeburg ihre Endstelle hatten; im Nordosten hinter dem Knochenpark und nicht weit vom Krankenhaus entfernt die Uhr der katholischen Kirche, eines neugotischen Backsteinbaus; im Südosten die Uhr der alten Dorfkirche neben der Schule, die meistens zehn Minuten nach ging, und im Westen das alte Schlagwerk am Spittel, wo mir in den Fensterhöhlen zahnlose Greise und Greisinnen erschienen, die mit ihren weißen Köpfen auf den Tod warteten.

Noch heute bin ich ein äußerst pünktlicher Mensch und kann mich nicht entsinnen, zu einer Verabredung aus Nachlässigkeit jemals zu spät gekommen zu sein. Damals steckte ich meine Welt in dem von meiner Oma vorgegebenen Zeitrahmen mit Hilfe meines Rollers ab: den Dauck'schen Papierwarenladen, in dem es neben Zeichenblöcken und Buntpapier auch Bücher und Zeitschriften zu kaufen gab; die Magdeburger Straße, deren Kopfsteinpflaster mit ihren zwei rollerfreundlichen Steinbändern aus behauenem Granit zu schnellem Fahren einlud; die MTS-Station hinter dem Sportplatz, wo immer Traktoristen, die aussahen, als wären sie aus meinem Lesebuch entsprungen, an ausgefallenen Maschinen herumbastelten; die Region am Dorfteich mit den tiefen Abflüssen von Hilligers Badeanstalt, die sich ungeklärt und nach Fichtennadeln riechend mit den nach Regenfällen reißenden Fluten der Klinke mischten, des Baches, der früher einmal die Mühle angetrieben hatte; das Landkaufhaus in der Breitenstraße, wo es manchmal Indianerfiguren, widerlich süße Hallorenkugeln und bunte Glastaucher zu kaufen gab, und im Westen die alte Schmiede, wo den Pferden glühende Eisen in die qualmenden Hufe eingebrannt und Ackerwagen repariert wurden. Und natürlich die Minol-Tankstelle an der Magdeburger Straße, wo wir ab und zu einen schnittige IFA F 9 vom VEB Kraftfahrzeugwerk Audi Zwickau bewunderten.

Als es im Landkaufhaus plötzlich Indianer gab, löcherte ich meine Oma so lange, bis sie mir ein paar davon kaufte. Sie bestanden aus einer leichten Masse, die in eine zweiteilige Form eingebracht, durch Drahteinlagen stabilisiert, gepresst, aus der Form genommen, getrocknet, entgratet, grundiert und in Heimarbeit bemalt wurde. Besonders der bunte Federschmuck leuchtete bei Sonnenschein prächtig auf.

Da gab es Speerträger mit Schilden, kniende Bogenschützen, Reiter, die ihren Tomahawk schwangen, und Schleicher, die nur mit einem Messer bewaffnet waren. Die ganze Truppe bestand schließlich aus zwölf Mann, die ich gut ausgebildet hatte und immer auf Trapp hielt. Ich ließ sie durch das hohe Gras der Prärie reiten und schickte sie auf Büffeljagd. Gelegentlich mussten sie gegen die bösen Comanchen kämpfen, die sie immer besiegten, denn sie gehörten zum edlen Stamm der Apachen.

Zu Ostern fand ich im Garten, als ich nach gefärbten Eiern suchte, ein Paket mit Indianerschmuck und Waffen. Die hatte mir meine Mutter aus dem Westen geschickt. Ich setzte mir den Federschmuck auf, griff nach dem Messer und dem Tomahawk, die aus Hartgummi gefertigt waren, und zeigte alles meinen Leuten. Sie staunten über den Cowboy-Stutzen, den ich am Riemen über der Schulter trug, und wählten mich sofort zu ihrem Häuptling.

Mein Roller, den ich als Gepäckstück aus dem Westen mitgebracht hatte, erregte mit seinen Ballonreifen ein nicht unbeträchtliches Aufsehen bei Erwachsenen und unverhohlenen Neid und begehrliche Blicke bei Kindern. Mir war bald klar, dass ich ihn streng bewachen musste, ihn also niemals aus den Augen lassen durfte, auch wenn ich mir gelegentlich bei Bäcker Rogge eine Mußklappe kaufte oder bei Kalle Osterwald „een Eis für zwanzich“ holte.

Mit meiner Oma ging ich regelmäßig zum Einkaufen zu Schatz. Der Laden war nur zweihundert Meter von unserem Haus entfernt, so dass meine gehbehinderte Oma ohne Probleme hin humpeln konnte.

Wenn man durch die schmale Glastür in die Kolonialwarenhandlung eintrat, stank es nach Bohnerwachs. Ich blieb im Hintergrund, während meine Oma sich gleich anstellte und ihr Schwätzchen mit Frau Schatz begann.

Links vor der Verkaufstheke standen zwei Fässer, eines mit Salzheringen, ein zweites mit Spreegurken. Beide stinkende Inhalte blieben mir erspart, einmal deshalb, weil in unserer Familie kein Fisch gegessen wurde, zum anderen weil meine Oma die krummen Gurken aus dem Garten selber einsalzte, so dass sie mit einer Untertasse und einem großen Stein beschwert in einem grauen Steintopf den ganzen Herbst vor sich hin gären konnten. Das Ergebnis schmeckte salzig-sauer und bereitete mir Magenschmerzen.

Von der Decke hingen Bürsten und Besen herab und weiter hinten im Laden war allerlei Gerümpel aufgestapelt, drunter Bottiche und Waschbretter. Hinter der Theke standen Gefäße, aus denen Frau Schatz Mehl, Zucker und Nudeln in Tüten abfüllte, die sie auf die großen Wage legte und dann den Preis notierte. Wenn meine Oma alles in ihre Einkaufstasche gesteckt hatte, addierte Frau Schatz die Zahlen, nannte die Summe und legte das Geld, das meine Oma ihr reichte, in eine Blechkiste.

Manchmal schickte meine Oma mich rüber zu Frau Knochenmuß. Dann gab sie mir einen Korb mit, in dem noch heiße Weißblechdosen standen, auf die sie die Deckel nur lose aufgelegt hatte. Ich fürchtete mich vor dieser Frau, weil ihr Name mich an den Knochenpark im Norden des Dorfes erinnerte, auf dem noch ein paar schwarze Grabsteine standen und den ich bei Dunkelheit nicht gerne besuchte. Auch stellte ich mir schaudernd vor, dass Knochenmuß in denen Weißblechdosen stecken und von meiner Großmutter mit einem Glas Apfelmus verwechselt werden könnte. Immer, wenn Frau Knochenmuß mir freundlich die Tür öffnete, hatte ich den Geruch von verwesenden Blumen in der Nase, wie ich das auch riechen konnte, wenn ich meinen Freund Wolfgang besuchte, dessen Mutter einen Blumenladen betrieb. Die Knochenmußꞌ besaßen eine Maschine mit einem Hebel, der die Dosen mit dem Deckel fest verschloss.

Als ich dann mit meinem Korb zu meiner Großmutter zurückkam, musste ich die Dosen in den Keller unter dem alten Hausflur tragen, wo sie zu anderen in ein Regal gestellt wurden. Dort warteten sie neben Einweckgläsern mit Gurken, Bohnen, Stachelbeeren, Kirschen, Apfelmus, Birnen und Pflaumen auf den Winter, um ihr saftiges Schweinefleisch herzugeben.

Im Sommer lief ich gerne barfuß. An den ersten Tagen war das nicht immer angenehm, aber bereits nach knapp einer Woche schütze eine Hornhaut meine Füße und es ließ sich ertragen. Ich genoss das Gefühl, über Flächen zu laufen, die mit Gras oder Kräutern bewachsen waren, achtete aber genau auf Glasscherben, Nägel und spitze Steine. Wenn im Juli oder August die Sonne viele Stunden vom Himmel gebrannt hatte, musste ich schnell von Stein zu Stein springen, um mich nicht zu verbrennen; vor allem die schwarzen Kopfsteine waren sehr heiß. Man konnte auch barfuß mit dem Rad fahren, musste nur aufpassen, nicht mit den Zehen in die Speichen oder gar in die Kette zu geraten. Nur wenn es mit dem Pferdefuhrwerk auf den Acker ging, bestand Bauer Rusche oder sein Knecht darauf, dass wir Schuhe anzogen.

Wenn es stark geregnet hatte, konnten wir durch die Gossen laufen, die sich in kräftige Bäche verwandelt hatten und in Richtung Dorfteich sprudelten. Im Garten lief ich nie barfuß, weil auf den Wegen viele altersschwache Bienen krabbelten, deren Flügel zerschlissen waren und die nun sterben mussten. Da zog ich vorher ein Paar von den Holzpantinen an, die immer an der Tür zur Waschküche standen.

Auf dem Denkmalplatz kletterte ich gern auf den Sockel des eisernen Denkmals, auf dessen Säule gerade ein Adler gelandet war und mit seinen ausgebreiteten Flügeln das Gleichgewicht zu halten suchte. Im unteren Teil konnte ich mich an den Griffen der alten Kanonen hoch hangeln, die an den vier Ecken der eisernen Stele angebracht waren, und die Namen der in den Kriegen 1864,1866 und 1870/71 gefallenen Männer lesen. Ich entdeckte meinen Ur-Ur-Großvater, der Hilliger hieß und der 1866 bei Königgräz gestorben war.

Keinem von uns gelang es, über die Kanonen hinauf zum preußischen Adler zu steigen, der von oben auf uns herablachte. Sogar Erwin, der flink wie ein Eichhörnchen auf die hohe Eiche klettern konnte, die auf dem Grundstück des Kindergartens stand und auf die zu steigen meine Großmutter mir strengstens verboten hatte, konnte diese uns unerklärliche Hürde nicht überwinden.

Als der Adler bei einem Sturm seinen linken Flügel verlor, hob ich stolz die gusseisernen Reste auf und brachte sie in den Gang, der unser Haus vom Hause der Lichterfeldes trennte. Dort sind sie verrostete.

Später fegte ein Sturm das Denkmal mit Hilfe einer umstürzenden Linde vom Sockel und zertrümmerte das Gusseisen. Seitdem steht der Sockel leer und verfällt allmählich. Als er noch seine eiserne Last trug, fand ich einmal im Chorraum unserer evangelischen Kirche unter mehreren Tafeln eine mit den Namen von im Krieg gefallenen Gemeindemitgliedern. Sie erklärte mir, dass Friedrich Christian Hilliger am 27. Juli 1866 in Königenhof den Heldentod gestorben war. Die Platte wusste auch, dass der Soldat der 7. Kopanie des 1. Magdeburger Infanterie-Regiments Nr. 26 seinen schwere Verwundung in der Schlacht bei Königgräz immerhin um 24 Tage überlebt hatte.

 

Im Frühjahr kaute ich Pappelmus, so nannten wir die weißen Blüten der Robinien, die den Platz umstanden. Oder ich umwickelte auf dem Platz neben dem Denkmal, der von allem Bewuchs frei war, einen hölzernen Kiesel mit der Schnur und brachte ihn dann durch einen kräftigen Ruck zum Tanzen. Mit der Peitsche, an die ich einen alten Schnürsenkel gebunden hatte, gelang mir dies am besten. Und es knallte laut, wenn ich den Kiesel richtig getroffen hatte; dann sprang er 3, 4 Meter weit und tanzte, bis er ins Trudeln geriet und nur mit einem gezielten Hieb dahin gebracht werden konnte, weiter zu tanzen.

Im Sommer konnte ich zwei Hände schwarzer Börde-Erde aufklauben und sie in den blauen Sommerhimmel werfen. Wenn der Dreck dann auf den trockenen Boden aufprallte, erhob sich explosionsartig ein meterhoher Staubpilz, der mich an eine Atombombenexplosion erinnerte, die ich in einer Illustrierten gesehen hatte, und der bei Windstille nur ganz allmählich verging.

Wenn ich meine Indianer dabei hatte, konnte ich auf den mit Gras und Kräutern bewachsenen Stellen des Platzes bequem herumliegen und mir das wilde Treiben zwischen den Kamillenblüten und weißen Hirtentäschelblättern anschauen; wurden mir die ewigen Indianer-Kämpfe zu langweilig, blieben die fünf Findlinge, die einmal ein Hünengrab auf einem der Felder außerhalb des Dorfes gebildet hatten, und die schon seit Jahren auf dem Platz lagen. Auf dem großen Grauen konnte ich reiten, die anderen, die im Kreis darum herum lagen und nach ihrer Größe geordnet waren, luden mich zu Springspielen ein.

Die Teichstraße führte direkt zur alten Pferdeschwemme und wenn man Hilligers Badeanstalt besuchen wollte, muss man rechts daran vorbeigehen. Im Winter gefroren die Abwässer und bildeten Scholle auf Scholle schmutzig weiß und blau geäderte Eisflächen, über die Nebeldämpfe hinweg strichen. Diese Badeanstalt war jeden Freitagnachmittag mein Ziel.

Meine Oma hatte mir ein Stück Seife, ein Handtuch und frische Unterwäsche in ihre Einkaufstasche gepackt und mir ein paar Geldstücke in ein kleines Portemonnaie gesteckt. Ich lief zum Dorfteich, stieg die steilen Stufen zur Badeanstalt empor, öffnete die Tür und wurde von dem scharfen Fichtennadelgeruch begrüßt. Dann setzte ich mich auf einem freien Stuhl im Wartezimmer. Irgendwann kam Frau Hilliger, sagte mit anhebender Stimme: „Tach, Jert!“, nahm mir die Münzen ab und führte mich in einem Raum, in dem die Badewannen standen. Jede war von den anderen durch Vorhänge getrennt und knapp zur Hälfte mit warmem Wasser gefüllt. Ich zog mich aus, legte meine Kleider auf einen Hocker und stieg von den Frauen unbeobachtet ins Fichtennadel-Wasser. Wenn ich große Wellen machte, die über den Wannenrand platschten, wurde ich ausgeschimpft. Die Badezeit betrug 15 Minuten, einschließlich Aus- und Ankleiden, wie mich ein Schild belehrte. Frau Hilliger sagte: „Nu mach mål hin!“ Dennoch hielt ich es zwanzig Minuten in der Badewanne aus und schwebte sorglos im grünen Wasser. Dabei spürten meine Ohren unter Wasser die Stöße der Pumpe, die das warme Wasser aus dem Keller in einen Behälter im zweiten Stock pumpte, aus dem es in die Wannen gelassen werden konnte.

Im Sommer sprangen Erwin und ein paar andere Jungen in den Teich und zeigten uns das Hundepaddeln. Ich aber durfte dort nicht baden, denn ich konnte noch nicht schwimmen. Der alte Röpke warf einmal einen Sack hinein, in den hatte er sechs junge Katzen und einen Pflasterstein gesteckt, die sollten nun ertrinken. „Lasse doch leben, Onkel!“, sagte Ulli Hitzig. „Halte Fresse, Lümmel!“ Wir Fünf standen sprachlos am Rand und sahen hinter dem ollen Röpke her, der zufrieden weg latschte. Erwin aber holte tief Luft, sprang hinterher und tauchte lange. Wir standen oben und ließen uns von seinen nackten Beinen zuwinken. Dann kam er hoch, das Wasser lief ihm über die verkniffenen Augen, statt Rotz hing Entengrütze unter seiner Nase. Er wuchtete triumphierend den Sack vor sich auf die Steine und zog dann seinen Körper nach. Der Sack bewegte sich. „Die leben noch“, sagte Udo Roseburg. Ulli Hitzig hatte schon den Knoten aufgedröselt und holte eines von den Kätzchen raus. „Sind noch blind“, sagte Erwin. Die Katzen bewegten sich, hatten aber aufgetriebene Bäuche. Erwin nahm das erste Kätzchen in die rechte Hand. „Is schon so jut wie dot“, sagte er, „kannste nüschs machen“, und schleuderte es aus kurzer Entfernung an die Wand; dann quackte er noch fünf Kätzchen daneben. Die schlaffen Körper sammelte er auf, steckte sie in den Sack und schüttete sie auf Preschers Misthaufen. „Damit se nich vonne Schweine jefressn wern“, sagte Erwin und wir bauten ihnen direkt neben dem Denkmal ein Grab, auf die ich Gänseblümchen und Kamille pflanzte.

Im August kamen Leute von der LPG und der Feuerwehr und sollten den Teich ausräumen, damit sich die Pferde beim Durchreiten nicht mehr verletzen konnten. Zwei Männer hatten Gummizeug an, wie es die Fischer an der Elbe tragen. Sie holten zunächst alte Eimer raus, dann schmierige Lumpen und schließlich drei oder vier Gewehre. Nach diesem Fund arbeiteten die Männer vorsichtiger. „Villeich liecht Munitjon drinne“, sagte einer der Zuschauer, ich glaube, es war der alte Helmecke. Nach ein paar Minuten hatten sie etwas Schweres gefunden, wussten aber nicht, was da im Schlamm steckte. Ein Bursche wurde zu Udo Roseburgs Vater geschickt. Die Männer im Teich ließen sich eine Kette reichen, die sie im trüben Wasser irgendwo befestigten. Dann kam der alte Roseburg mit seinem LKW. Er setzte den Wagen zurück bis zur Wasserkante und befestigte eigenhändig das Kettenende am Haken. Er schwang sich auf den Fahrersitz und gab Gas. Der Motor dröhnte, langsam zog der Wagen an, die Kette spannte sich. Etwas Sperriges wurde ans Tageslicht gezerrt, schwarzgrün, schlammbedeckt, kantig. Wir erkannten einen Jeep mit zerschossener Scheibe. Einer rief „Haalt!“ Der LKW stoppte und der alte Roseburg zog die Handbremse fest. „Villeich tut noch een doter Ami drinne sitzen“, sagte einer, ich glaube, es war Sabbel Köbke.

Sein älterer Bruder sagte zu mir: „Da wollten se fünfundvierzich deine Oma drinne ersäufen.“ – „Wer?“, fragte ich. – „Na, die Kommunissen von die Häuser an die Chaussee!“ – „Und warum?“ – „Weeß ich ooch nich. Da hat so olles Weib aufm Denkmålplatz rumjeschrieen, se wollte ihre Kinder widerhåm. Die von die Nazis abjeholt worden wåren.“

Udo hatte drei Taucher; sie waren aus Glas geblasen; einer war grün, einer rot und einer blau. „Zeig mal!“, riefen wir anderen und Udo zeigte es uns. Die Flasche war mit Wasser gefüllt und mit einem roten Gummipfropfen verstöpselt. Wir sahen die Glastaucher ruhig in der Mitte schweben. Udo drückte mit dem Daumen und alle drei sanken auf den Flaschenboden. Udo ließ mit dem Druck nach und die Taucher schwebten langsam nach oben.

„Lass uns auch mal!“, riefen wir, aber Udo ließ uns nicht und drückte die drei wieder ganz nach unten, wo sie ruhig auf dem Flaschenboden standen. „Passt mal alle auf!“ Und er ließ mit einem Ruck los. Da sahen wir, wie die Taucher schnell auftauchten. Dann drückte Udo kräftig mit seinem Daumen und sie tanzten wieder hinunter und drehten sich schnell um sich selber.

Irgendwann bekam ich auch einen Taucher. Ich suchte mir eine große Flasche aus klarem Glas und nahm vom Boden einen Gummipfropfen mit. Dann füllte ich die Flasche randvoll mit Brunnenwasser. Schwierig war es, den Taucher mit der richtigen Wassermenge zu füllen. Ich musste immer wieder nachfüllen oder Wasser aus dem kleinen Glasteufel heraussagen, bis er gerade eben an die Wasseroberfläche heraufkam. Wenn ich dann den Pfropfen über den Flaschenhals gestreift hatte, konnte ich den Glasteufel durch leichtes Drücken hinabtauchen lassen. War er gut ausgewogen, konnte ich ihn nach Herzenslust tanzen lassen.

 

„Was sollen wir jetzt spielen?“, fragte mich Kasperl, als ich mit ihm wieder zu Hause war. – „Wie das Kommunistenweib meine Oma im Teich ertränken wollte“, sagte ich. – „Lass man, das machen wir später. Helga war heute hier und hat nach dir gefragt. Sie humpelt immer noch. Wir zeigen jetzt die Geschichte von dem Schuss ins Bein!“, rief Kasperl. – „Ja“, sagte ich, „ich hole meinen Cowboy-Stutzen. How!“

Kasperl organisierte das Vorspiel auf dem Theater: Die Schule ist um halb elf zu Ende und Helga holt mich ab. – „Wir fahrn nach Machteburch, da is heute was los!“, empfängt sie mich und gibt mir eine Fleischwurst-Stulle. – „Und Oma?“, frage ich besorgt. – „Die weeß Bescheed, du darfs mit. Kom‘ ma, der Bus fährt um fünwe nach.“

Sie nimmt mich an der Hand und ich schleppe meinen Tornister, in dem Kasperl auf den Büchern hockt und auf seinen Auftritt wartet. Wir laufen zum Eichplatz, wo der Bus schon wartet. „Adolf is schon früher los“, sagt Helga, „wir treffen ihn am Hasselbach.“ – Wir steigen ein, Helga löst Fahrkarten und ich setze mich auf einen Sitz am Fenster. Sie lässt sich auf den Platz neben mir fallen, nimmt mich in den Arm und drückte mich heftig. – „Wo issen Adolf jetze?“, frage ich. Aber Helga antwortet nicht und starrt nur aus dem Fenster. Ich will ihr zwischen die Beine greifen, aber sie schiebt meine Hand zur Seite und starrt weiter aus dem Fenster.

„Wir brauchen Straßenbahnen!“, ruft Kasperl. Ich hole den Kasten mit der Blech-Eisenbahn aus der Ecke. Vier Wagen und eine Lock stecken im Karton. „Die reichen“, sagt Kasperl. Ich ernenne sie zur Linie 4 und schiebe sie, obwohl sie eigentlich nach Cracau zu Tante Lolo fährt, durch Sudenburg, am Eiskellerplatz vorbei bis zum Eike-von-Repgow-Denkmal. Da bleibt die erste stehen und die anderen stauen sich dahinter. Die Fahrt ist zu Ende. Alle müssen aussteigen.

„Da steht Adolf“, ruft Helga und zerrt mich an den Straßenbahnen vorbei, bis wir am Denkmal ankommen. Adolf ist ein hochaufgeschossener Junge mit blonden Haarspießen; er lehnt in seinem ausgebeulten Trainingsanzug an einer Straßenlaterne und wartet offenbar schon länger auf uns.

Helga sagt: „Ich habe den Kahlen mitjebracht.“ – Adolf sagt nichts, streicht mir über den Kopf und greift mit beiden Armen nach Helga, umarmt sie und will sie küssen. Helga biegt ihren Leib nach hinten und knurrt: „Nich hier, lass må!“ Ich sehe, wie der Adolf seine linke Hand von hinten zwischen Helgas Pobacken drückt und wie sie zuckt. – „Nich vor die Leute!“, zischt sie. Um uns stehen viele Menschen.

 

Jetzt ist die Zeit für Kasperl gekommen. Ich öffne die Klappe meines Tornisters, der Ami springt behände heraus und fängt an zu organisieren. Die Menschen rechts und links macht er zu Statisten. Er improvisiert eine Demonstration vor dem Gerichtsgebäude an der Halberstädter Straße, zwischen Sudenburger Wuhne und dem Konsum-Warenhaus. Bald brennt ein lustiges Feuer, aus dem Fenster fliegen Akten und Bilder und es herrscht eine fröhliche und ausgelassene Stimmung. Viele Menschen umarmten sich.

„Wen wollt ihr haben?“, fragt einer. Die Menge ruft: „Ulbricht! Ulbricht! Wir wolln den Spitzbart!“ Dann fliegt ein Besenstiel mit einem Ulbricht-Bild herunter und wird von den Leuten ins Feuer geworfen. Ich schnappe mir den Besenstiel, schüre mit ein paar anderen Jungen das Feuer und achte darauf, dass die Aktenordner, die zu uns runter geworfen werden, auch ordentlich anbrennen.

Vor uns staut sich eine große Menschenmenge. Dann hören wir lautstarke Gesänge. Die Arbeiter von Bukau kommen in Sechserreihen und zu Blöcken organisiert um die Ecke marschiert. Einige tragen Fahnen und selbst gemachte Transparente. Kasperl liest uns vor: „Für freie Wahlen!“ und „Der Spitzbart muss weg!“ Die Männer mit den entschlossenen Gesichtern winken Kasperl freundlich zu.

Wir ziehen mit der Menge zum Gefängnistor; aus den Zellenfenstern winken welche mit Tüchern und Gegenständen. Das Tor zum Gefängnis ist verschlossen. Ein paar junge Kerle versuchen, es mit einem Balken aufzurammen. „Die Akten her, wir müssen das Tor anbrennen!“, ruft Kasperl. Wir Jungen bringen Aktenordner und andere Papiere zu ihm und werfen alles auf einen großen Haufen. Er zündet den Haufen an und bald lodert auch am Gefängnistor ein ordentliches Feuer. Dann knallen Schüsse, die Tür werden geöffnet und einige Leute springen heraus. Die Menge jubelt.

Plötzlich gibt es Getöse und ein Kampfpanzer fährt mit einer Rauchwolke die schmale Einfahrt zwischen Gerichtsgebäude und dem Metallzaun zur Sudenburger Wuhne hinein. „Die Russen kommen!“, rufen einige und flüchten in Richtung Gefängnis, doch andere versuchen mit Lattenschlägen und Steinwürfen die Panzerwagen aufzuhalten, die jetzt vom Hasselbachplatz her anrollen. Ich erinnere mich an meinen Kampf gegen die qualmenden Drachen auf dem Rangierbahnhof in Gießen und weiß sofort, was ich tun muss. Als ich vor einem der heranfahrenden T 34 im letzten Moment die Straßenbahnschienen überquere, sehe ich Kasperl in vorderster Front, wie er die Leute antreibt und aufmuntert.

In der nächsten Szene fallen Schüsse. Helga schreit gellend auf und stürzt nieder. Ich hocke mich neben sie; viele Menschen laufen zur anderen Straßenseite und einige trampeln über mich hinweg. Kasperl ist nicht da. „Was machste man bloß, Helga?“, frage ich und zerre an ihrem Ärmel. „Steh uff, komm, wir loofen nach Hause.“ Aber Helga antwortet nicht. Die liegt verkrümmt auf dem Pflaster und hält ihr Bein mit beiden Armen umklammert. Es blutet stark. Endlich kommt Adolf, stößt mich zur Seite und kniet sich neben Helga. Mit Helgas Unterrock versucht er, das Blut zu stillen.

 

„Wie geht es jetzt weiter?“, fragte ich Kasperl, als wir unser Stück soweit gespielt hatten, und er antwortete: „Denk genau nach!“ Ich stand auf und blickte mich um. Da sehe ich, wie sich weitere Panzer und Schützenpanzerwagen auf der Halberstädter Straße in Höhe des Gerichtsgebäudes postierten. Leute versuchen, mit den Russen zu diskutieren, die aus den Fahrzeugen kletterten, andere, darunter meinte ich Kasperl zu erkennen, bewerfen die Fahrzeuge mit Steinen. Die Besatzungen der Panzer verschwinden plötzlich in ihren Fahrzeugen und stellen die Geschütze nach oben. Die Salven scheppern durch die Straßenschlucht und ich halte mir beide Ohren zu. Straßenbahndrähte fliegen auseinander und ich krieche auf allen Vieren zurück zu der Stelle, wo hinter einer niedrigen Mauer Helga liegt und Adolf neben ihr kauert.

„Wir müssen se hier wech bringen Kleener“, sagt er, legt sich Helgas Arm über die Schulter und hebt sie empor; so kann sie mit schmerzverzerrtem Gesicht mühsam auf ihrem unverletzt gebliebenen Bein humpeln und ich drücke an ihrem Po. Meinen Schulranzen ist nicht mehr da.

Auf der Straße hat sich ein Kettenfahrzeug in runter gefallenen Straßenbahndrähten verfangen und dreht sich mit laut aufheulendem Motor um die eigene Achse. Pflastersteine werden hoch gewirbelt, von denen ein paar direkt neben uns an die Mauer schlagen. Ich höre Scheiben splittern; das waren wohl die Schaufenster vom Konsum. Wieder peitschen Schüsse über die Straße, und wir hören Maschinengewehrsalven von den Panzerfahrzeugen her bellen. Dann haben wir uns bis zur Leipziger Straße durchgeschlagen.

In diesem Moment kommt Kasperl und bringt meinen Tornister mit. „Hast was vergessen, Junge,“ sagt er nur. Dann hilft er Adolf, Helga um eine Hausecke zu zerren, wo uns ein paar niedrige Büsche Sichtschutz geben. Sirenen heulen und immer mehr Fahrzeuge kommen angerast. Dann wieder hören wir Kettenfahrzeuge durch die enge Straßenschlucht quietschten. Wir bleiben in Deckung, während Adolf sich um Helgas Bein kümmert, aus dem sie immer noch blutet.

Ich halte Helgas linke Hand fest und weiß nicht mehr, wie lange wir so im Gras lagen. Der Lärm der Straßen wird durch die steilen Häuserwände in Echos zerlegt, die uns scheppernd melden, wenn sie vergeblich versuchen, mit Serien von Schüssen die Sonnenscheibe vom Nachmittagshimmel herunter zu holen. Ich bringe meinen Cowboy-Stutzen in Anschlag und ballere ohne Vorwarnung los. Die Sonne rührt sich nicht.

Dann verschwindet Kasperl plötzlich. Als er nach einiger Zeit wieder zu uns geschlichen kommt, hat er ein Flugblatt dabei. Er liest uns den Befehl des Militärkommandanten der Stadt Magdeburg vor, der „um Zweie“ den Ausnahmezustand verhängt hat. Adolf reißt das Flugblatt mitten durch. Wie sollten wir nach Bördeleben kommen? Über die Sudenburger Wuhne können wir nicht laufen, weil Kasperl da lauter russische Soldaten gesehen hat.

Neue Szene: Plötzlich taucht Dr. Krotte auf, unser Arzt aus Bördeleben. „Na, Jert, was machste denn bloß? Wider mål mitten mank. Wenn das man deine Oma rauskricht.“ Gleich sieht er sich Helgas Bein an. Als er ihr einen Verband anlegt, schimpfte er mit Adolf und befiehlt ihm, das Mädchen in seinen Wagen zu packen, den er am Straßenrand geparkt hat. Kasperl und ich helfen dabei, Helga vorsichtig auf die hinteren Wagensitze zu verfrachten. „Los, steig ein“, sagte er.

Ich setze mich mit Kasperl auf den Rücksitz und halte Helga wieder die Hand. „Isses jetzt besser?“, frage ich, erhalte aber keine Antwort. Helga ist ganz blass um die Nase und wimmert immer noch leise vor sich hin. Den Adolf lässt der Doktor nicht einsteigen. „Hau ab, Mann und pass bloß uff, dass se dich nich erwischen!“, zischt er, dann brausen wir los. Ich kriege noch mit, dass der Doktor die Hauptstraßen meidet und mit Affenzahn auf Nebenwegen durch Lemsdorf und mit achzig durch die Kurve nach Bördeleben saust, bis wir sein Haus erreicht haben, wo er die Praxis betreibt. Bevor er Helga aus dem Wagen hievt, schickt er mich mit Kasperle nach Hause in die Schulstraße.

 

Als ich meiner Oma von unseren Erlebnissen erzählte, haute sie mich nicht etwa, wie ich erwartet hatte, sondern nahm mich unerwartet in die Arme und weinte still vor sich hin. Aber sie verbot mir, zum Rathaus zu laufen, vor dem sich am Abend viele Leute versammelt hatten. Ich hängte meinen Cowboy-Stutzen an seinen Haken und Kasperl an den großen Schrank; dann packte ich meine Schultasche für den nächsten Morgen und ging ins Bett. Meine Oma gab mir sogar einen Gute-Nacht-Kuss, was ich nicht so gerne mochte. Aber ich spürte ihre knochigen Hände, mit denen sie mich heftig umarmte und schlief bald ein.

Wolfgang, der bei der Erstürmung des Bördelebener Rathauses mithelfen durfte, erzählte mit am nächsten Morgen, dass auch da russische Soldaten angerückt kamen, aber ohne Panzer.

Ein paar Tage später wurde im Pionierzimmer der Ernst-Tille-Schule eine Ausstellung zum Thema „Sowjetpanzer – Friedensboten“ gezeigt. Wolfgang und ich mussten gleich hin. Am Abend erzählte ich meinen Opa Fritz, was ich mit meinem Freund Wolfgang in der Schule gelernt hatte, dass nämlich „die friedliche Entwicklung in der DDR und die erzielten großartigen Erfolge der Arbeiterklasse unter der Führung der SED im Bündnis mit den werktätigen Bauern und …“ Ich stockte und wusste nicht weiter.

„...und der schaffenden Intelligenz“, ergänzte mein Opa und ich konnte nun selber weiter reden: „den westlichen Kriegstreibern ein Dorn im Auge sind.“ – „Siehste, mein Junge“, sagte Opa Fritz, „das ist die kommunistische Wahrheit.“

Dann erklärte er mir, was bei uns in der DDR Sache war und sang mir vor:

Die Partei, die Partei, die hat immer Recht!
Und, Genossen, es bleibe dabei;
Denn wer kämpft für das Recht,
Der hat immer recht.
Gegen Lüge und Ausbeuterei.
Wer das Leben beleidigt,
Ist dumm oder schlecht.
Wer die Menschheit verteidigt,
Hat immer Recht.
So, aus Leninschem Geist,
Wächst, von Stalin geschweißt,
Die Partei - die Partei - die Partei.

 

Junge Pioniere aus Bördeleben wurden in der nächsten Woche nach Cracau gefahren, um ausgewählten Sowjetsoldaten für den Schutz gegen die faschistische Provokation vor dem Sudenburger Gerichtsgebäude zu danken. Mein Freund Wolfgang war dabei. Da ich kein junger Pionier war und auch keiner werden durfte, konnte ich unseren Freunden, den Sowjetsoldaten, auch nicht dafür danken, dass sie Helga ins Bein geschossen hatten.

 

Mein erster Schultag