Wie Opa Fritz mir die Welt erklärte
Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad
Mein Opa kam an einem langweiligen Winternachmittag mit einem Pappkarton ins Wohnzimmer, stellte ihn auf den Tisch und rief mich heran. Er öffnete den Deckel, der aus grobem grauem Papier gefertigt war, und packte aus. Zunächst fischte er zwei oder drei Bücher heraus, die Gebrauchsspuren aufwiesen und die er „alte Briefmarkenalben“ nannte. Dann tauchten Bündel von Briefen auf, die alle mit bunten Marken beklebt waren und er warf eine Pinzette neben den Karton, legte einen Packen Löschpapier daneben und zeigte auf eine kräftige Metallklammer, die zwei Pressspantafeln im Format 20 mal 15 cm festhielten: „Das ist eine Trockenvorrichtung.“ Er holte aus einer Tüte ein neues Vordruckalbum „Briefmarken aus aller Welt“ hervor und einige Bündel Klebepfalze, die er im Wäscheschrank aufbewahrte.
„Wir wollen eine Briefmarkensammlung anlegen“, erklärte er mir. Er habe seine große Sammlung von altdeutschen Staaten und den Deutschen Kolonien zwar 1924 verkauft, es seien aber noch ein paar Marken zurück geblieben und die wolle er nun mit mir zu einer neuen Sammlung ausbauen.
Die beiden Europa-Album blätterte er zunächst durch und zeigte mir, was sie noch an Briefmarken enthielten. Dann sah ich mir das Vordruckalbum an und fand viele Länder von Argentinien bis zu den Vereinigten Staaten von Amerika.
Wir begannen, die Marken aus den beiden Alben zu sortieren und ich lernte, deutsche Marken von ausländischen zu unterscheiden. Dazu musste ich die Pinzette benutzen, denn eine Briefmarke, betonte mein Opa, dürfe man nie mit bloßer Hand anfassen, weil sie sonst kaputt gehen könnte. Dann zeigte er mir, wie man Marken mit einem Pfalz in ein Album einklebt.
Später lernte ich, Marken von Briefen abzulösen; dazu schnitt ich die Marke aus dem Umschlag aus, legte die Schnipsel in eine Schüssel mit lauwarmen Wasser und wartete, bis sie sich lösten und im Wasser schwammen. Dann fischte ich sie mit der Pinzette heraus, ließ sie abtropfen und legte sie auf ein Löschblatt. War das Blatt voll, legte ich ein zweites Löschblatt darauf. Dann kamen die Blätter in die Presse, wo sie über Nacht trockneten und am nächsten Tag in das Album wandern konnten. Doppelte Marken steckte ich in ein kleines Album mit durchsichtigen Cellophanstreifen.
Mein Opa gab mir einen Weltatlas, damit ich die Länder bestimmen konnte, von denen wir Marken besaßen. Er holte auch seinen historischen Atlas hervor, weil es in unserer Sammlung Marken von Ländern gab, die nicht mehr existierten. So lernte ich die Staaten der Welt kennen und konnte bald fast alle Marken identifizieren.
Mein Großvater schenkte mir, als ich lesen gelernt hatte, das Buch mit den seltsamen Geschichten des Dr. Ulebuhle. Das nahm ich mit auf die Chaiselongue, die im Wohnzimmer meiner Großeltern stand, und fing an zu lesen.
Da las ich vom Untergang Pompejis und wie die Menschen vergeblich vor dem Ascheregen des Vesuvs zu fliehen versuchten. Dann regnete es Bimssteine und alle suchten unter den Dächern ihrer Häuser Schutz. Doch der Bimsstein blieb auf den Häusern liegen wie der Schnee bei uns im Winter, und als die ersten Dächer einstürzten, da griffen sich die Leute ihre Kopfkissen, rannten nach draußen und versuchten, sich gegen die herabstürzenden Steine zu schützen. Viele wurden erschlagen, die aber, die ein Stück weit gelaufen waren, erstickten in den Dämpfen, die aus dem Vulkanschlot strömten und stürzten zu Boden, wo sie qualvoll sterben mussten.
Dann wurden sie verschüttet und ihre Häuser wurden verschüttet und es türmte sich die heiße Asche meterhoch auf über der ganzen prächtigen Stadt. Die Menschen aber, die überlebt hatten, vergaßen Pompeji und alle die toten Männer, Frauen und Kinder. Sie legten neue Dörfer an und bauten andere Städte. Und als zwei Jahrtausende später ein Bauer mit seinem Pferd Töpfe, Kannen und andere Gebrauchsgegenstände aus der Erde herauspflügte, da grub man das Feld auf und fand die Stadt, die einmal Pompeji hieß. Und die Archäologen gruben die Häuser, Tempel und Paläste aus und sie fanden auch tote Hunde und die toten Menschen. Und als sie die Hohlräume, die sie in der zusammen gebackenen Tuffasche fanden, mit Gips ausgossen, da lagen die Menschen noch immer so da, wie sie vor vielen Jahrhunderten gestorben waren.
Mit den Gebrüdern Sturm tobte ich über Wüsten und Meere bis in die entfernten Gebirge, wo eine finstere Höhle bis tief in den Felsen hineinreichte. Da kam zuerst der Sandsturm, schlug seine breiten Schwingen wie einen Mantel um sich, denn er fror in der Kälte des Gebirges, kauerte sich in die Ecke und träumte von dem heißen Wüstensand, in dem sich die gelben Löwen sonnten. Dann traf der Gewittersturm ein, schüttelte Hagel und Regen aus seinen blaugrauen Flügeln, fegte in die Höhle hinein und brach in ein donnerndes Gelächter aus, als er seinen Bruder da frierend in der Höhle hocken fand. Jetzt sah ich, wie der Himmel nach Osten schwefelgelb wurde, und eine schwarze Wand kam herangebraust, aus der sich ein langer Trichter wie der Rüssel eines Riesenelefanten auf die Erde herabsenkte. Das war der Tornado, der Sand und Steine mitbrachte, die krachend an die Felsenwände schlugen, so dass dröhnende Echos von den gegenüber liegenden Felsen zu mir herüberschepperten. Als er in die Höhle stob, brüllte er: „Good day, my dear brothers!“, denn er war ein echter Amerikaner und kam eben aus Kalifornien herüber. Gegen Mittag wurde es kälter und immer kälter und am Himmel bildeten sich die Federwölkchen, die aus lauter Eisnadeln bestehen. Ein undurchdringliches Schneetreiben setzte ein und kündigte den Blizzard an. Als der in die Höhle eintrat, zitterten seine Brüder vor klirrender Kälte. Dann erzählten sich die Brüder einander, was jeder von ihnen angerichtet, und welche Verwüstungen sie über die Menschen und ihre Wohnungen gebracht hatten, und ich hörte atemlos zu.
Eines Nachts ließ ich mich von der Himmelsflugmaschine des Professors zum Mond bringen. Das war aber ganz anders als beim kleinen Häwelmann, von dem mir mein Lesebuch weiß machen wollte, er sei mit seinem Rollbettchen zum Himmel gefahren. Ich stieg in die gläserne Gondel eines Ballons ein und dann ging das Abenteuer los. Die Häuser wurden immer kleiner und sahen wie Spielzeug aus und die Wälder wie dunkle grüne Tücher. Dann flogen wir durch den leeren Weltraum und sahen die Erde, die sich in eine leuchtende Kugel verwandelt hatte. Als wir auf dem Mond gelandet waren, mussten wir schwere Anzüge überziehen und Helme aus Metall und Glas, wie die Taucher sie tragen, denn auf dem Mond gibt es keine Luft zum Atmen. Aber mein Anzug behinderte mich gar nicht, weil der Mond nur ein Sechstel der Anziehungskraft der Erde hat und ich ganz leicht riesige Sprünge machen konnte und immer wieder weich auf dem Mondboden landete.
Sogar dem Tod begegnete ich einmal, als er mir eine Flasche zeigte, aus der die Cholera entwich und viele arme Menschen unbarmherzig tötete. Der spindeldürre Kerl aber war mir unheimlich und ich verließ ihn schnell wieder, froh, dass er nichts weiter von mir wollte. Und ich las auch die anderen Abenteuer des Doktor Ulebuhle, erblickte das quirlige Leben in einem Wassertropfen, lernte den blitzenden Diamanten und seine Brüder kennen, tauchte mit John Dolland in die Tiefe des Meeres und hörte der Schwalbe zu, als sie ihre Weisheiten vom Telegraphendraht herunterschwatzte.
Manchmal musste ich zu meinen Urgroßelter nach Sudenburg fahren. Dann packte mir mein Opa eine Tasche, mit einem Glas Honig und allerlei Eingemachtem, gab mir ein paar Groschen für den Bus und schickte mich pünktlich zum Eichplatz, wo ich in den Bus einstieg, meine Fahrkarte löste und mich dann bis zur Chaussee schaukeln ließ, auf der wir die vier Haltestellen bis zur Stadt dahin donnerten. An der Endstelle stieg ich aus, las „Diamant Stehbierhalle“ am Gasthof zur Linde, sah zur Brauerei hinauf und trottete an der Alten Apotheke vorbei bis zur Skala. Ich schaute mir die ausgehängten Plakate zum Film „Wilde Erdbeeren an“ und erinnerte mich daran, wie ich hier zum ersten Mal in meinem Leben ins Kino gegangen war:
Helga holte mich und Helma damals um 9 Uhr ab, nahm uns rechts und links an die Hand und wir liefen nach Sudenburg zu den Scala-Lichtspielen. Da spielten sie um 10 Uhr für Kinder den Märchenfilm „Das kalte Herz“, frei ab zwölf.
In dunklen Wald lebt der junge Köhler Peter, der wünscht sich die schöne Lisbeth zur Frau, ist aber so arm, dass er sich noch nicht einmal einen Besuch im Wirtshaus leisten kann. Weil er ein Sonntagskind ist, geht er zum Glasmännchen, das im tiefen Wald wohnt und ihm drei Wünsche erfüllen soll.
Das Glasmännchen heißt aber Schatzhauser und erfüllt dem Peter nur zwei seiner Wünsche, nämlich besser tanzen zu können als der Hannes und immer viel Geld in den Taschen zu haben wie der reiche Ezechiel. Außerdem will er eine eigene Glashütte haben. Das Glasmännlein erfüllt ihm alles Gewünschte, sagt ihm aber, er habe nicht mit Bedacht gewählt. Jetzt wird der Peter zum reichen Mann. Weil sie ihn aber einmal im Wirtshaus alle auslachen, denn er hatte sich was ganz Blödes vom Glasmännchen gewünscht, nämlich immer so viel Geld in der Tasche zu haben wie sein Rivale Ezechiel, der dann gerade mal pleite ist, rennt Peter in den Tannenwald zum Riesen Holländermichel, der ihm Reichtum und Ansehen verspricht, dafür aber sein Herz haben will, weil er lebendige Herzen sammelt, wie andere Leute Briefmarken. Dann grabscht er nach Peters schlagendem Herzen und setzt ihm dafür eines aus Stein in seine Brust. Das steinerne Herz macht den Peter gefühlskalt und er schlägt schließlich seine Frau tot.
Da mussten Helma und ich bitterlich weinen und es nutzte überhaupt nichts, dass die Lisbeth am Schluss wieder aufwachte und der Peter sein lebendiges Herz wiederbekam; schluchzend gingen wir in unser Dorf zurück. Ich schimpfte auf dem ganzen Weg, dass es erlaubt war, so einen schrecklichen Film zu drehen und dann auch noch den Kindern zu zeigen.
Heute aber wollte ich wieder ins Kino, das war klar. Dann überquerte ich vorsichtig die die Schienen auf der Halberstädter Straße auf der Höhe des Konsums, neben dem ein geschlossener Kiosk von der HO stand. Da wartete ich immer, bis die Straßenbahn mit ihren zwei Anhängern angequietscht kam und vor dem Kirchplatz anhielt.
Ich fand den Durchgang bei der Ambrosiuskirche, der mich durch staubige Straßen an schmutzigen Häusern vorbei zum Langen Weg führte. Immer, wenn ich am Altenheim vorbeiging, verfolgten mich die Blicke der uralten Greise und Greisinnen, die mit ihren stechenden Augen zu mir herabglotzten und deren schlohweiße Haare dem Tod meldeten, wann er zu kommen hatte. An den Häuserwänden las ich die Reste alter Werbung: „Von ABEL gut bekleidet, von allen stets beneidet!“
Beim Mittagessen überredete ich meinen Opa Sudenburg, mit mir ins Kino zu gehen. Wir zogen Richtung Eiskellerplatz los, ich guckte mal eben bei Spielwaren-Gall rein und bald saßen wir im Dunkeln.
Der alte Medizinprofessor Isak Borg fährt mit dem Auto über Land. Dabei nimmt er immer mehr Menschen mit. Er besucht seine nach ältere Mutter und erinnert sich an sein Leben. Alles war ein völliges Durcheinander mit Streit und Liebesszenen und so. Am Ende sieht man den Professor lächeln schlafen. Gott sei Dank gab es nach den langweiligen „Wilden Erdbeeren“ noch eine Große Eisportion.
Ende Oktober fuhr der neue O-Bus nach Sudenburg. Der Zugwagen war weiß lackiert und hatte einen eiförmigen Anhänger dabei. Vorne flatterten zwei bunte Fähnchen. Die Leitungen hatten sie schon Wochen vorher an Masten und an Hauswänden aufgehängt und die Stangen griffen oben den Strom ab. Manchmal sprangen sie heraus, dann musste der Fahrer sie an Seilen wieder einsetzen.
Der Bus fuhr vom Eichplatz über die Magdeburger Straße, die eine Doppelspur von schwarzen, glatt behauenen Basaltsteinen hatte, damit die Wagenräder nicht so klapperten. Dennoch fuhr der Bus manchmal durch Schlaglöcher, so dass die Leute von ihren Sitzen bis fast an die Decke geschleudert wurden. Auf der Halberstädter Chaussee ging es schneller voran und der Bus hielt zum ersten Mal. Hier stieg aber niemand aus, weil man das kurze Stück auch zu Fuß hätte gehen können. Der nächste Halt war in Klein-Bördeleben, wo einige Fahrgäste zustiegen. An der Aßmannstraße stieg keiner mehr ein, da bald Sudenburg erreicht war. Bis zur Endhaltestelle der Straßenbahnlinie 1 oder 10 waren es nur ein paar Schritte.
Wenn ich dann abends mit dem Bus ins Dorf zurückkam und am Eichplatz ausgestiegen war, empfing mich das Licht, das oben vom hohen Mast den ganzen Platz grell ausleuchtete. Von den Häusern und Bäumen, die den Platz schweigend umstanden, konnte ich kaum etwas erkennen, nur die sechs Straßen, die sternförmig abzweigten, waren als schwarze Löcher wahrnehmbar.
Bog ich dann mit schnellem Schritt in die Schulstraße ein, wich das Licht mit einem Schlag und eine schreckliche Finsternis hüllte mich ein. Nur wenn der Mond bei klarem Himmel einmal schien, konnte ich die kalten Mauern rechts und links der Straße erahnen. Sonst aber war es so dunkel, dass selbst die Sterne am Nachthimmel nicht bis zu mir herab leuchteten und ich mich vorsichtig an der linken Straßenseite bis zum Hoftor voran tasten musste. Leichter ginge es, wenn sie die Lampe auf dem Hof angelassen hatten. Die Funzel konnte zwar die Straße nicht beleuchten, aber ihr diffuser Schein zeigte mir den Anfang der Mauer unseres Grundstücks an, durch die das Hoftor mich einließ, wenn ich den Schlüssel ins Kastenschloss gesteckt und zweimal nach links gedreht hatte.
Bei einem unserer Spaziergänge durch die Felder, die um mein Dorf herum liegen, erklärte mir mein Opa die Getreidearten und wie ich sie unterscheiden kann. Er zeigte mir Weizen, unser Hauptgetreide und die älteste Getreideart; den Roggen, das Brotgetreide und Viehfutter; die Gerste, die als weniger anspruchsvolle Frucht im Fruchtwechsel dem Weizen folgt, die Braugerste zur Malzherstellung und den Hafer, ein Grundnahrungsmittel (Haferflocken) und weltweit als Viehfutter verbreitet.
„Folgende Merkmale erleichtern dir die Unterscheidung der verbreiteten Getreidearten“, sagte er und zeigte sie mir:
Weizen hat meistens keine Grannen und ist an seinen prallen Ähren erkennbar. – Gerste hat meistens sehr lange Grannen. – Roggen hat mittellange Grannen, die in der Regel gleich lang sind. – Beim Hafer wachsen die Körner an einer Rispe und nicht an einer Ähre, also hat es auch keine Grannen.
Im Spätsommer fuhr ich mit Wolfgang auf einem Rollwagen hinaus und half den Frauen beim Diemenaufstellen zwischen dem 2. und dem 3. Holzweg. Wenn die Männer mit ihren Furken die Garben auf den Wagen warfen, passten wir genau auf. Wenn dann die letzte Garbe aufgenommen wurde, sauste ein Haufen ratloser Mäuse hin und her, bis alle ihr Versteck zwischen den Stoppeln gefunden hatten. Der letzte Wagen wurde mit einer Erntekrone geschmückt. Wir durften hinaufklettern und fuhren stolz die Chaussee entlang und dann durch das halbe Dorf, bis wir vor Rusches Hoftor stehen blieben.
Die Erntekrone bestand aus einem Kranz mit vier nach oben aufwärts zur Mitte gebundenen Getreideähren-Bündeln, die mit bunten Bändern verziert waren. Die Bündel waren aus Weizen, Gerste, Roggen und Hafer geflochten. Sie wurde in der hinteren Diele aufgehängt und dann gab es am großen Tisch ein Abendbrot und alle tranken Bier aus Flaschen, wir aber bekamen Apfelsaft mit Selters.
Jeden Wochentag um 14 Uhr schaltete mir mein Opa das Radio ein und ich hörte den Schulfunk des Nordwestdeutschen Rundfunks. Es begann mit der Arie des Papageno aus der Zauberflöte von Wolfgang Amadeus Mozart. Besonders gerne hörte ich die regelmäßigen Beiträge „Lebendige Vergangenheit“ und „Neues aus Waldhagen“, aber auch „Der Tierfreund“, „Aus Heimat und Welt“ und „Du bist mitverantwortlich“ gefielen mir.
Da gab es die Bauern Emma und Paul Piepenbrink, den Opa Negenborn und die alte Alwine. Die Grothes waren Wirtsleute des Dorfgasthofes „Zum fetten Ochsen“ und der Bürgermeister hieß Ludwig Kienappel. Der war klüger als die dummen Dorfbauern und zeigte ihnen, wie die neuen Zeiten aussahen und was man alles machen musste, um besser leben zu können. Aber auch der Landarzt Dr. Kraus hatte seine Mühe mit der alten Alwine, zu der viele hingingen, um sich ihre Wehwehchen besprechen zu lassen.
„Ja, was gibt es Neues in Waldhagen? – Der Gastwirt Eduard Grothe und seine Frau die sorgen sich sehr um ihre Karin. Ihr müsst nämlich wissen: Karin Grothe ist am vorigen Sonnabend ganz plötzlich schwer erkrankt. Es kam völlig überraschend. Weder Herr Grothe noch Frau Grothe hatten es ihrer Tochter vorher angesehen. Ja, nicht einmal Karin selbst hat gemerkt, wie schwerkrank sie eigentlich schon an jenem Sonnabendnachmittag war.“ Und so ging es weiter, Karin hatte Scharlach, doch zum Glück stellte sich heraus, dass sie bald wieder gesund wurde, aber „es hätte bösꞌ ausgehen können“. Am Schluss hieß es meistens: „Damit war die Sache aus der Welt geschafft.“
In den Geschichtshörspielen lernte ich eine Menge über das Mittelalter, über Kaiser und Könige, über Martin Luther, der seine Thesen an ein Tor in Wittenberg genagelt hatte, und über die Französische Revolution. Bald wusste ich, wer Bismarck war, warum Adolf Hitler den Krieg angezettelt hatte und wie die Menschen aus dem Osten mit ihren Pferdefuhrwerken trotz eisiger Kälte bis zur Oder gelangt waren.
Und der Tierfreund erzählte mir, was man alles bei Hunde, Katzen und anderen Tieren beobachten konnte und wie man mit ihnen umgehen sollte. So lernte ich etwas über die Kreuzotter und die Ringelnatter, über den dreistachlige Stichling, den Eisfuchs und den See-Elefanten, über die Tiere im Hochgebirge: den Steinadler und die Gämse sowie über die Zimmerleute des Waldes: Schwarzspecht und großer Buntspecht. Aber er erzählte auch vom Iltis, vom Feldhasen und vom Fuchs, vom Eichhörnchen und vom Kuckuck, der zu faul ist, seine Eier selber auszubrüten.
In den Micky-Maus-Heften, die mir meine Mutter aus dem Westen schickte, las ich am liebsten Geschichten mit Tick, Trick und Track. Am besten gefiel mir der Wettkampf gegen die Pfadfinderinnen. Da mussten sich Donalds Neffen, die zum Entenhausener Fähnlein Fieselschweif gehörten, mit der Mädchengruppe, dem Schwärmlein Kohlmeisen, im Brückenbauen messen. Am Schluss gab es zwei Gewinner, die vom P.L.O.S.H. (Pfadfinder-Landes-Oberverbands-Stabs-Hauptführer) mit Orden überschwemmt wurden.
Dann kamen Dig, Dag und Digedag hinzu. Sie strandeten auf einer Südseeinsel, gründeten einen Zirkus und begaben sich auf Welttournee. Durch einen Wirbelsturm werden sie ins antike Rom versetzt, wo sie als Zirkusbetreiber Karriere machen. Später flogen sie mit einem Raumschiff ins All und landeten auf dem Planeten Neos, der mir besser gefiel als die Bilder von der DDR in meinen Lesebüchern.
Noch besser fand ich Nick, den Weltraumfahrer, obwohl die Bilder in den Heftchen nur schwarz-weiß waren. Ich flog mit Nick und Tom zunächst zur Venus und dann zum Mars. Nach vielen spannenden Abenteuern entschlossen wir uns, gemeinsam mit Xutl in einem Superraumschiff ins atomare Universum zu reisen, wo wir nach ein paar Jahren als verschollen galten.
In der Werkstatt stand eine alte Dampfmaschine. Die holte mein Opa eines Tages vom hohen Regal und sagte: „Wir wollen sie zum Laufen bringen.“ Erst aber müsse er sie reinigen und neu bemalen. Ich könnte ihm dabei helfen, wenn ich Lust hätte. – Natürlich hatte ich Lust dazu! Während wir alles vorbereiteten, erzählte mir mein Opa, dass der Schotte James Watt die Dampfmaschine des Engländers Thomas Newcomen durch einen neuartigen Kolben und ein Schwungrad verbessert hatte. Er demonstrierte mir diese Erfindung an unserem kleinen Modell.
Die Dampfmaschine bestand aus einem Kessel, der auf ein Blechgestell aufgelötet war, und aus einem Schornstein, der aber nur zur Zierde diente; beide Teile waren grün bemalt; der Kessel und die Leitungen bestanden aus Kupfer. An der Seite war ein Glasrohr befestigt, das den Wasserstand im Kessel anzeigte. Von oben ging ein Rohr zum Zylinder ab, und es waren eine Pfeife mit hölzernem Griff und ein Sicherheitsventil aufgeschraubt. Der Zylinder mit seiner Ventilstange trieb das Schwungrad an, auf dessen Achse eine kleine Felge geschraubt war, die mittels Riemen das Zubehör antreiben sollte. Das Schutzblech über dem Wasserstandsanzeiger war abgebrochen und musste von meinem Opa wieder angelötet werden.
Neben der Dampfmaschine stand eine Pappschachtel, in der das Zubehör lag: Ein Brenner mit zwei Dochten und ein Trichter zum Befüllen mit Wasser. Außerdem gab es da eine große Transmission, Antriebsspiralen, Modelle mit Holzsägern, mit zwei Männern, die ständig hämmerten, mit einer Eismaschine, über der sich ein bunter Kreisel drehte, und schließlich noch ein kleines Kettenkarussell.
Die Maschine war auf einem quadratischen braunen Holzpodest montiert, das ich mit einem Öllappen wieder auffrischte. Dann strich ich mit einem kleinen Pinsel die Blechteile mit grüner Farbe. Als die neue Farbe trocken war, füllte ich den Kessel mit heißem Wasser, wozu ich einen kleinen Trichter benutzte, der auch noch beim Zubehör gewesen war. Mein Opa erneuerte den Docht, füllte Spiritus in den Brenner und zündete an. Wir mussten lange warten und den Brenner noch einmal auftanken, bis das Wasser im Kessel zu kochen anfing. Dann aber zischte der Dampf in den Zylinder, den mein Opa mit ein paar Tropfen Maschinenöl dichtete. Jetzt lief die Dampfmaschine emsig und ich konnte das Zubehör anschließen. Als alles lief, sich drehte und hämmerte, öffnete ich die Dampfpfeife, die gellend schrie, bis der Druck abfiel.
Manchmal brauchte ich einen schönen braunen Knopf aus Omas Nähkasten und ein paar Meter kräftigen Zwirn. Den fädelte ich zweimal durch die Knopflöcher und knotete die Enden zusammen. Wenn ich dann durch die beiden Schlaufen meine Daumen steckte, konnte ich durch Ziehen und wieder Loslassen den Knopf zum Drehen bringen. Je schneller er wurde, desto lauter surrte er. Wurde er zu schnell, schnürte er beim Zurücklaufen meine Daumen so stark ein, dass der Zwirn riss und der Knopf wie ein Geschoss durch das Wohnzimmer sauste. Einmal traf ich die Glasglocke der Lampe über dem Esstisch, wo der Knopf eine Ecke herausschlug. Da ich aber wusste, wo meine Oma die Ersatzschalen aufbewahrte, die ich erst vor ein paar Wochen aus dem Landkaufhaus geholt hatte, stieg ich heimlich auf den Boden, zog vorsichtig eine der braunen Schalen aus ihrer Papierverpackung, ersetzte die kaputte Schale und konnte mir die Tracht Prügel diesmal ersparen.
Wenn ich von einer Reise zu meiner Oma zurückkam, hatte sie mir einen Vanille-Pudding gekocht. Die heiße Milch, in die sie das Puddingpulver von Dr. Oetker eingerührt hatte, kochte sie noch einmal auf, goss sie in eine alte Puddingform aus Keramik und ließ den Pudding im Treppenabgang zum Keller abkühlen. Wenn ich am Tisch saß und ein Butterbrot gegessen hatte – denn darauf bestand sie immer mit Nachdruck –, nahm sie den Pudding und stürzte ihn auf einen Glasteller. Der Pudding hatte sich aus der vorher mit kaltem Wasser ausgespülten Form problemlos gelöst und schwabbelte ganz auf dem Teller. Dann öffnete sie eine Flasche mit selbstgemachtem Himbeersaft, die sie vorher aus dem Keller geholt hatte, und goss ihn vorsichtig auf den Teller. Jetzt sahen wir den Schwan, der mit seinen mächtigen Flügeln und den hinten angezogenen Füßen stolz auf dem roten Himbeersee schwamm.
Ich aß andächtig den ganzen Pudding auf und achtete darauf, immer genau das richtige Verhältnis von kühlem Pudding und süßem Saft zu löffeln.
Bei Kalle Osterwald gab es nur zwei Sorten Eis. Das eine war gelb und schmeckte nach Vanille oder Zitrone, dass andere war rosa und schmeckte nach irgendwas. Später war das eine auch mal braun und wurde Schokoladeneis genannt.
Wenn ich mir von meiner Oma zwei Groschen erbettelt hatte, konnte ich zwei Kugeln kaufen, die Kalle in ein Hörnchen drückte, das nach Pappe schmeckte und das ich in den Graben warf, nachdem ich das Eis sorgfältig ausgeleckt hatte.
Die meisten Kinder konnten sich nur ein Eis für‘n Groschen leisten, Erwachsene nahmen auch mal eins für dreißig. Wer einen Fuffziger ausgeben konnte, dem strich Kalle eine runde Waffelmuschel mit einem Spachtel voll, worauf er eine zweite Waffe drückte. Der Eis-Esser musste nun das kalte Zeug durch den Spalt zwischen den beiden Muschelschalen heraus lecken und aufpassen, dass er sich beim Lecken die Zunge nicht an den scharfen Kanten der Muscheln aufschnitt. Später gab es bei Kalle nur noch Bier und Schnaps.
Richtiges italienisches Eis machte Bruno Pulega. Wie der in Deutschland hängen geblieben war, weiß ich nicht. Die Pulegas hatten zwei Töchter, die sich an heißen Augusttagen auf dem Denkmalplatz im Kreis drehten und dabei ihre Röcke hochhoben. Alle sollten sehen, dass sie keine Schlüpfer anhatten. Wenn ich hinguckte, schimpfte meine Oma. „So sind sie eben, die Italiener“, sagte Frau Knochenmuß.
Später eröffneten sie am Schwarzen Adler ein Gartencafé. Da gab es an eisernen Gartentischen Eis mit Himbeersirup in großen Schüsseln. Wer Sahne wollte, bekam einen Schlag süßen Eischnee über das Eis gequackt. Echten Bohnenkaffee gab es hier nicht, daher ist meine Oma auch nie mit mir hingegangen.
Immer wenn meine Oma Zuckerkuchen buk, musste ich ein Stück Hefeteig von Bäcker Rogge holen. Dazu bekam ich eine große irdene Schüssel in die Hand gedrückt, in die meine Oma ein sorgfältig gefaltetes Geschirrtuch gelegt hatte.
Frau Rogge ging mit der Schüssel in die Backstube und kam mit einer großen Kugel Teig zurück, die sie sorgfältig mit dem Tuch abdeckte. Dann gab sie mir einen Kanten vom Streuselkuchen, den ich sofort aufaß. Auf dem Rückweg achtete ich darauf, nicht zu stolpern und brachte die Schüssel mit dem Teig glücklich nach Hause.
Meine Oma lobte mich dafür und ich durfte bei ihren weiteren Verrichtungen zusehen. Sie mehlte die Tischplatte sorgfältig ein und wälzte dann mit dem Nudelholz den Teigklumpen so aus, dass er genau auf das große Backblech passte, das sie vorher mit dem Papier eingefettet hatte, in das Butterstücke eingewickelt waren und die sie sorgfältig zusammengefaltet aufbewahrte, denn sie wurden später noch einmal zum Abdecken von Apfelkuchen verwendet, den sie in ihrem Gasbackofen in einer runden Form buk. Jetzt aber drückte sie mit den Rückseiten ihrer knochigen Finger und mit den Handballen so lange auf den Teigfladen, bis das ganze Blech von einer gleichmäßigen Schicht bedeckt war. Zum Schluss stanzte sie mit den Knöcheln ihrer rechten Hand Vertiefungen in den Teig.
Nun deckte sie das Blech mit einem sauberen Tuch ab und stellte es auf den Küchenschrank neben dem Ofen, in dem Holzscheite bullerten. Sie holte eine Kasserolle aus dem Schrank, zündete eine Gasflamme ihres Herdes an und schmolz ein halbes Stück Butter. Ich hielt das für eine große Verschwendung, denn ich wusste, dass ein Stück Butter bei der Milchhandlung Rulf in der Magdeburger Straße fünf Mark kostete. Und ich schämte mich ein bisschen, wenn ich Erwin meine Butterbrote mit Bratwurst gab, weil dessen Oma nur das billigste Dreipfundbrot für 48 Pfennige kaufen konnte, auf das sie Margarine und Kunsthonig schmierte, was ich nie essen durfte.
Wenn die Butter geschmolzen war, löste meine Oma viele Esslöffel Zucker darin auf, dann schlug sie sechs Eier hinein und verrührte den Brei sorgfältig, bevor sie ihn über den Hefeteig ausgoss und mit einem Löffel gleichmäßig verteilte. Darüber streute sie noch ein bisschen groben Zucker und deckte das Blech mit zwei Tüchern sorgfältig ab.
Nun war ich wieder dran. Es galt, das Blech sicher zu Bäcker Rogge zu tragen und dabei durfte ich mir keinen Fehltritt erlauben. Wenn ich dann mit vor Anstrengung rotem Kopf vor dem Laden stand, wenn Frau Rogge die Tür geöffnet und mir das Blech abgenommen hatte, durfte ich noch einen Kanten vom Streuselkuchen mitnehmen und getrost nach Hause gehen. Um drei sollte ich wiederkommen.
Wenn auch der Rücktransport des Blechs wunschgemäß geklappt hatte, schnitt meine Oma den Kuchen mit ihrem großen Brotmesser an und legte mir ein Stück auf den Teller. Den Duft des frischen Butterkuchens habe ich bis heute in der Nase. Am besten schmeckten die Kuchenstücke, auf denen karamellisierte Zuckerkrusten über feuchten Butterpfützen schwammen.
In der Werkstatt meines Opas hing ein dicker rund gebogener Draht, auf dem viele Schlüssel aufgefädelt waren. Ich befreite einen kräftigen Hohlschlüssel und suchte einen passenden Nagel heraus, die ich ineinander steckte. Dann knotete ich einen festen Bindfaden an die Reide und an den Nagelkopf. Die Konstruktion musste – mit dem Nagelkopf voran – gut schwingen.
Jetzt brauchte ich Streichhölzer. Ich wusste genau, wo meine Oma die aufbewahrte, aber sie hatte mir verboten, sie anzurühren. Also musste ich abwarten, bis fünf oder sechs Schachteln da waren, dann konnte ich je vier oder fünf Hölzer herausnehmen, ohne dass der Diebstahl meiner Oma auffallen konnte.
Dann suchte ich nach Stanniolpapier. Das fand ich im Küchenschank, wo meine Oma ein paar Schokoladentafeln aufbewahrte, die mir meine Mutti regelmäßig aus dem Westen rüberschickte.
Mit einem Messer schabte ich ein paar rote Streichholzköpfe vorsichtig ab und füllte das Pulver in den Schlüssel. Ich knüllte etwas Stanniolpapier zu einem Kügelchen zusammen und drückte es auf die Ladung. Dann den Nagel rein und fertig.
Mit Wolfgang traf ich mich am Teich. Wir suchten uns eine Hausecke, denn mein Onkel hatte mich gewarnt, dass der Schlüssel auseinander fliegen und dann Metallstücke wie Schrapnelle herum sausen und uns ein Auge ausschlagen könnten.
Wenn kein Mensch auf der Straße zu sehen war, wurde der Schlüssel Nagel voran mit aller Kraft um die Hausecke an die Mauer geschleudert. Dumm war, dass ich nur ein Ohr zuhalten konnte, während Wolfgang beide Hände auf die Ohren drückte. Rums! Jetzt mussten wir schnell wegrennen. Auf dem rechten Ohr war ich dann mindestens eine halbe Stunde taub.
Beim nächsten Schuss war Wolfgang dran. Dann wieder ich. Mein Schlüssel überstand diesmal die Ballerei und wanderte wieder an seinen Platz im Schlüsselbund. Auch unsere Ohren erholten sich in den nächsten Tagen von der Strapaze.
Die erste Schwalbe sah ich Anfang Juli. „Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer!“, sagte meine Oma. Aber am nächsten Tag waren es schon mehr als zehn, die über dem Denkmalplatz kreisten. Ab jetzt gehörte ihr Gezwitscher zum Sommer.
Sie tobten über dem Himmel des ganzen Dorfes, fingen meinem Opa wie kühne Akrobaten einige Bienen weg und bauten dann ihre Nester aus Schlamm vor allem in den Kuhställen von Preschers.
Ich bewunderte ihre schlanken, stromlinienförmigen Körper und die die langen, schmalen Flügel. Die Füße sind nur winzig klein, dafür haben sie aber lange gegabelte Schwänze. Meistens flogen sie ganz hoch am Himmel, wenn sie aber einmal tiefer kamen oder gar durch die Breite Straße kurvten, dann hieß es, dass bald Regen kommt.
Wenn wir auf den Heuboden steigen und die Nester bei Preschers inspizierten, saßendie Jungen mit weit aufgesperrten Schnäbeln in ihren Nestern und ließen sich von den Alten füttern. Im Herbst sammelten sie sich auf Stromleitungen und waren plötzlich verschwunden
Täglich fuhren Pferdewagen durch die Schulstraße; da klapperten die hell klingenden Hufe gleichmäßig über das Kopfsteinpflaster und die Eisenreifen rumpelten durch Schlaglöcher. Wenn ich das Geklapper doppelt hörte, wusste ich, dass zwei Pferde vorgespannt waren. Mit „Hüa!“ und „Brrr“ wurden sie von den Fuhrleuten angetrieben oder abgebremst.
Wenn sie einen der Wagen mit langer Deichsel vor Rusches Hof abgestellt hatten, schaukelten Wolfgang und ich, indem wir uns bäuchlings über die Deichselspitze legten. Die beiden Kaltblüter wurden inzwischen durch das Hoftor in ihren Stall geführt, wo sie Hafer bekamen. Dazu soffen sie eimerweise frisches Brunnenwasser.
Manchmal musste Wolfgang sie striegeln, wozu er eine Bürste benutzte, die er sich auf die Hand stecken konnte. Die großen Viecher ließen es gerne mit sich geschehen, aber er durfte sie nicht gegen den Strich kämmen.
Einmal durfte ich mit zur Schmiede, weil eines der Pferde neue Hufeisen bekommen sollte. Da wurden ihm die alten Eisen abgerissen, dann raspelte der Schmiedegeselle das Horn am Huf ab und das glühende Eisen wurde angepasst. Dabei stiegen dicke Rauchschwaden auf und es stank nach verbranntem Haaren. Das Eisen wurde abgekühlt und dann unter den Huf genagelt. Anschließend wurden die Nagelspitzen abgekniffen und mit schweren Schlägen im Huf versenkt.
Wenn wir auf unseren Radtouren über die Feldwege ein altes Hufeisen fanden, bekamen wir dafür vom Schmied einen Groschen.
Die jungen Burschen, die am Sonnabendnachmittag mit den Pferden ihrer Bauern halb nackt durch den Teich ritten und ihren Tieren den Bördedreck vom Fell schruppten, mussten sich nur noch ihre Hände waschen und die Haare kämmen, bevor sie in frischen Hemden und sauberen Hosen zum Tanzen in den schwarzen Adler gingen. Ein bisschen vom Pferdegeruch blieb an jedem von ihnen hängen.
Wer kein Mädchen abgekriegt hatte, konnte mit ein paar anderen Jungen in der Kneipe so lange Starkbier von der VEB Diamant-Brauerei Magdeburg-Neustadt saufen, bist er genug hatte und nach Hause torkelt. Die Forschen aber, die sich zu Akkordeon-Musik nach Schlagern der dreißiger und vierziger Jahre auf der Tanzfläche wiegten, mussten darauf achten, ein bisschen nüchtern zu bleiben, damit sie ihre Mädels auch sicher nach Hause begleiten konnten. Was sie dann noch taten, verstand ich damals noch nicht, aber es machte ihnen offenbar viel Spaß. Dann durften auch sie ins Bett wanken.
Wenn ein Pferdefuhrwerk durch die Schulstraße polterte, was mehrmals am Tage geschah, kam Frau Trenkler aus ihrer Küche, ging über den Hof, öffnete die Hoftür und guckte nach. Wenn ihre scharfen Augen fündig geworden waren, holte sie den Zinkeimer, der vor ihrer Haustür stand, und ging damit auf die Straße. Dort bückte sie sich, schob mit einem abgenudelten Handfeger die Pferdeäppel auf das Kehrblech und schüttete sie in ihren Eimer.
War der Eimer voll, hängte sie ihn an den Fahrradlenker und brachte den Pferdemist zu ihrem kleinen Acker an der Wanzleber Chaussee, wo sie Kartoffeln und Gemüse anbaute. Dort hatten sie und ihr Mann ein Mistbeet angelegt, das sie Anfang März bestellten und aus dem sie schon im Mai Radieschen, Salat und Möhren ernten konnten.
Wenn ich mit Helma und Wolfgang zum Kulk ging, der früher einmal ein Schwimmbad gewesen war, hakten wir einander unter, liefen in einer Reihe nebeneinander und riefen im Gleichschritt:
Klotz, Klotz,
Klotz am Bein, Klavier vorm Bauch
wie lang ist die Chaussee?
Links ꞌne Pappel, rechts ꞌne Pappel
in der Mitte ꞌnen Pferdeappel.
Und eins – und zwei – und drei – und vier
vorwärts, rückwärts, seitwärts ran.
Einmal ging ich ganz alleine die Straße entlang. Ich wunderte mich, dass niemand zu sehen war; die Häuserzeilen warfen regungslos ihre langen Schatten im Schein der untergehenden Sonne, und kein Vogel flog mehr wie sonst um diese Zeit. Ich hatte mich dem Knochenpark genähert und hörte die Glocke der Kirchturmuhr schlagen. Vom Osten her drängte sich ein unheimliches Krachen heran, ein Jaulen und Heulen, das immer mehr anschwoll. Ich glaubte, am Himmel einen Drachen zu erkennen, dann aber quirlten die Erscheinungen wild durcheinander und ließen Pferde, Reiter und jaulende Hund erahnen.
Vor einem rostigen Eisengitter, das ein altes Grab einfasste, hockte knurrend ein grausiger Hund, der von jener wilden Meute herab gesprungen schien, starrte mich mit feurigen Augen an und kläffte mit blecherner Stimme. Dann duckte er sich und verschwand urplötzlich im Boden. Ich erkannte beim Näherkommen, dass sich am Fuße des Gitters eine Öffnung aufgetan hatte, aus der milchiges Licht hervorquoll.
Von einem unbegreiflichen Drang bestimmt stieg ich die glatten Stufen hinab, die mich in ein niedriges Gewölbe führten, das keine erkennbaren Lichtquellen aufwies, das aber dennoch genügend Helligkeit absonderte, damit ich mich zurechtfinden konnte. Als ich die letzten Stufen herabgestiegen war, befand ich mich in einem düsteren, turmartigen Gelass, von dem ein langer Gang in eine unbestimmte Ferne führte. Dort schien es heller zu werden, und dorthin lenkte ich meine Schritte, da ich den Hund hatte dort hindurch jagen sehen. Der Gang öffnete sich plötzlich in eine weite Halle, deren hohes Deckengewölbe wegen der unter ihm schwebenden Rauchschwaden nicht zu erkennen war. Vor der Fenstergalerie der hinteren Seitenwand hatte sich ein Spalt aufgetan, der in einen bodenlosen Abgrund stürzte und aus dem grelle Flammen aufloderten. Der Hund ließ sich unter Jaulen in die unergründliche Tiefe fallen, aus der faulige Gerüche heraufdrangen.
Da stellte ich mit einer gewissen Erleichterung fest, dass ich keinen Zwang mehr spürte, dem Untier weiter zu folgen und blickte mich neugierig um. Zur Seite hin führten Öffnungen unter Arkaden aus der Halle hinaus, die nicht durch Tore verschlossen waren; dorthin wandte ich mich und trat in einen neuen Saal, durch dessen Fenster ein seltsamer Schein drang. Meine forschenden Blicke vermochten die Tiefe des Saales und die durch seine weit geöffneten Durchgänge schimmernden Hallen nicht zu ergründen; aus der Ferne vernahm ich unheimliche Geräusche, die wellenförmig heran drangen und aus größerer Tiefe zu kommen schienen. Das war ein Stampfen und Schlagen, bald auch ein Brüllen und Kreischen und alles wob undeutlich durcheinander.
Eine dumpfe Furcht vor einem Erdbeben trieb mich denselben Weg zurück, den ich gekommen war. Nach wenigen Minuten bereits war ich die Treppe hinaufgestürzt und stand bebend neben dem rostigen Gitter. Die Dämmerung war mittlerweile hereingebrochen; ein Blick an den Himmel zeigte, dass ein Gewitter heraufgezogen war. Schwarze Wolkentürme hoben sich vom stumpfen Blau des Himmels ab, der nach Süden zu in beinahe schwarze, unendliche Tiefen zurücktrat. Überall ragten exzentrische Türme in den nächtlichen Himmel, an dem keine Sterne zu sehen waren, und standen wie drohende Male vor dem ungewissen Schein des Verderbens.
Zur Seite konnte ich weit in eine Ebene hinausblicken, und vom Horizont her leuchtete ein flackernder roter Schein herüber, aber große Mauermassen versperrten mir die Sicht nach vorn, dahin, woher ich gekommen zu sein glaubte, aber ich meinte, das dumpfe Krachen einstürzender Häuser und ein vielstimmiges Wehgeschrei zu vernehmen.
Eine entsetzliche Angst überkam mich, der Hund könnte wiederkommen, könnte für einen Augenblick still verharren, dann seinen stieren Blick in die Ferne richten, könnte sein Opfer wittern, sich in Bewegung setzen, schleichend zunächst, dann kräftiger mit den Läufen ausholend, könnte mich hetzen, könnte mich niederwerfen, sich mit seinen schaumtriefenden Lefzen über mich Schreienden beugen und mich zerfleischen.
Aber ich wachte auf und lag sicher in meinem Bett.