Mein erster Schultag

  Wie Opa Fritz mir die Welt erklärte

 

 

 

 

Hereinspaziert! Hereinspaziert! Damen und Herren, hereinspaziert! Hier wird Ihnen was vorgelacht, aber Sie werden nicht ausgelacht. – Damen und Herren! Treten Sie ein! – Sie da! Ja, Sie mit den roten Segelohren. Kommen Sie. Hier wird Ihnen die Welt erklärt. Hier vergeht Ihnen das Lachen. Gleich am ersten Schultag wirft Ihnen der alte Helmecke sein Beil an den Kopf, aber keine Angst, ein Scheit steckt noch auf der Schneide; Sie riskieren nur einen Schneidezahn. Dann lernen Sie Lesen und Schreiben und werden von einem volkseigenen Kasper aus Sachsen mit der sozialistischen Moral bekannt gemacht. Wenn Sie dieser Versuchung widerstehen, applaudiert Ihnen ein großer Freundeskreis.

Vorhang auf für meinen ersten Schultag!

 

Mein erster Schultag ließ sich nicht vermeiden. Lesen konnte ich bereits, das hatte ich mir mit Hilfe meines Opas selber beigebracht und befand mich schon seit einem dreiviertel Jahr auf der unendlichen Abenteuerreise ins Land der Fantasie. Ich hatte mit Robinson Crusoe trotz starken Wellengangs den rettenden Strand erreicht, danach die wichtigsten Werkzeuge und Lebensmittel in letzter Minute vom Wrack gerettet und eine sichere Höhle gefunden, die wir gemeinsam wohnlich einrichteten und gegen wilde Tiere befestigten. Im Garten hinter dem Haus meiner Großeltern hatten die meisten meiner spannenden Expeditionen und Weltreisen stattgefunden; hier waren die hohen Berge Zentralasiens, auf die es zu klettern galt; die weiten Steppen Afrikas mit den wilden Löwen und den großen Elefanten; die gefährlichen Jagdgründe der nordamerikanischen Indianer, durch die man nur mit allergrößter Vorsicht reiten durfte; hier lebten auch meine Freude, die großen Abenteurer und Entdecker. Und es gab die endlosen Weltmeere, die mit Segelschiffen erobert werden mussten oder – wenn ein paar Jahre später Jules Verne mit von der Partie war – auch mit hochmodernen Dampfschiffen befahren werden konnten. Sogar im Winter, wenn alle Blätter abgefallen waren und die Bäume ihre Zweige wie Gerippe in den fahlen Himmel streckten, machte ich mich in meinem Garten auf, um an einer Reise zum Südpol teilzunehmen oder um mit der Nanga-Parbat-Expedition einen eisbedeckten Bergriesen im Himalaja zu bezwingen.

Aber mein Opa sagte, man könne in der Schule noch mehr lernen als Lesen, denn mit dem Schreiben tat ich mich noch schwer, und dann gäbe es da noch Rechnen und andere Fächer, von denen ich mir bisher keine Vorstellung gemacht hätte. Und meine Oma sagte kategorisch: „Der Junge muss in die Schule! Basta und Punktum!“

Also wurde ich eines Morgens sauber gewaschen und gekämmt mit meinem neuen Ranzen auf den Weg geschickt. Die Schule lag nur ein paar hundert Schritte um den Block entfernt, und in der Planke, die meinen Garten vom Schulhof trennte, war sogar eine hölzerne Pforte eingelassen, die meine Oma ausnahmsweise einmal aufgeriegelt hatte. Sie war gehbehindert und konnte nicht weiter mitkommen, drückte mir aber eine große Schultüte in den Arm, die ich dann mit einiger Mühe über den grau-bekiesten Schulhof zum Eingang des alten Backstein-Gebäudes schleppte, wo ein Schwarm aufgeregter Mütter mit ihren Kindern summte, wie ich es sonst nur mit den Bienen meines Opas erlebt hatte, wenn sie an schwülen Sommertagen ausschwärmten und sich zu Tausenden im Kirschbaum niederließen.

In der wuselnden Menge erkannte ich einige Kinder, blieb aber am Rand des Geschehens stehen, wartete, bis ein alter Mann meinen Namen aufrief und gesellte mich zur Klasse 1b. Wir mussten uns in Zweierreihen aufstellen, wurden dann ins Gebäude geführt und gingen in unseren neuen Klassenraum. Vorne stand ein Pult und hinten an der Wand hingen Bilder von Stalin, Pieck und Grotewohl, die streng auf uns herabblickten.

Ich setzte mich ganz hinten in die rechte der drei Bankreihen neben Peter Meinecke, der auch bei seiner Oma wohnte. Wir kannten uns vom Versteck-Spielen am Dorfteich und er sagte grinsend, indem er nach hinten zeigte: „Pieck und Grotewohl/ Kloppen sich um Sauerkohl/ Sauerkohl is knapp/ Und du bis app!“ Ich antwortete: „Caterina Valente/ hat 'nen Arsch wie 'ne Ente/ Hat 'nen Maul wie 'ne Kuh/ Und aus bis du!“

Mindestens vierzig aufgeregte Mütter begluckten ihre Kinder. Meine war nicht dabei, denn sie wohnte weit weg im Westen, von wo aus sie mir gelegentlich Bananen, Schokolade und Autos schickte, auf denen „Made in Western Germany“ stand und mit denen ich vor meinen Spielkameraden mächtig angeben konnte. Meine Eltern waren mit mir ein Jahr zuvor „rüberjemacht“, hatte mir aber nach drei Monaten ein Schild um den Hals gehängt, auf dem mein Name stand und die Adresse meiner Großeltern. Seit einigen Monaten bekam ich regelmäßig von meiner Mutti das Micky-Maus-Heft geschickt und war bereits damals begeisterter Donald-Duck-Fan.

Endlich verwies Lehrer Wastrack alle Mütter des Klassenzimmers, ließ ein Mädchen ihre Schultüte hochheben und malt deren Umrisse mit langen Kreidestrichen an der Tafel nach. Dann drehte er die Zeichnung um, fügte im oberen Teil einen Querstrich hinzu und sagt: „Das ist ein A.“ Danach malte er zwei umgekehrte Schultüten links vom A und sagt: „Das ist ein M.“ Karla Braune dreht sich zu mir um und sagt: „AA“, dann streckte sie mir die Zunge raus. Wir mussten beide Buchstaben im Chor wiederholen. Danach malte Lehrer Wastrack noch drei Schultüten und las uns vor: „MAMA.“ Und wir riefen: „Mama, Mama, Mama!“ Da wurde die Tür aufgerissen, aber unser Lehrer beruhigt die herein quellenden Mütter wieder: „Ihr müsst draußen bleiben!“ – „Wie die Hunde beim Fleischer Heynecke“, grinste Udo, der am Denkmalplatz wohnte. Wir lachten, denn wir nannten unsere Mamas „Mutti“. Dann mussten wir unsere Schiefertafeln und die Griffel aus den Ranzen holen und alles von der Tafel abmalen. Als Hausaufgabe sollten wir die ganze Schiefertafel voller MAMAs malen. So lernte ich unter Stalins strengen Augen das Schreiben.

Dann durften wir unsere Sachen einpacken und es wurde ein Klassenfoto gemacht. Ich fragte Karla: „Kommste nachher auf'n Denkmålplatz?“ Karla streckte mir die Zunge raus. Als das Foto fertig war, nahmen alle Muttis ihre Kinder wieder mit nach Hause. Sogar Peters Oma war da, nur ich trottete ohne Mutti alleine zum Haus meiner Großeltern zurück. Dort tröstete ich mich mit dem Inhalt meiner tiefen Schultüte, die mir meine Mutti aus dem Westen geschickt hatte und den ich besonders schätzte, nachdem mir Frau Helmecke auf dem Hof verraten hatte, dass in den meisten Schultüten meiner neuen Klassenkameraden unten Kartoffeln drin waren und „oben druff nur ‘nen påår Bollchen, weil Süßes inne Zone so teuer is“. In meiner fand ich feine Katzenzungen und Mandelsplitter-Schokolade.

Meine Lehrer gaben sich große Mühe, mir etwas Ordentliches beizubringen, nur meine Freunde, die großen Abenteurer und Entdecker, fand ich dort nicht. Aber wenn die Schule aus war und ich eilig meine Hausaufgaben gemacht hatte, dann vergaß ich die Lehranstalt und stürzte mich mit voller Wucht in ein neues Abenteuer. Dazu nahm ich manchmal auch Schulkameraden mit, zuerst nur Peter und Wolfgang, der schon die dritte Klasse besuchte, später auch Karla, als sie mir nicht mehr die Zunge rausstreckte.

Mein Opa hatte mich auf den Unterricht vorbereitet. „Ich habe dir erklärt“, sagte er, „dass der Engländer James Watt die Dampfmaschine erfunden hat.“ Ich nickte. „In der Schule aber wird man es dir anders beibringen. Merke dir Folgendes: Die Russen sind jetzt unsere Freunde. Sie sagen: 'Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen.' Daher wird man dich unterweisen, dass die Dampfmaschine von dem Russen Wladimir Puffpuff erfunden wurde.“ Ich nickte wieder und sagte: „Die Dampfmaschine hat Wladimir Puffpuff erfunden.“ „So ist es recht“, sagte mein Opa, „denn Mitschurin hat festgestellt, dass Marmelade Fett enthält. Darum gibt‘s in der dritten Dekade auf die Marken statt Margarine nur Marmelade.“ Und er sang mit mir das Lied der FDJ „Jugend Erwach!“ Den Refrain konnte ich bald mitsingen:

 

Bau auf, bau auf, bau auf, bau auf,
Freie Deutsche Jungend, bau auf.
Für eine bessre Zukunft
Richten wir die Heimat auf!

 

Ich habe in der Schule nichts von einem Russen Puffpuff gehört, aber ein Gedicht aus dem Lesebuch gelernt, das meine spätere Berufswahl beeinflussen sollte:

 

Mein Bruder ist ein Traktorist
in einem Dorf in Sachsen,
er leistet, was nur möglich ist,
damit die Halme wachsen. –

Er rechnet oft und überlegt:
Kann ich’s noch besser machen?
und wie er seinen Traktor pflegt –
das Herz kann einem lachen!

Er kämpft dafür, dass Frieden ist,
mit starken Eisenpferden.
Mein Bruder ist ein Aktivist!
Und ich will einer werden.

Ab jetzt wollte ich Aktivist werden.

 

Als ich Geburtstag hatte gratulierte mir Lehrer Wastrack. Und ich durfte mir ein Lied wünschen, das sang mir dann die ganze Klasse. Ich wählte jedes Jahr dasselbe:

 

Jetzt fängt das schöne Frühjahr an,
und alles fängt zu blühen an
auf grüner Heid und überall.

 

Es blühen Blümlein auf dem Feld;
sie blühen weiß, blau, rot und gelb,
Es gibt nichts Schönres auf der Welt.

 

Jetzt geh ich über Berg und Tal,
da hört man schon die Nachtigal
auf grüner Heid und überall.

 

Am Nachmittag spielen Erwin, Udo, Ulrich, Karla und ich Verstecken auf dem Denkmalplatz; wir zählen ab: „Ene mene mopel, wer friss‘ Popel? Süß und saftich, eene Mark und achtzich, eene Mark und zehn, und du muss‘ jeh'n!!“ Erwin versteckt sich mit mir auf unserem Hof. Der alte Helmecke ist dabei, Feuerholz zu hacken. Ihn stört es, dass wir Jungen uns hinter die Aschentonne ducken. Erwin streckt ihm die Zunge heraus. Darum wirft Helmecke mit dem Beil nach uns und trifft Erwin. Dem fehlt nun ein Schneidezahn und er muss meine Oma beruhigen, die gleich angehumpelt kommt: Am Beil steckt zum Glück noch der Holzscheit . Aber das Spiel ist aus; sie schickt Erwin nach Hause, damit ihm seine Oma das blutende Gesicht versorgen kann, und ich muss reinkommen. Als sich die Familie wieder einigermaßen beruhigt hatte und ich Kasperl abends immer noch wütend auf den alten Helmecke davon erzählte, sagte er trocken: „Jeder kann wütend werden, das ist einfach. Aber wütend auf den Richtigen zu sein, im richtigen Maß, zur richtigen Zeit, zum richtigen Zweck und auf die richtige Art, das ist schwer.“

 

Jeden Morgen schaute ich in der Zeitung nach, was der Wetterfrosch angestellt hatte. Mal ließ er sich von der Sonne bescheinen, mal hockte er unter einem Regenschirm, manchmal lächelte er eine Blume an, dann kämpfte er sich mühsam gegen fliegende Blätter durch den Sturm voran. Ab und zu lümmelte er sich auf einer Wiese herum und schaut den Wolken nach oder er kletterte auf einer kleinen Leiter ganz tief in sein Einweckglas hinunter.

Im Winter hockte er behaglich hinter einem Ofen und manchmal paffte er aus einer dicken Pfeife. Kleider trug er keine, dann und wann hatte er aber einen Hut oder auch eine Mütze auf, bei starkem Frost trug er schon mal einen wollenen Schal.

Er kletterte zur Wetterstation hinauf und las des Thermometer oder das Barometer ab, er schaute Pflanzen beim Wachsen zu und ruderte über einen Teich. Einmal habe ich ihn auch in der Zeitung lesen gesehen, ganz bestimmt interessierte er sich für den Wetterbericht.

Wenn es im Winter sehr kalt wurde, wuchsen Eisblumen an unseren Fenstern. Sie wucherten zunächst an den beiden Schlafzimmerfenstern, wo wir nicht geheizt hatten und ich abends immer mit einer Wärmflasche ins Bett gesteckt wurde. Da konnte ich morgens, wenn ich aufwachte, kleine Dampfwolken aus dem Mund blasen.

Aber auch in der Küche, wo der eiserne Ofen bullerte, nachdem meine Oma ihn mit Holzstücken gefüttert hatte, wuchsen an den Fensterscheiben Eisblumen, die in allen Regenbogenfarben schillerten, wenn die Morgensonne hindurch schien.

Kam meine musikvernarrte Großtante zu Besuch, setzte sie sich ans Klavier und sang mir mit viel Pathos ein Lied von Robert Schumann vor:

 

Der Himmel wölbt sich rein und blau,
Der Reif stellt Blumen aus zur Schau.
Am Fenster prangt ein flimmernder Flor,
Ein Jüngling steht, ihn betrachtend, davor,
Und hinter den Blumen blühet noch gar
Ein blaues, ein lächelndes Augenpaar,
Märzveilchen, wie jener noch keine gesehn.
Der Reif wird, angehaucht, zergehn.
Eisblumen fangen zu schmelzen an,
Und Gott sei gnädig dem jungen Mann.

 

Wenn der erste Schnee liegen blieb, holten wir die Schlitten vom Boden. Nun mussten die Kufen vom Rost befreit werden. Das ging fast von allein, denn wir zogen sie mit einer Schnur durch frischen Schnee, bis wir oben auf dem Mühlenberg standen. Wolfgang machte seinen Schlitten besonders schnell, indem er die Kufen mit fest gepressten Schneebällen abrieb. Wenn er mit fachmännischem Blick festgestellt hatte, dass sie glatt genug waren, schob er seinen Schlitten an, warf sich darauf und sauste los. Meist war er der Schnellste.

Wer einen alten Schlitten aus Eisen hatte, musste sich auf das Brett setzen. Die modernen Holzschlitten waren flacher und man konnte mit einem Bauchklatscher hinunter sausen. Dabei lenkten wir unsere Schlitten mit den Fußspitzen. Bremsen konnte man so nicht, deshalb rollten wir uns kurz vor dem Stacheldrahtzaun einfach nach rechts oder links hinunter.

Nach einer Stunde war der Spaß meistens vorbei, weil wir durchnässt waren und erbärmlich froren; dann lief ich nach Hause, zog die nassen Sachen aus und verkrümelte mich hinter dem warmen Kachelofen. Irgendwann entdeckte meine Oma die Schleifspuren an meinen Schuhspitzen und keifte in ihrer Küche herum. Ich war schon vorher auf den Boden geflüchtet und ließ mich erst wieder zum Abendbrot bei ihr blicken.

In vielen Häusern hingen irgendwo im Keller alte Schlittschuhe und rosteten vor sich hin. Die meisten waren aus Holz, hatten metallene Kufen mit einer geschwungenen Spitze vorne und hießen Holländer. Wenn es mehrere Tage streng gefroren hatte, holte mein Opa ein Paar für mich herauf und schärfte in seiner Werkstatt die Kufen, die einen Hohlschliff hatten. Dann suchte er mir einen passenden Schlüssel heraus und ich konnte die Schlittschuhe vorn an meine Schuhsohlen schrauben. Oben zurrte ich sie mit zwei langen schwarzen Schnürriemen über den Knöcheln fest. Dann stelzte ich los, denn bis zum Dorfteich waren es nur ein paar Schritte. Auf dem Eis war schon ordentlich was los. Die Großen achteten darauf, dass niemand Steine oder Erde auf die spiegelnde Fläche warf und drohten uns Jüngeren Prügel an.

Richtig laufen konnte keiner von uns, und wir fielen dauernd hin. Wer keine Handschuhe hatte, steckte seine Hände in die Manteltaschen. Auf der Seite von Hilligers Badeanstalt musste man aufpassen, denn da floss warmes Wasser in den Teich und das Eis war nur dünn. Karla Braune ist da einmal eingebrochen, steckte aber nur bis zum Knie im kalten Wasser und konnte das nasse Bein wieder herausziehen.

Im Februar lag der Schnee über einen Meter hoch und es wurde immer kälter. Bald zeigte das Thermometer vor dem Küchenfenster unter 20 Grad minus. Der Weg von der Haustür zum Hoftor war rechts und links von hohen Schneehaufen gesäumt, die Dächer verschwanden unter der Schneelast und die Schornsteine hatten weiße Mützen auf.

Ich beschloss, einen Iglu zu bauen, wie ich einen in „Mecki bei den Eskimos“ gesehen hatte. Der Iglu wird aus Eisblöcken gestapelt, die statt mit Mörtel mit frischem Schnee vermauert werden. Über dem Eingang für Artisten prangt das Schild „Zirkus Maximus“ und links warnt ein Zettel „Die Angestellten dürfen sich nicht mit Schneebällen schmeißen.“ Charly Pinguin, die sieben echt syrischen Goldhamster, der Kater Murr und die Ente Watsch basteln draußen an der elektrischen Anlage herum und drinnen wärmt sich Mecki an einem Kanonenofen, in dem ein lustiges Holzfeuer bollert; die sieben echt syrischen Goldhamster tanzen vor Vergnügen und der Kater Murr und die Ente Watsch schauen fröhlich zu.

Ich trampelte eine runde Fläche platt und klopfte mit einem Brett Schneewürfel zusammen, die ich dann aufeinander stapelten wollte. Wolfgang half mir dabei und wir hatten bald eine schöne ringförmige Mauer aufgeschichtet. Als wir die nächsten Ringe aufsetzten, ließen wir die Würfel etwas nach innen überstehen. Beim fünften Ring aber stürzte unsere Kuppel nach innen ein. Wir schaufelten den Schnee wieder raus und deckten unser Schneehaus mit ein paar Brettern zu. Vor den Eingang hängten wir einen alten Kartoffelsack. Vom Plan, einen Ofen einzubauen, sahen wir ab, aber zumindest eine Kerze zündeten wir an und stellten sie mitten in unser Schneehaus.

Im Frühjahr, wenn der Schnee geschmolzen war und alles wieder grünte, wurden die Großen konfirmiert. Mädchen und Jungen waren schwarz gekleidet. Die Mädchen trugen lange Zöpfe, die viele schon wenige Tage nach der Feier abschnitten, denn damals kamen Kurzhaarschnitte in Mode. Die Jungen trugen ihre erste lange Hose; bis dahin mussten wir kurze Hosen und lange Wollstrümpfe anziehen, die mit Strapsen an Leibchen befestigt wurden. Wer so angezogen zum Sportunterricht gehen musste, litt beim Umziehen große Qualen.

Am Festtag wurden die Wege von Haus zu Haus bis hin zur Kirche mit weißem Sand und grünen Buchsbaum-Zweigen bestreut. Auch der ewig hungrige Erwin wurde einbezogen, der mit seiner Oma in einem Stall wohnte und der im Winter keine Schuhe hatte, sondern mit dicken Wollstrümpfen in Holzpantinen durchs Dorf schlappte. Vor der Kirche wurden die Zeichen für „Glaube, Hoffnung, Liebe“ gestreut: In der Mitte ein Kreuz, links ein Herz und rechts ein Anker. Das alles erledigten die Katechumenen, die erst im nächsten Jahr mit der Konfirmation dran waren. Im Konfirmandensaal gab es Butterkuchen auf großen Blechen, die beim Bäcker abgebacken worden waren. Poesiealben wurden herumgetragen, in die sich alle eintragen mussten.

Da meine Großeltern nie in die Kirche gingen, wusste ich nichts vom lieben Gott und schon gar nichts von Herrn Jesus. Wolfgang, der den Konfirmandenunterricht besuchte, erzählte mir von Engeln, die schwer bewaffnet waren und sich mit Teufeln herumschlugen. Zwar war ich mit sechs Jahren von einem alten Pfarrer in Memmingen getauft worden, aber in die Kirche meines Dorfes bin ich damals nie hinein gegangen.

Bunt lackierte Kiesel konnte man im Frühling im Konsum kaufen und Tüten mit farbigen Kugeln aus gebranntem Ton. Für meine Kugeln hatte mir meine Oma einen Leinenbeutel genäht, der mit Hilfe einer durchgezogenen Schnur verschlossen werden konnte.

Wenn wir uns zum Kugeln versammelt hatten, dann suchten wir eine Stelle auf dem Denkmalplatz, die frei von Gras und anderen Pflanzen war. Wir säuberten sie von Steinen und Stöcken und Peter rammte den Hacken seines rechten Schuhs in den Boden, drehte sich einmal um seine Achse und grub so ein rundes Loch. Erwin wischte alle Erde weg, die Peters Absatz heraus gedrückt hatte. Ich zählte zehn große Schritte ab und zog mit der Schuhspitze einen Strich.

Dann stellten sich alle hinter der Linie auf, jeder warf nacheinander drei Kugeln und versuchte, das Loch zu treffen. Wenn alle Kugeln geworfen waren, durfte derjenige, dessen Kugel am nächsten zum Lochrand lag, sie mit dem Zeigefinger hinein schnippen. Man bog dazu den Finger rund ein und stupste die Kugel kurz an. Wer traf, durfte noch eine weitere Kugel einlochen. Dann war der nächste dran. Wer mit der letzten Kugel ins Loch traf, durfte alle Kugeln herausnehmen und behalten.

Als ich eingeschult war, wollte ich auch Fahrradfahren lernen. Fahrräder standen in unserem Stall, wo auch mein Onkel sein Moped unterstellte und wo es immer nach Benzin roch. Da warteten in einem Ständer auf fest gestampften Boden unsere Räder in Reih und Glied darauf, herausgeholt zu werden. Herrenräder und Damenräder, viele mit einem oder zwei Platten, alle rostig, aber mein Opa suchte mir eines heraus. Er nahm ein Damenrad, da meine kurzen Beinen noch nicht von der Stange eines Herrenrades bis zu den Pedalen reichten. Dann putzte er es, lackierte den Rahmen schwarz, ergänzte fehlende Teile und ölte Achsen, Zahnräder und die Kette.

Es dauerte zwei oder drei Tage und kostete meine Oma ein paar Pflaster, bis ich gelernt hatte, das Gleichgewicht zu halten. Mein Fahrrad hatte keine Gangschaltung, nur einen Rücktritt und eine Vorderradbremse, die aus einem Gummiklotz bestand, den man mit einem Hebel an der Lenkstange auf den Reifen drücken musste. Das taten wir aber nur, wenn die Kette abgesprungen war.

Mein Opa zeigte mir, wie man einen Schlauch repariert. Das ging beim Vorderrad ziemlich einfach; man brauchte nur zwei 17er Maulschlüssel und Heber, die es ermöglichten, dass man den Schlauch sicher heraus und wieder hinein praktizieren konnte. Wenn man das mit einem Schraubenzieher versuchte, stach man sich den Schlauch endgültig kaputt. Auch das Flicken brachte er mir bei. Zunächst suchte ich mit dem leicht aufgepumpten Schlauch in einer Wasserschüssel, wo sich das Loch befand. Hatte ich es mit Hilfe von kleinen Bläschen aufgespürt, nahm ich den Schlauch heraus, achtete genau darauf, wo sich das Loch befand, wischte die Stelle trocken und raute sie mit Sandpapier auf. Dann drückte ich aus einer Tube etwas Gummilösung um das Loch herum. Ich entfernte die Folie von einem Gummistück und legte es auf das Loch, dann drückte ich den Flecken auf eine feste Unterlage und schlug vorsichtig mit einem mittelschweren Hammer darauf. Nun wartete ich eine Weile, bis der Vulkanisiervorgang zu Ende war, und drückte den Schlauch zurück unter den Reifen, pumpte leicht auf, hob den Rand des Reifens über die Felge und schraubte das Rad wieder in die Gabel ein. Jetzt konnte ich den Schlauch voll aufpumpen. Musste das Hinterrad ausgebaut werden, bekam ich von der Kette schwarze Finger, die nur mit Handwaschpaste wieder sauber wurden.

Zu den Hängelsbergen fuhren wir Richtung Hohendodeleben über den Graseweg, der an der Friedhofsmauer vorbei führte, über die alte Grabsteine herausragte. Hinter der Friedhofsmauer säumten eine Reihe alter Kirschbäume den Weg. Beim Vorüberfahren rissen wir ganze Äste ab, um uns an den roten Kirschen zu laben. Dennoch wurde das Treten immer anstrengender, weil der Weg am Lausehoch vorbei weiter bergauf führte, dann aber standen wir vor der alten Flakstellung, an der noch im April ‘45 ein paar Jugendliche von den einrückenden Amerikanern erschossen worden waren. Ihre Gräber besuchte ich manchmal auf dem Friedhof, wo kleine quadratische Grabsteine in Reih‘ und Glied von ihrem sinnlosen Gehorsam zeugten. Nach dem alten Hünengrab suchten wir vergebens; die Steine lagen alle im Dorf herum, einige bildeten den Steinkreis auf dem Denkmalplatz, wo es sich gut hüpfen ließ.

Damals war die Sandgrube noch offen und alte Loren standen auf Schienen herum und ließen sich von uns verschieben. Sand und Ton wurden aber schon lange nicht mehr gefördert. Stattdessen hatten sie angefangen, hier die Abfälle abzuladen, die in den umliegenden Dörfern anfielen.

In der Sandgrube spielten wir Indianer und Cowboy. Wir jagten wilde Büffel, stachen sie mit unseren Speeren tot, erschossen Peter nach langem Anschleichen aus dem Hinterhalt, und ich wurde an einen Baum gebunden und von der Indianerhorde langsam zu Tode gefoltert.

Abends fuhren wir glücklich über einen anderen Feldweg an der Klinke-Quelle vorbei in unser Dorf zurück.

Wenn wir Frösche fangen wollten, fuhren wir die Wanzleber Chaussee hinaus bis zum Kulk. Das war ein kleiner Teich, von dem mir mein Onkel erzählt hatte, dass dort vor dem Krieg ein Freibad mit Wasserrutsche und Dreimeterbrett gewesen sei. Heute sah das alles mehr wie ein verwilderter Garten aus.

Dort gab es viele Tiere zu beobachten; Nester von Heckenbraunellen und Rotschwänzen, freche Spatzen in den Holunderbüschen, Maulwürfe und Mäuse, manchmal ein scheues Wiesel, dann Bienen, Wespen, Hummeln und Libellen, Regenwürmer, Raupen, Käfer, Spinnen, Ameisen und vieles andere mehr. Auf der Wasseroberfläche spiegelte sich die Sonne zwischen gelben Mummeln und weißen Teichrosen, Wasserläufer jagten darüber und an seinen sumpfigen Rändern wuchsen Schwertlilien, Binsen und Rohrkolben.

Wolfgang hatte einen Kescher dabei, wenn wir uns heranschlichen. Ich zupfte den Halm einer blühenden Quecke aus und entfernte das Grüne bis auf die Spitze. Wenn ich diese Angel vorsichtig am Teichrand über das Wasser hüpfen ließ, erschien bald ein grüner Frosch aus der dunklen Tiefe. Der hielt meinen Grashalm für eine Fliege und schnappte mit seinem breiten Maul danach. Natürlich blieb er nicht an meiner Angel hängen, aber wer einmal geschnappt hat, der schnappt auch wieder. Deshalb schlich sich Wolfgang jetzt von hinten heran, und wenn der dumme Frosch zum zweiten- oder dritten Mal zuschnappte, dann saß er auch schon in Wolfgangs Kescher. Wir drehten das Netz zu und Wolfgang ließ den Frosch am Lenkrad baumeln. Dann fuhren wir zurück ins Dorf, sausten zum Dorfteich und setzten unseren Frosch vorsichtig am Rand des Wassers auf einen Stein. Der Kerl blieb eine Weile da sitzen und blickte sich mit seinen Glubschaugen um. Dann hopste er ins Wasser, und wir haben nie wieder etwas von ihm gesehen.

Am Kulk streckten drei Weidenbäume ihre Strubbelköpfe in den Wind, deren seltsame Form mein Opa mir so erklärt hatte: „Als Kopfweiden bezeichnet man Korbweiden, deren Stamm in einer Höhe von circa zwei Metern abgesägt wurde. An der Schnittfläche treibt der Baum viele neue Ruten aus, die man abschneiden und zum Korbflechten nutzen kann. Der oberste Abschnitt des Stammes verdickt sich zum Kopf der Weide. Wird der Stamm nicht regelmäßig geschnitten, kann er unter der Last seiner Äste auseinander brechen.“ Solch eine beschädigte Kopfweide war die rechte der drei und die interessierte mich besonders, wenn ich im Herbst über die Wansleber Chaussee zum Drachensteigen fuhr. Die drei Kerle standen dann in einer Reihe und neigten ihre Köpfe zum Dorf hin. Ansonsten wurzelten sie recht einsam in der Landschaft und wurden vor allem von schwarzen Krähen besucht.

Einmal nahmen wir das lange Messband aus Opas Werkstatt mit und vermaßen unseren Baum. Der Stamm hatte innen einen Durchmesser von zwei Metern, der Umfang betrug außen sechs Meter. Die Köpfe schwebten fast zwei Meter über der Erde und streckten ihre Spieße in den Himmel, die bis zu drei Metern lang waren. Auf der Höhe der Köpfe maßen wir 9,80 Meter Umfang.

Ich untersuchte die Weide mit Wolfgang auch von innen, und wir fanden drei bequeme Sitze in der aufgebrochenen Höhle, denn der Stamm wölbte in der Höhe von etwa ein Meter achtzig seine fünf Köpfe nach außen. Da saßen wir gerne im Herbst, ließen Rohrkolben glimmen und vertrieben mit dem Rauch die Mücken.

Der Film, der mich damals sehr beeindruckte, lief im Kinderprogramm der „Hansa-Lichtspiele“ immer wieder. Er spielt in den Trümmern von Berlin, als noch alle Schulen geschlossen waren.

Im Filmprogramm las ich später: Sommer 1945. Die Trümmer der zerbombten Stadt bilden die tägliche Kulisse für Jungen, die sich in rivalisierenden Gruppen treffen und ihr Geld mit Schiebergeschäften verdienen. Eines Tages gastiert auf ihrem Platz ein Wanderzirkus. Die Kinder freunden sich mit der jungen Trapezkünstlerin Corona an. Mit ihrer Rache an Direktor Grandini, der gemein zu Corona war, verursachen die Jungen jedoch ungewollt einen Unfall. Das Mädchen wird verletzt und kann vorerst nicht auftreten, sodass der Direktor sie zurücklässt, als er mit dem Zirkus weiterzieht. Um ihre Schuld wieder gutzumachen, kümmern sich Gerhard, Dietrich, Fritzchen und die anderen nun gemeinsam um Corona. Weil Krankenhausbetten knapp sind, bereiten sie ihr ein Lager in ihrem alten Bauwagen, wo Dr. Waldner ständig nach seiner Patientin sieht. Mit voranschreitender Genesung Coronas und zur Ablenkung der Rekonvaleszentin beginnen die Jungen unter ihrer Anleitung einfache Artistennummern zu probieren. Sie bauen sich im Laufe der Wochen mit Begeisterung ein richtiges Zirkusprogramm auf, bei dem jeder seine speziellen Talente und Kreativität entfaltet und das sie dann mit Coronas Hilfe verbessern, als diese wieder ganz gesund ist. Kurzzeitig herrscht wieder Konkurrenz zwischen Gerhard und Dietrich, den beiden Anführern der Jungen, um die Gunst Coronas. Jeder von ihnen hofft, dem Mädchen mit seiner Akrobatik zu imponieren und später einmal ihr Partner am Trapez zu werden. Da bekommt Corona ein verlockendes Angebot vom Zirkus Barlay. Natürlich möchte sie die Jungen nicht im Stich lassen, aber sich gleichzeitig auch weiterentwickeln. Schließlich gibt der Direktor allen Interessierten die Möglichkeit, eine Ausbildung in seinem Zirkus zu machen. Auch die Nachwuchsartisten Gerhard und Dietrich fördert er. Durch Fleiß und hartes Training werden aus den Amateuren Profis, die zusammen mit ihrer Freundin als „Die 3 Coronas“ Berühmtheit erlangen. Ich habe mir den Film vier- oder fünfmal angesehen und immer zweimal still geweint; einmal als Corona krank in ihrem Bett lag und einmal, als es ihr wieder gut ging.

Ich besaß zwei kurze Lederhosen. Beide waren an den Hosenbeinen umgekrempelt und mit Fransen verziert. Die eine bestand aus grauem Rohleder und hatte an der Vorderseite einen breiten Latz, der an der Unterseite festgenäht war und oben mit zwei großen Knöpfen gehalten wurde. Die beiden Hosentaschen waren mit Eichenlaub verziert. Rechts befand sich eine kleine Tasche, die mittig über der Seitennaht befestigt war, und in der mein Taschenmesser steckte. Sie war speckig und ich durfte mich mit ihr nicht auf die gepolsterten Stühle setzen, die in unserem Wohnzimmer standen. Dann legte mir meine Oma ein altes Handtuch auf den Stuhl, worauf ich mich setzen musste. Die Hose wurde mit Trägern gehalten, die sich hinten überkreuzten und die an vier Stellen angeknöpft waren. Vorne verband ein Steg die beiden Träger, auf dem war ein geschnitzter Hirsch aus Tierknochen befestigt.

Sonntags trug ich die andere Lederhose, die mir meine Mutter aus dem Westen geschickt hatte; mit der durfte ich mich auch in die Sessel fläzen, die im Wohnzimmer standen; das Handtuch war dann nicht nötig, denn diese Hose bestand aus olivgrünen Glattleder und ihr Latz wurde von zwei Reißverschlüssen gehalten. Aber eine zünftige Lederhose war das nicht; eine zünftige Lederhose musste aus Rohleder bestehen und einen Latz haben, der mit Knöpfen befestigt wurde.

Im Winter musste ich lange Wollstrümpfe anziehen, die mit Strapsen an einem Leibchen festgemacht waren. Ich hasste diese Leibchen immer beim Umziehen zum Sportunterricht.

 

Zu Ulrich bist du nie gern gegangen. Zwar freute sich seine Mutter, wenn du vom Hof in die Küche kamst, um die alte Pumpe zu bestaunen, die in einer Ecke der Küche stand und ihr Wasser in ein Becken aus Sandstein goss, das einen offenen Ablauf durch die Mauer zum Hof hatte. Vielleicht bis du ja auch nur hingegangen, weil Ulrich eine Schwester hatte, das war Hella, deren Augen ihrem sonnigen Namen Ehre machten. Aber sie blickten meist traurig zu dir hinüber, und Hella sprach nicht mit dir, weil es ihr Vater verboten hatte. Frau Knochenmuß wusste, dass er sie jedes Mal schlug, nachdem du wieder fort gegangen warst.

Wenn das Feuer im Herd wunderbar bullerte, gab es immer etwas Gutes zum Naschen: Kleine Pfannkuchen, frisch gekochtes Apfelmus oder Randstücke vom Butterkuchen. Wenn dann aber Ulrichs Vater hereinpolterte, wolltest du am liebsten im Boden versinken; nicht weil er über das Leben in der Ostzone schimpfte, das taten fast alle Menschen, die du im Dorf kanntest, vielmehr weil du die Art nicht mochtest, mit der er zu dir sprach.

Immer fragte er seine Patienten, ob sie dies oder jenes, was ihn gerade geärgert hatte, so richtig fänden. Unter Adolf war alles anders und besser gewesen. Nun aber machten die Kommunisten alles kaputt. Da könne kein ordentlicher Mensch mehr leben. Und er erzählte, was die Saubande gerade wieder angestellt hatte, um ihn zu ärgern. Niemand wagte es, dem Alten zu widersprechen, denn er war der einzige Zahnarzt im Dorf und schimpfte auch beim Bohren.

Dir schien es, dass er dich für alles verantwortlich machen wollte, wenn er in die Küche herunter kam. Dann konntest du nicht länger bleiben, nur Hellas ängstliches Gesicht hielt dich davon ab, sofort zu verschwinden. Später erzählte dir deine Oma, dass er sich auf dem Boden seines Hauses aufgehängt habe. Da warst du erleichtert, und Hellas Augen leuchteten wieder, wenn du bei Ulrich spieltest.

 

Einmal nahm mein Opa mich mit zum Sportplatz. Da sollte ein Fußballspiel stattfinden und es liefen zwei Mannschaften auf. Die einen waren weiß und die anderen schwarz gekleidet; die Weißen waren Bäcker und die Schwarzen Schornsteinfeger. Alle Spieler hatten Tücher umgebunden, einfache Sä-Tücher, wie die Bauern sie auf den Feldern benutzten, aber in den Tüchern der Bäcker war blendend weißes Mehl und in den Tüchern der Schornsteinfeger kohlschwarzer Ruß. Nachdem der Schiedsrichter angepfiffen hatte, begann das Spiel. Schon bald zeigte sich, dass weder die Bäcker noch die Schornsteinfeger in der Lage waren, von der eigenen Seite des Platzes zu anderen zu laufen; beide Mannschaften schossen den Ball weit ins gegnerische Feld hinein und verlegten sich dann auf bloße Abwehrmaßnahmen. Dafür waren sie gut gerüstet. Denn wenn eine der beiden Mannschaften angriff, stoppte sie die andere, indem die Spieler aus ihren Sä-Tüchern Mehl oder Ruß ins Gesicht des Gegners warfen. Das war für die Zuschauer sehr erheiternd, weil schon nach kurzer Spielzeit die weißen Spieler schwarz und die schwarzen Spieler weiß wurden. Das Gejohle der Zuschauer nahm mit jedem Treffer zu. Nur die Spieler fanden das gar nicht so toll. Denn wenn ein Schornsteinfeger seinen Ruß in die Augen eines Bäckers geworfen hatte, konnte dieser nicht mehr sehen, wohin der Ball gerade sprang; umgekehrt wurde auch der Schornsteinfeger von einer Mehlladung blind. Nach kurzer Zeit irrten 20 blinde Spieler auf dem Feld umher, wischten sich vergeblich ihre Augen, und nur der Schiedsrichter und die beiden Torwarte waren noch voll im Spiel. Das Ganze endete damit, dass sich die Spieler in die Umkleideräume zurückzogen. Anschließend hat man viele weiß gekleidete Bäcker bei Norte gesehen, wo sie sich mit den schwarzen Schornsteinfegern versöhnten und gemeinsam ihre Enttäuschung über das torlose Spiel mit Bier herunterspülten.

 

Als die Friedensfahrt durch unser Dorf rollen sollte, stand ich lange am Rand der Chaussee und wartete auf Täve Schur. Meine Oma hatte mir erklärt, dass man die Fahrer nicht mit Wassereimern übergießen sollte, aber fast alle Zuschauer hatten Eimer mitgebracht, aus denen sie wegen der großen Hitze das Wasser auf die Fahrer spritzen wollten. Lange warteten wir an der Chaussee und langweilten uns, bis ein Auto mit einem Lautsprecher herankam und die Fahrer ankündigte. Ein paar Minuten später riefen die, die in Richtung Halberstadt standen: Täve, Täve, Täve! Dann sauste Täve Schur vorbei, gefolgt von ein paar anderen Fahrern, deren Name keiner im Dorf kannte. Wer wissen wollte, wie Täve aussah, musste sich sein Bild am nächsten Tag in der „Volksstimme“ ansehen. Er war so schnell vorbeigeflitzt, dass kein Eimer in Aktion gesetzt werden konnte. Aber die nachfolgenden Fahrer mussten es büßen, jeder wurde mit einem Eimer Wasser erfrischt, einer fiel sogar um und konnte nicht mehr weiterfahren. Da nützte es auch nichts, dass Bernd Kröger ihn zum Freibier in den Schwarzen Adler einlud.

 

Zu den unheimlichsten Plätzen unseres Dorfes zählte der Knochenpark, ein alter Friedhof, auf dem nur noch ein paar alte Grabmale standen, die zum Teil umgestürzt waren und wo zerbrochene Steine und Säulen lagen. Dort ging ich bei Dunkelheit nie hin, weil ich zwischen den Büschen immer knochige Gestalten herumlungern sah.

Noch unheimlicher aber war die hohe Mauer, die unseren Friedhof an der Wanzleber Chaussee zur Königstraße abschloss. Wenn ich im Herbst kurz vor Einbruch der Dunkelheit mit meinem Rad hier entlang und zurück ins Dorf fahren musste, gruselte es mich wirklich. Denn über die Mauer hinweg ragten die großen Grabsteine der Ruhestätten, die direkt an die Mauer grenzten. Die kannte ich alle von Besuchen an sonnigen Tagen, denn in diesem Gang auf der anderen Seite lag das Grab meiner Urgroßeltern, das meine Oma regelmäßig pflegte. Hier konnte ich sie alle lesen, die Namen der Nachbarn, Bekannten und auch die Namen der Verwandten meiner Schulkameraden und Freunde. Alle waren hier beerdigt und ihre Lebensdaten reichten bis ins 19. Jahrhundert zurück. Viele Gräber trugen schwarze Marmorplatten, in die man die Namen der Toten eingemeißelt hatte. Neben unserem Grab saß eine weiße Frau aus Stein und weinte in ihren Schleier hinein. Sie trauerte um meine Ur-Urgroßeltern. Wenn ich aber auf der anderen Seite vorbeifuhr, hatte ich den Eindruck, als blicke die weinende Frau aus ihren leeren Augen über den Mauerrand zu mir hinunter.

 

Wenn im Oktober die Kartoffelernte begann, ließen wir unsere Drachen steigen. Mein Opa gab mir zwei Kiefernlatten, das Papier besorgte ich mir bei Dauck, wo ich auch ein Töpfchen Kleister erstand. Ein Glück, dass meine Oma alle Bindfäden aufhob! So kam ich an eine ganze Rolle, die bestimmt 100 Meter lang war und für die mir mein Opa eine hölzerne Haspel baute.

Ich schnitt die Leisten nach dem Maß unseres Küchenfensters zurecht und verband die beiden Hölzer mit Bindfaden zu einem Kreuz, dann spannte ich den Faden um das Kreuz und zog ihn durch Einkerbungen, die ich vorher mit einer Feile eingeschliffen hatte. Alles wurde mit kleinen Nägeln gesichert. Das Kreuz legte ich auf einen bunten Bogen und schnitt ihn großzügig aus. Dann trug ich mit dem Zeigefinger Kleister auf, faltete das Papier um den Faden und legte Holstücke und Werkzeuge zur Sicherung auf die Klebekanten; nach einer Stunde war alles getrocknet und die Bespannung konnte das Folgende aushalten. Inzwischen hatte ich Papierstücke gerollt und zu einem fünf Meter langen Schwanz gebunden, der auf eine Rolle aus Zeitungspapier gewickelt wurde, damit er sich nicht verheddern konnte. Beim Anbringen der Waage half mit mein Opa, und ich knüpfte noch zwei Ohren an die Ecken des Drachen und klebte ihm Augen, Mund und Nase auf.

Wolfgang, Peter und ich fuhren mit unseren Drachen zum Kulk, wo wir unsere Fahrräder abstellten. Dann prüften wir den Wind, bestimmten die Richtung und rollten unsere Leinen ab. Mit einem kräftigen Anlauf schafften wir den Start nur dann, wenn ein anderer den Drachen hielt und auf Los! nach oben warf. Der Wind wehte ordentlich und bald standen alle drei Drachen ruhig am Himmel. Wenn es kräftig blies, konnten wir unsere Drachen an einem Stab festbinden. Dazu schnitten wir kräftige Ruten von einer der Kopfweiden und trieben die Stöcke mit einem Stein schräg in den schwarzen Bördeboden. Dann befestigten wir unsere Schnüre und konnten die Drachen sich selbst überlassen.

Ich hatte ein leeres Schreibheft mitgenommen und riss Blätter heraus. Die praktizierten wir wie Segel an die Leinen, so dass sie vom Wind nach oben geschoben wurden, bis sie zum Knoten der Waage gesaust waren, wo sie stecken blieben.

Wenn wir genug vom Drachensteigen hatten, begann die Stoppelschlacht. Wir zogen eine Handvoll der abgeschnittenen Getreidehalme aus dem Boden und bewarfen einander mit den Geschossen, an denen je ein dicker Erdklumpen klebte; die Drachen bildeten unsere Schutzschilde. Wenn alle Drachen zerstört waren, warfen wir sie in das Kartoffelfeuer, das die Frauen auf dem Acker entzündet hatten, aßen heiße, verkohlte Kartoffeln und fuhren wieder nach Hause. Nur die wertvollen Drachenschnüre nahmen wir mit.

Zur Zeit des Drachenbaus fand ich in einem meiner Micky-Maus-Hefte eine Bastelanleitung für Windräder. Die wollte ich bauen! Ich besorgte mir bei Dauck Pappe, Klebstoff und buntes Papier, dann setzte ich mich mit Wolfgang an den Küchentisch meiner Oma. Die hatte uns einen großen Bogen Packpapier untergelegt, damit ihre Tischplatte nichts abbekam.

Wir schnitten mit Hilfe von Omas größtem Topfdeckel runde Kartonscheiben aus, beklebten sie mit Buntpapier und ritzten – genau nach der Anleitung – die Scheiben so ein, dass wir kleine Stücke heraus biegen konnten. Das sollten unsere Segel werden. In der Werkstatt hatte ich ein paar Rundhölzer zurechtgesägt, mit deren Hilfe wir je zwei Pappscheiben miteinander verbanden. So konnten unsere Windräder aufrecht stehen.

Dann schnappten wir uns die Räder und wollten losziehen, aber meine Oma bestand darauf, dass wir zunächst aufräumten und alles wieder an seinen Platz legten, auch die Schere und den Kleber.

Aber dann ging es los. Ich prüfte auf dem Denkmalplatz die Windrichtung, indem ich meinen nassen Zeigefinger in die Höhe hielt, und wir entschieden: Wanzleber Chaussee, weil der Wind aus Westen kam.

Dort setzten wir unsere Räder auf den gepflasterten Fahrstreifen und schubsten sie an. Wenn dann eine Windbö kam, sausten die Räder wieselflink die Straße entlang. Wir liefen hinterher und erwischten die Räder oft erst nach ein paar hundert Metern.

 

Zum Weihnachtsfest 1953 erschien ein anderer Kasper mit seiner Sippschaft, die meinem Kasperl aber keine ernsthafte Konkurrenz machen konnten. Als meine Bescherung an der Reihe war und meine Oma mich durch das Klingeln einer kleinen Glocke ins Wohnzimmer rief, sah ich es sofort. Ein hohes Handpuppentheater ragte neben dem brennenden Baum empor. Es waren bunt bemalte Holzlatten, die mit Karton bekleidet ein Theater darstellten. Über der Spielleiste hingen die Akteure, die schweren Köpfe nach vorn gerichtet wurden sie nur von ihren Kostümen am Runterfallen gehindert.

Mein Opa zeigte mir, wie man es macht. Zuerst nahm er die Puppen von der Leiste und stellte sie mir vor. Kasper hieß der mit der langen Hakennase und dem frechen Grinsen. Seinen Kopf zierte eine Zipfelmütze und unterm Arm klemmte eine Pritsche. Sie war aus gespreizten Holzstäben gemacht und klatschte, wenn man damit auf etwas Festes schlug.

Dann war da das Gretel, Kaspers Freundin, die hatte einen goldenen Zopf. Beide wurden von der Großmutter beaufsichtigt, einer alten Frau, deren Gesicht mich an Oma Sudenburg erinnerte. Kaspers Freund war der Sepp, ein ziemlich dämlicher Kerl, der ihn alle Zeit begleitete. Das waren die Guten. Die Fraktion der Bösen wurde von einer Hexe, einem Räuber, dem Teufel und einem Krokodil dargestellt. Der bleiche Tod konnte keiner der beiden Fraktionen zugeordnet werden, denn er schwebte über allem.

König, Königin, Prinzessin und Prinz gab es nicht. „Die werden von der Arbeiter- und Bauernmacht nicht mehr geduldet“, sagte mein Opa, denn er hatte die Puppen bei einem Holzschnitzer in Sachsen bestellt, der sich auf die neue Zeit einstellen musste. Damit die Guten in der Überzahl waren, holte mein Opa noch eine neunte Puppe hervor, das war der Volkspolizist. Er sorgte als Vertreter der Staatsmacht für Gerechtigkeit, indem er den Räuber verhaftete, während Kasper das Krokodil und die Hexe mit seiner Pritsche totschlagen durfte. Den Teufel konnte man nicht einfach totschlagen, aber ein paar heftige Streiche mit der Pritsche und das Zauberwort Perlicke - Perlacke reichten aus, um ihn so oft im Boden zu versenken, bis er sich nicht mehr herauf traute.

Die Köpfe waren grob aus Lindenholz geschnitzt, unten im Hals war ein Loch gebohrt für den Zeigefinger. Die Kleider bestanden aus Stoffschläuchen, die unten am Hals festgenagelt waren und die Löcher für Daumen und Ringfinger ließen, die in plumpen Holzfäustlingen endeten. Unten baumelten schwarze Holzfüße daran. Bei der Gretel fehlte der rechte Fuß, vielleicht war sie wie Helga bei der Demonstration gegen das SED-Regime in Leipzig von einem Querschläger verwundet worden.

Um beim Spielen verdeckt zu sein, musste ich hinter dem Theater knien und konnte dann jeweils zwei Puppen über der Spielleiste erscheinen lassen. Lange kann man sie nicht hochhalten, denn die Arme werden schnell lahm und die kniende Haltung ist sehr anstrengend. Da lobte ich mir doch mein Marionettenspiel, das viel weniger anstrengend war, als diese wilde Handpuppenbande zu bändigen.

Das Krokodil wies eine besondere Konstruktion auf. Sein langer Unterkiefer war aus Holz geschnitzt, während der Oberkiefer nur aus Pappmaché bestand. Beide Teile wurden seitlich durch zwei Splinte zusammengehalten, denen mein Onkel nach kurzer Inspektion keine lange Lebensdauer voraussagte. Sein Körper bestand ebenfalls aus einem Stoffschlauch, war grün und mit einem gezackten roten Band benäht.

Dass Kasperl diese Bande als wirkliche Konkurrenz betrachtet hat, glaube ich kaum. Ich fand bald heraus, dass man mit Kasper & Co. auf der Spielleiste keinen Staat machen konnte. Den ganzen Weihnachtsabend hielt ich ihn und seine Leute auf Trapp, aber bereits am nächsten Morgen blieb die ganze Mannschaft kopfüber an den dafür an der Unterseite der Spielleiste eingeschlagenen Nägeln hängen und ich besuchte meinen hölzernen Freund auf dem Dachboden.

Als ich ihm von den Ereignissen des letzten Abends erzählt hatte, ermunterte er mich, ihm die Neuankömmlinge vorzustellen. Ich packte also die ganz Gesellschaft an ihren Kleidern und schleppte sie über die steile Treppe des alten Hausflurs hinauf zu unserem Boden. Dort inspizierten wir die Leute aus Sachsen und ließ sie vorsprechen. Es war erbärmlich! Ich gebe hier nur ein paar Ausschnitte:

 

Man hört dumpfe Schläge auf eine Trommel.

Kasper (tritt auf): Was wird denn nu? So eene Bumserei!

Es trommelt weiter.

Kasper: Seit ihr gleich stille, ihr dahinten! Ruhe! Ruhe! Ich verlange sofort Ruhe! Sofort auf der Stelle, ganz schnelle!

Polizist (kommt): Haha, der Kasper. Dich suche ich, und da bist du ja.

Kasper: Jawohl, da bin ich, Herr Wachtmeester. Sie komm‘ mir grade wie gerufen – grade wie bestellt. Hör’n Se sich nur mal das Gebummsere da an! Das hält doch keener aus!

Polizist: Weißt du auch, was das ist, Kasper?

Kasper: Da wird gewiss ein Schützenfest gefeiert oder es wird Feuer im Dorf sein oder gar Hochzeit!

Polizist: Nein, mein Lieber, nichts von dem! Das sind unsere Aktivisten. Die proben zum Aufmarsch.

Kasper: Warum müssen denn die den Abwasch probieren? Können se das nich von alleene?

Polizist: Ach Kasper, nicht Abwasch, sondern Aufmarsch. Auch wird die FDJ am Aufmarsch zum 1. Mai teilnehmen.

Kasper: Äffdejot? Was ist denn das nu wieder?

Polizist: Das ist doch die Freie Deutsche Jugend. Du weißt auch gar nichts.

Kasper: Achso. Aufmarsch am erschten Mai? – Das ist doch een Feiertag, an dem wir ordentlichen Braten essen und Bier trinken. Da solln doch die Großmutter und das Gretel den Abwasch einfach stehn lassen.

Polizist: Am 1. Mai wird das ganze Dorf auf den Beinen sein. Die Bauern schmücken ihre Leiterwagen mit Birkengrün und Girlanden und ziehen sie mit Traktoren zum Dorfplatz. Da hält der Bürgermeister eine Rede.

Kasper: Was red‘ der Kerl denn da?

Polizist: Er sagt: „Die Bauern helfen den Arbeitern, die Arbeiter helfen den Bauern. Arbeiter und Bauern sind gute Freunde.“

Kasper: So. − Mmmmhh. Und was sonst noch?

Polizist: Dann gibt es Kaffe und Kuchen und es wird getanzt.

Kasper: Ja, könn‘se denn nich gleich Kuchen trinken und Kaffee essen?

Polizist: Nein, Kasper. Wir alle müssen doch hinaus zum 1. Mai!

Kasper: Wir alle? Auch der Sepp, die Großmutter und die Gretel?

Polizist: Natürlich. Alle müssen mit. Das ist die neue Zeit!

Kasper: Nee, nee! Das is nix für mich. Da mach ich nicht mit, ich wees schon, was ich tue. Ich verstecke mich im Dorfkrug und trinke een paar Bembel Bier.

Polizist: Da muss ich dich verhaften!

Kasper: Was heest’n das nun schon wieder? Hier kommt doch jeden Oogenblick wieder was Neues.

Polizist: Ja, Kasper, die neue Zeit. Wenn du nicht mit willst, muss ich Gewalt anwenden. Jetzt geht es andersrum!

Kasper: Andersherum? Meinetwegen. Ich geh hierum! Leb wohl! (will ab.)

Polizist: Halt, Kasper! Oder ich schieße!

Kasper: Du − das ist doch verboten! Der Spaß kann dir teuer zu stehen kommen. Und ich bin doch ooch keen Hase und ooch keen Ziegenbock, den man so mir nischt, dir nischt wegknallt.

Polizist: Du bist aber verdächtig!

Kasper: Was heest’n das nun schon wieder?

Polizist: Du bis verdächtig, es mit den alten Kriegstreibern und Revanchisten in Westdeutschland zu halten.

Kasper: Fällt mir doch gar nicht ein mit die ollen Kerle! Wer hat denn den Quatsch uffgebracht? (singt.)

Alles, was jung is,
liebt Kaspers Hänschen
die jungen Mädchen,
die jungen Gänschen.

Polizist: Du bist angeklagt, mit deinen Späßen die Arbeiter und Bauern zu verdummen.

Kaper: Aber nee, das hat mir noch keener gesagt! Das geht über meine Verstehste!

Polizist: Die neue Regierung der Arbeiter- und Bauernmacht wird es dir schon klar machen. Also marsch – ab zum Verhör!

Das Trommeln ist lauter geworden; Großmutter, Sepp, Gretel und der Tod marschieren auf. Sie alle tragen blaue Hemden.

Kasper: Großmutter, Großmutter, du musst mir helfen!

Großmutter: Was gibt es denn, Kasperlein? Was hast du denn auf dem Herzen?

Kasper: Ach, denk mal, ich soll abgeführt werden!

Großmutter: Abgeführt werden? Das geht aber nicht, Herr Polizist!

Polizist: Und warum nicht, wenn ich fragen darf, Frau Großmutter?

Großmutter: Weil der Kasper mit hinaus zum 1. Mai muss.

Polizist: Das habe ich ihm doch die ganze Zeit schon gesagt, aber er will nicht.

Großmutter: Du willst nicht, Kasper? Ja, warum denn das nicht?

Gretel: Kasper, schau, ich habe dir etwas mitgebracht. (tritt vor.)

Kasper: Was ist das denn für eine Serviette?

Gretel: Das ist dein neues blaues Hemd. Du bist jetzt bei der Freien Deutschen Jugend und marschierst mit uns mit!

Sie hängt ihm das Hemd über.

Kasper: Ja, was machte denn da? (er würgt.) − Willst du mich denn erwürgen?

Gretel: Nein, lieber Kasperl. Ich will dich nur einreihen in die Abteilung „Perlicke – Perlacke“ der sächsischen FDJ. Freundschaft!

Alle: Freundschaft!

Kasper: Aber da soll doch der Blitz dreinschlagen! Da steht ihr alle wie Moppel und guckt dämlich aus der Wäsche.

Seppel: Die alte Ordnung ist untergegangen und wir bauen alles wieder auf. Da kannst du dich doch nicht ausschließen, Kasper!

Kasper: Auch du, mein Sohn Sepp!

Sie formieren sich um Kasper und den Polizisten, die Trommel setzt wieder ein.

Alle singen

Jugend, erwach, erhebe dich jetzt, die grausame Nacht hat ein End.
Und die Sonne schickt wieder die Strahlen hernieder vom blauen Himmelsgezelt.
Die Lerche singt frohe Lieder ins Tal, das Bächlein ermuntert uns all.
Und der Bauer bestellt wieder Acker und Feld, bald blüht es überall.

Bau auf, bau auf, bau auf, bau auf,
Freie Deutsche Jugend, bau auf,
Für eine bessr'e Zukunft
richten wir die Heimat auf.

Großmutter

Wir FDJ-ler kämpfen für die Erhaltung der Einheit Deutschlands. Und wofür kämpft ihr?

Gretel

Wir FDJ-ler kämpfen für die aktive Teilnahme aller Jugendlichen beim Wiederaufbau des Vaterlandes. Und wofür kämpft ihr?

Teufel

Wir FDJ-ler kämpfen für die Gewinnung der deutschen Jugend für die großen Ideale der Freiheit, des Humanismus, einer kämpferischen Demokratie, des Völkerfriedens und der Völkerfreundschaft. Und wofür kämpft ihr?

Sepp

Wir FDJ-ler kämpfen für die Schaffung eines neuen Deutschland, das der Jugend das Mitbestimmungsrecht durch aktive Teilnahme an der Verwaltung des öffentlichen Lebens einräumt. Und wofür kämpft ihr?

Räuber

Wir FDJ-ler kämpfen für die Schaffung eines neuen Deutschland, das allen Jugendlichen ohne Unterschied ihrer Herkunft, des Vermögens und des Glaubens eine gute Berufsausbildung, Zutritt zu allen Bildungs- und Kulturstätten, gleiche Entlohnung für gleiche Arbeit, ausreichenden Urlaub und Erholung sichert. Und wofür kämpft ihr?

Hexe

Wir FDJ-ler kämpfen für die Förderung von jugendlichem Zusammengehörigkeitsgefühl durch die Entwicklung aller Interessengebiete des Lebens; die Bildung von Arbeits- und Interessengemeinschaften sozialer, kultureller und sportlicher Art. Und wofür kämpft ihr?

Krokodil

Wir FDJ-ler kämpfen für die Förderung des Jugendwanderns durch alle Sümpfe und Tümpel der Republik. Und wofür kämpft ihr?

Tod

Wir FDJ-ler sagen allen Revanchisten und Kapitalisten den Kampf auf Leben und Tod an. Und wofür kämpft ihr?

Alle singen

Allüberall der Hammer ertönt, die werkende Hand zu uns spricht:
Deutsche Jugend, pack an, brich dir selber die Bahn für Frieden, Freiheit und Recht.
Kein Zwang und kein Drill, der eigene Will' bestimme dein Leben fortan.
Blicke frei in das Licht, das dir niemals gebricht. Deutsche Jugend, steh deinen Mann.

Bau auf, bau auf, bau auf, bau auf,
Freie Deutsche Jugend, bau auf,
für eine bessr'e Zukunft
richten wir die Heimat auf.

Kasper: Na, und ihr da unten – ihr müsst ooch mitmachen. Einer gehört zum anderen, wenn so ein neues Deutschland funktionieren soll. Also passt mal hübsch uff! Seid ihr alle da?

 

An dieser Stelle gab es heftiges Ja-Rufen von Ochse, Esel, Schafen und Kuh, nur die Schweine und die Ziege enthielten sich aller Beifallskundgebungen und der Hofhund blickt betreten zur Seite. Bär und Mi hatte schon vor dem Ende der Darbietung der Bühne gelangweilt den Rücken gekehrt. Kasperl gefiel das Spiel ganz und gar nicht und deshalb wiesen wir der ganzen Truppe zunächst die Rolle als Zuschauer an. Die neun Neuen fügten sich und bildeten gemeinsam mit den beiden Amerikanern Bär und Mi das Publikum für unsere weiteren Inszenierungen, saßen auch gerne mit den Preußischen Zinnsoldaten zusammen und wurden bald auch für kleinere Rollen engagiert.

Immer wieder drängte Kasperl mich, für mehr Zuschauer zu sorgen, denn er war der Meinung, dass unsere Bemühungen für die Umerziehung in der Sowjetischen Besatzungszone eine größere öffentliche Aufmerksamkeit verdient hätten. Dafür war ihm aber der Kreis unserer Zuschauer viel zu klein. Diesem Mangel konnte ich eines Tages abhelfen, als ich im großen Kleiderschrank eine Pappschachtel fand, die sich bisher zwischen linker Tür und Seitenwand erfolgreich vor mir versteckt hatte. Ich zog sie hervor und ein grinsender Junge mit roten Wangen, der zwischen seinen geöffneten Lippen frech eine Zigarre paffte, versprach nicht nur viel Vergnügen mit dem Gesichterspiel, sondern behauptete auch, man könne durch Umlegen der Teile sechsundvierzigtausend Varianten erzielen. Da war nun aber doch sehr übertrieben.

In der Schachtel schlummerten sechsunddreißig bunt bedruckte Puzzelteile, die zusammengesetzt je sechs Kerle en face und sechs en profil ergaben; würfelte man sie durcheinander, so warteten exakt 432 Zuschauer darauf, auf ihre Plätze geführt zu werden. Diese Menge reichte uns übrigens in den nächsten Jahren völlig aus.

Um den antimilitaristischen Charakter unseres Theaters zu betonen, wurden die Zinnsoldaten in ihre Schachteln gesteckt und die Wehrmachtssoldaten stellte ich mit den Indianern auf den großen Schrank, von wo aus sie mir kritischen Blicken unsere Theaterarbeit verfolgten, ohne dass uns ihre oft provozierenden Zwischenrufe stören konnten. Mi, Bär und die Tiere vom Bauernhof nörgelten so lange, bis wir sie auch weiter unter den Zuschauern duldeten.

Es war ein lustiger Haufen, Bürger, Handwerker, Kaufmannsgehilfen, Suitiers und Säufer aller Schattierungen. Wir beschlossen, dass jeder von diesen Schachtelbewohnern ab sofort und ohne Abonnement freien Eintritt in unser Theater haben sollte.

 

Beim Schlachten durfte ich nicht zusehen. Als die Trenklers ihre Vorbereitungen trieben, schrie das Schwein bereits im Stall und polterte gegen die Holzbretter, in die es eingeschlossen war. Wochen vorher, wenn ich es besuchte, stand es ruhig in seinem durchgeweichten Stroh, das Frau Trenkler selten erneuerte. Dann schob sie mit einem alten Besen, der schon fast keine Borsten mehr hatte, den ganzen Mist durch ein Loch in der Mauer, das im Winter von einer Holzklappe verschlossen wurde. Die Gülle lief von selber in die Mistgrube und verlieh dieser Hof-Ecke ihren charakteristischen Geruch. Deshalb spielte ich dort nur selten.

Manchmal warf ich dem Schwein ein paar wurmstichige Äpfel hin, die es mit seiner großen Schnauze aufnahm und zerkaute. Dabei grunzte es wohlig. Im Stall war es immer dämmrig und warm. Das Schwein fraß alle Küchenabfälle der drei Haushalte aus dem alten Haus. Nur meine Oma warf ihre Abfälle auf den Komposthaufen im Garten, weil sie dem Schwein nichts gönnte. Allein die Reste vom Kotelett kamen in den Eimer, der neben dem Misthaufen stand und in den die Frauen ihre Küchenabfälle kippten.

Dann aber – es war im Spätherbst – holte Paul Trenkler eine Leiter vom flachen Boden über seinem Schweinestall, wo er auch ein paar Strohballen aufbewahrte, und stellte sie schräg gegen die gekalkte Wand direkt neben die Tür. Darunter wurde eine Zeltbahn gelegt, dann stellte Frau Trenkler Eimer, Schüsseln und eine große Zinkwanne darauf und füllte sie nach und nach mit kochendem Wasser, das sie aus unserer Waschküche in Eimern heranschleppte.

Jetzt wurde ich in den Garten gescheucht, konnte mich aber durch den alten Hausflur schleichen und hörte hinter der leicht geöffneten Tür das Schwein so lange schreien, bis Paul Trenkler mit wuchtigen Axthieben, die dreimal dumpf zu mir herein klangen, für Ruhe sorgte. Durch den Türspalt sah ich, wie er mithilfe seines Sohnes die Hinterpfoten des schweren Tieres an die Leiter band, dann schnitt Frau Trenkler den Hals auf und ließ das Blut in einen Eimer laufen.

Erst als die Innereien in einer großen Schüssel dampften, durfte ich wieder auf den Hof kommen. Ich sah der jungen Frau Trenkler dabei zu, wie sie aus den Därmen den Schiet heraus drückte und sie dann in einem Eimer mit Wasser auswusch. Mit dem heißen Wasser wurde das Schwein abgerieben und dabei die Borsten abgeschruppt. Dann kam der Metzger, der das Tier mit Messer und Säge zerlegte. Mich interessierte, wie Frau Trenkler Fleisch und Fettstücke zerschnitt und mit der Leber im Dampf unserer Waschküche verschwand. Dort kochte sie das Fleisch und die Würste.

Am Abend aßen die Trenklers allerlei Fleischstücke aus einem großen Kessel. Die Metzelsuppe wurde mit dunklen Brotstücken serviert. Mein Onkel verteilte Flaschen mit Bier aus der Colbitzer Heide und alle, die mitgeholfen hatten, bekamen ihren Teil. Ich bekam von Frau Trenkler vier Quiekeschweinwürste. Das waren Leber- und Blutwürste, die sie in den Darm des armen Schweins gepresst und dann in der Brühe gekocht hatte. Mein Onkel reimte im Stile Wilhelm Buschs: „Anstelle von dem Kot steckt Wurst drin für das Brot!“ Am nächsten Abend aß ich die Würste mit scharfem Senf zu kräftigem Graubrot, raspelte mit meinen Schneidezähnen eine saure Gurke und trank göttlichen Apfelsaft dazu.

 

„Wo issn Adolf?“ – „Ja weßte denn nich? Adolf hat mit Helja rüberjemacht!“ –“ Åber die kennen doch keenen då drime.“ − „Is doch ooch ejal. Immer noch besser als hier inne Zone bei die Kommunissn.“ – „Kann Helja denn widder loofen?“ – „Se humpelt noch was, aber das Been is wedder heile. − Wårn schon hier un håm Fråjen jestellt. Ooch bei Paule uffe Baustelle. Ham aber nichs jefundn.“

Frau Tenkler, die vor ihrer Haustür stand und mit Frau Helmecke redete, die gerade aus ihrer Klotür getreten war, winkte mir zu: „Jert, komma her, ick heb wat für dir, kannse villeich brauch'n.“

Ich folgte ihr die zwei Stufen in den Hausflur hinein, von dem sie ins Wohnzimmer trat. Es roch muffig und ungelüftet, aber ich ging mit, weil ich mir die gern Fotos ansah, die unter der Glasplatte einer Kommode steckten.

Sie nahm ein kleines Modell vom Schrank, das den Kölner Dom darstellte, wie sie mir früher einmal erklärt hatte, „wåmer må vorm Kriech då, hat Adolf mit jespielt, braucher jetze nich mehr“, sie schluchzte und weinte dann eine zeitlang in ihre Schürze, während ich mir die Fotos unter der Glasplatte anschaute. Lauter fremde Gesichter blickten mich da feierlich und bedeutsam an; die meisten trugen Kleider, die man heute nicht mehr sah. Sie standen oder saßen mit fremdartigen Frisuren in ihren Sonntagskleidern vor Säulen und Vorhängen und hielten angestrengt still.

Frau Trenkler weinte noch immer und ließ mir Zeit, mich in die Fotos zu vertiefen. Dann zog sie ein paar bunte Hefte hinter einer Schublade hervor und gab sie mir. „Sind ooch von Adolf, kannste alle håben. Pass aber uff. Nach son Zeuch suchen die vonne Stååtssicherheit!“ Die acht Hefte hießen „Tarantel“, wurden damals aus Westdeutschland in die Zone geschmuggelt und waren unter meinen Freunden sehr beliebt, besonders wenn sie Karikaturen vom Spitzbart enthielten.

 

Eine Geschichte gefiel mir am besten, „Die Entdeckung des Ostpols“:

Dass Colomonossow im Jahre 999 Amerika entdeckt hat, Wladimir Tsabtserabdse die Uhr und Galilejew die Erdachse, ist langsam Allgemeingut unserer fortschrittlichen Bewußtseinsspaltung geworden – aber wer weiß schon etwas von Grischa Kilometrowitsch Globetrott, dem Entdecker des Ostpols? In diesem Monat jährt sich zum 100. Male der Tag, an dem Grischa, ausgerüstet mit einem Rodelschlitten, einem kurzgefassten Lehrgang der Geschichte der KPDSU und 50 Flaschen Wodka, seine beschwerliche Reise antrat. Ohne jedes technische Hilfsmittel, ohne Karte, ohne Kompass, nur immer der Parteilinie nach, trabte er, revolutionäre Lieder pfeifend, durch die Weltgeschichte.

Welche Freude, als er nach drei Jahren endlich sein Ziel erreichte. Aber nein, das Schicksal hatte eine harte Prüfung mit ihm vor: Ein Stacheldrahtzaun und einige gezielte Warnschüsse ließen ihn sofort erkennen, dass er im Kreise gelaufen und wieder an die Grenze des sowjetischen Vaterlandes gelangt war. Doch der energiegeladene Sowjetmensch ließ sich dadurch nicht entmutigen. Er verdoppelte seinen Spritvorrat und setzte sich, nach Veröffentlichung eines selbstkritischen Artikels in der „Prawda“ und einem Kurswechsel um 180 Grad, zum zwoten Mal in Marsch. Bei der neunundachtzigsten Flasche angelangt, spürte er plötzlich, wie sich die Erde um den Punkt, auf dem er stand, zu drehen begann. Blitzartig erkannte er daran, dass dies nichts anderes hieß, als dass er am Ziel war: Der Ostpol war entdeckt!

 

Als ich sie Kasperl zeigte, blätterte der und lachte mal hier und mal da, aber so richtig schienen ihn die Texte und Bilder nicht anzusprechen. Schließlich legte er die Hefte beiseite und sagte zu mir: „Das könne wir beide besser, viel besser.“ Und er fantasierte los was das Zeug hielt und zählte mir auf, welche Stücke er auf unsere Bühne bringen wollte.

– Von meiner Oma und wie sie auf dem Motorrad nach Frankreich und in die Schweiz fuhr

– Von Rosi, Resi, Rita und vom Tod

– Von Alice im Wunderland und von der Eroberung Russlands

– Von einer Reise nach Amerika und vom verlorenen Sohn in Italien

 

  Wie Opa Fritz mir die Welt erklärte