Gottfried August Bürger Wunderbare Reisen zu Wasser und Lande London 1788 |
Wunderbare Reisen Zu Wasser und Lande, Feldzüge und lustige Abenteuer Des Freiherrn von Münchhausen, wie er dieselben bei der Flasche im Zirkel seiner Freunde selbst zu erzählen pflegt. ––– Aus dem Englischen nach der neuesten Ausgabe übersetzt, hier und da erweitert und mit noch mehr Kupfern gezieret. ––– Zweite vermehrte Ausgabe. ––– London 1788.|
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Zu Wasser und Lande: Anspielung auf Christian Reuters Schelmenroman „Schelmuffskys warhafftige, curiöse und sehr gefährliche Reisebeschreung zu Wasser und Lande“ (1696) und auf die Lukian-Übersetzung: „Vier Bücher Wunderbarlicher biß daher unerhörter, und ungleublicher Indianischer reysen, durch die Lufft, Wasser, Land, Helle, Paradiß, und den Himmel. Beschrieben von Dem grossen Alexander. Dem Plino Secundo. Dem Oratore Luciano.“ Und von S. Brandano: „Mit etlichen warhafften, jedoch bey vielen Gelehrten glaubwirdigen Lügen. Unsern lieben Teutschen zur Lere und kurtzweiliger ergetzung, aus Griechischer und Lateinischer Sprache mit fleis verteutschet Durch Gabriel Rollenhagen, zu Magdeburg in Sachsen.“ Magdeburg 1603. von Münchhausen: ein seit 1183 belegtes Adelsgeschlecht; 1770 sind fast 100 Angehörige der Familie im Erwachsenenalter nachgewiesen.
Er soll ein Wahrheit liebender Mann gewesen seyn, während
seines Aufenthalts in Rußland aber manche curiosa erlebt haben, die bey der
Erzählung den Zuhörern als unglaublich erschienen sind, wodurch sich einer
dieser letzten, ein Advocat Kemener in Kemnade1, veranlaßt gefunden hat,
unter seinem, des v. M. Namen, die berühmte Lügen-Chronik zu compillieren.
Relata refero. In fidem.2 ––– 1 Das Kloster Kemnade an der Weser wurde um 960 gegründet von zwei Töchtern des Billunger Grafen Wichmann dem Jüngeren († 22. September 967), Frederuna († 1025) und Irma, in Kemnade, einem heutigen Ortsteil von Bodenwerder. Namensgebend für das Kloster war der beheizbare Raum des Frauengemaches, die caminata. Daraus leitete sich auch der Name des Dorfes ab. Erste Äbtissin wurde Frederuna. Durch das Erbe der Schwestern besaß das Kloster große Reichtümer: Dölme, Grave, Hehlen, Heyen, Hohe, Linse, Halle, Lüerdissen, Rühle, Forst, Börry, Tündern, Ohr, Esperde, Latferde, Grohnde, Hajen, Pegestorf und Bodenwerder. Im Jahr 1542 erfolgte die Aufhebung des Klosters. Durch Urteil des Reichskammergerichts fiel das Kloster 1592 an Corvey zurück. Der letzte Propst Christoph von Esleve heiratete und trat zum Protestantismus über. Der Besitz fiel an Friedrich Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel, der ihn später als Pfand an Christoph von Esleve übergab. Über die Rechte gab es noch lange Auseinandersetzungen, er blieb aber unter der Oberhoheit des Hauses Braunschweig.
In der ehemaligen Klosterkirche St. Marien in Kemnade wurde unter anderem
der „Lügenbaron“ von Münchhausen in der Familiengruft beigesetzt. 2 lat. Ich weiß das (nur) vom Hörensagen. beglaubigt (der Unterschrift des Beurkundenden vorangesetzt)
Raspe nimmt die Gleichsetzung des Ich-Erzählers mit Hieronymus von
Münchhausen von der vierten Ausgabe an de facto zurück – in deren Vorwort
findet sich, fünf Monate nach dem ersten, kein Hinweis mehr auf die direkte
Entsprechung. Bürger vollzieht den Schritt 1788 nach. Der
literaturwissenschaftlichen Forschung ist diese Entscheidung beider Autoren
nie aufgefallen. Er betrifft den Kern dessen, was als Spezifikum des
Phänomens gilt, nämlich die Fraglosigkeit der Übereinstimmung von
historischer und fiktiver Person. Doch die ist keineswegs
selbstverständlich. Der Grad der Übereinstimmung ist eine Variable. Auch
Schnorr variiert seine Fortsetzungen in diesem Punkt; größte Nähe zum
lebenden Zeitgenossen behauptet ein Titel mit Hieronymus von Münchhausen als
Herausgeber und Bodenwerder als Erscheinungsort. London: Der Verlagsort ist fiktiv; das Buch erschien wie bereits die erste Ausgabe von 1786 in der Dieterich’schen Verlagsbuchhandlung Göttingen. Johann Christian Dieterich (1722-1800) gründete 1760 eine Buchhandlung in Göttingen, wo er 1765 Universitätsbuchhändler wurde und 1770 der Buchhandlung eine Druckerei angliederte. Dieterich war eng mit Gottfried August Bürger und Georg Christoph Lichtenberg befreundet.
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Glaubtʼs nur, ihr gravitätischen
Herrn! |
Herrn!] B1: Herrn? gravitätischen: würdevoll, gemessen
narrieren: schwatzhaft erzählen;
„Denn, glaubt mirʼs, ihr gravitätischen Herrʼn,/ Gescheidte Leute narriren
gern./ Wundert ihn das, Herr Doctor Duns?/ Willʼs ihm erklären, doch unter
uns:/ Das macht, sie haben beym Narriren/ Mehr zu gewinnen als zu verliehren.“ |
Als Autor anonym zu bleiben war nicht nur wegen der Münchhausens auf dem Kontinent angebracht. Der Name der Familie galt auch in London und bei Hofe etwas, und zwar nicht nur der des ehemaligen Premiers Gerlach Adolph. Zum Beispiel amtete dessen Bruder Philipp Adolph (1694-1762), wenn auch vor Raspes Zeit, als Kurfürstlich-Hannoverischer Minister bei der Deutschen Kanzlei in London. Und Wilhelm August Friedrich von Münchhausen (1743-1782) war Kriegsrat des Kurfürsten von Hannover, also des Königs von England, und Berater des englischen Generalleutnants John Manners Granby im Siebenjährigen Krieg auf dem Kontinent. Für den Täufling Georg von Münchhausen (1754-1800), Sohn des Philipp Adolph, hatte sogar schon König Georg II. Pate gestanden – in der Londoner Hofkapelle.
Raspe hinterließ bei seiner Flucht l775 in seiner privaten Bibliothek in Kassel „Monumenta Genealogica Munchhusiana“, in Folio-Format. Was dieser Titel beinhaltet, ist nicht bekannt. Wenn die Bezeichnung in der Nachlassliste korrekt notiert worden ist, dann kann es sich nicht um die Familiengeschichte des Hauses Münchhausen handeln, die S. G. Treuer 1740 veröffentlicht hatte – denn dort kommt der dreigliedrige Titel nicht vor. Was konnte Raspe bewegen, sich mit der Familie zu befassen und umfangreiche Materialien zu konsultieren, lange bevor von den Anekdoten überhaupt die Rede sein kann?
Das Staatsarchiv Marburg hütet eine große Akte zur Familie Münchhausen in Hessen-Kassel. Aus ihr geht unter anderem hervor, dass es zu Lehensverhältnissen der „Hilmar'schen Linie“ der Münchhausens gewisse Unstimmigkeiten gegeben hat. Es ist denkbar, dass Raspe, der sich mit seinen „Klosterarchivreisen“ von 1773 als versierter Historiker und Quellenfinder bewähren sollte, mit der Bearbeitung dieser Münchhausischen Angelegenheit betraut war oder zumindest Untersuchungen in dem Zusammenhang unternommen hat.
Wiebel 2005b, S. 129.
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Bürgers erste Ausgabe 1786 und die zweite Ausgabe 1788 |
Raspes Third Edition 1786 und seine Fifth Edition 1787 |