Gottfried August Bürger Wunderbare Reisen zu Wasser und Lande London 1788
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Raspe hat die 17 M–h–s–nsche Geschichten aus dem Vade Mecum von 1781 und 1782 bis auf eine Anekdote über eine Sängerin, die sich den Texten von 1781 als Nr. 18 anschließt, vollständig übernommen. In der zweiten englischen Ausgabe (A New Edition) wurden diese Texte unverändert übernommen und durch die „Naval or Sea adventures“ vermehrt. Die fünfte Ausgabe von 1787 wurde um weitere See-Abenteuer vermehrt und in Kapitel eingeteilt. Eine dieser neun See-Abenteuer bildet das erste Kapitel; Kapitel zwei bis sechs bringen den unveränderten Teil der ersten Ausgabe; Kapitel sieben bis zwanzig die See-Abenteuer der zweiten Ausgabe mit neuen Ergänzungen. Quelle für Raspes Vorwort, von Bürger übernommen: Es lebt ein sehr witziger Kopf, Herr von M–h–s–n im H–schen, der eine eigne Art sinnreicher Geschichten aufgebracht hat, die nach seinem Namen benannt wird, obgleich nicht alle einzelne Geschichten von ihm sein mögen. Es sind Erzählungen voll der unglaublichsten Übertreibungen, dabei aber so komisch und launigt, dass man, ohne sich um die Möglichkeit zu bekümmern, von ganzem Herzen lachen muss; in ihrer Art wahre hogarthsche Karrikaturen. Unsere Leser, denen aber vielleicht schon manche davon durch mündliche Überlieferung bekannt sind, sollen hier einige der vorzüglichsten davon finden. – Das Komische wird sehr erhöht, wenn der Erzähler alles als selbst gesehn oder selbst getan vorträgt. Also: [es folgt der Text]. |
Raspes Quelle: MhG, 8. Teil 1781, S. 92-93 Ob der M-h-s-n im Vade Mecum aus Raspes Feder stammt, weiß man nicht. Der Münchhausen-Bibliograph Wackermann versuchte, mit einer Statistik zur Häufigkeit von Themen aus England in den zehn Bänden des Vade Mecum Raspe als Autor zu bestimmen. (Wackermann 1965, S. 39) Die Häufung in Teil 8 ist signifikant, stellt aber keinen Beweis für Raspes Autorschaft dar, denn gerade die Münchhausen-Anekdoten haben mit England nichts zu tun. Aus einem anderen Grund sind diese Anglistika jedoch bemerkenswert. Die Teile 8 (l781) und 9 (1783) gelten bisher als die ältesten Dokumente, in denen das Corpus der Münchhausen-Anekdoten auftritt, und die Rezensionen des Bürger'schen Münchhausen von l786 und l788 in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek (ADB) als das erste Echo auf die Geschichten in deutscher Sprache. Es wurde bisher aber nicht beachtet, dass sich dort schon 1783 jemand zu den M-h-s-n-Geschichten geäußert hat. Der Hamburger Jurist Abendroth schreibt: „Desto angenehmer lesen sich die Schildbürger- und Abderitenstreiche, und die sogenannten Irrländischen Bulls... Manchmal scheint es freylich, als wenn sich der Sammler die Mühe habe verdrießen lassen zu erzählen, denn dass er erzählen, gut erzählen kann, wenn er will, kann niemand leugnen: aber, manches steht doch gar zu hölzern da — Wer die M-h-s-n Mährchen von ändern hat erzählen hören, wird uns beyfallen. Auch sieht man den Ton der guten Gesellschaft durch eingeschaltetes Fluchen, Teufel holen und dergleichen ungerne beleidigt.“ (ADB 1783, 52. Band, 2.Stück, S. 604)
Abendroth hat schon die Rezension zu Teil 7 des Vade Mecum (1777)
verfasst. Er wünscht, „dass viele ergötzende Geschichtchen darin aufbehalten
werden, die in der Welt herumgehen, und die, weil sie nirgends gedruckt
sind, sich vielleicht verlieren könnten, oder doch sicherlich nicht so
bekannt würden.“ Eine Quelle dafür seien die „Irisch [sie!] blunders, oder
bulls, deren man in England eine große Menge erzählt.“ (ADB 1780, Anh.
25-36, 36. Band, 4. Abt., S. 2477) Abendroth sieht in Teil 8 erfüllt, was er
nach Lektüre von Teil 7 für notwendig erachtet hatte: Was er nur „hat
erzählen hören“, möglicherweise die M-h-s-n Mährchen, liegt schriftlich vor,
und er kann viele blunders und viel aus England lesen. [Anm. Wiebel (24):
Blunders/bulls: Anekdoten, deren Witz in der schlagfertigen Antwort
angesichts einer prekären Situation liegt, oft in direkter Rede,
hochstaplerisch, ähnlich cock-and-bull-stories (Lügengeschichten).] Die von
Abendroth aufgezählten Beispiele guter bulls haben allerdings in ihrer Art
nichts zu tun mit dem, was der Baron erzählt. Aber die Rezension über Teil 8
stellt den M-h-s-n erstmals in einen literarischen Zusammenhang. Abendroth
bezeichnet mit den Schildbürgern eine relevante Quelle für den Stoff, und
mit der Anspielung auf C. M. Wielands aktuellen Roman Die Abderiten (1. Teil
1774) bringt er zum Ausdruck, dass er M-h-s-n als Satire versteht. Das ist
bemerkenswert, weil wenige Jahre später eine andere Rezension den Anekdoten
genau diesen satirischen Charakter absprechen wird. |
Es ist heute kaum zu ermessen, was es l785 geheißen haben muss, den Munchausen zu veröffentlichen. Dass Raspe als Autor ungenannt blieb, erklärt man sich gewöhnlich mit der Sorge vor dem Verlust der wissenschaftlichen Reputation durch ein unseriöses Buch. Das ist psychologisch plausibel, aber spekulativ. Der Autor des Vade Mecum hatte den bekannten Namen leicht lösbar verschlüsselt, wie das dutzendweise in Büchern geschieht – jeder wird gewusst haben, wen M-h-s-n meint – gewohntes Spiel zwischen Autor und Leser. Der vollständige Familienname ist demgegenüber ein Bruch, der aber heute kaum wahrnehmbar ist, da er radikal nur in der ersten englischen Ausgabe zum Ausdruck kommt. Das Vorwort dieses schmalen Büchleins nennt den vollen Namen und bezieht die ganze Familie ein. Dieser literarische Munchausen als ein Exponent der Familie hat politische Absichten: Er geht, gemäß Vorwort, davon aus, dass leere Behauptungen und veraltete Gepflogenheiten das politische Geschehen bestimmen, dass man seine Methode „chiefly upon our English politicks“ anwenden müsse, um zu verhindern, dass verdrehte Köpfe die Nation zum Gespött des Auslandes machen – zum „laughing-stock of Europe, and of France, and Holland in particular.“ (R1, S. IV) Es ist also keineswegs so, dass ein drolliger lustiger Freiherr nach siegreicher Schlacht oder fröhlicher Jagd herumflunkert zum Ergötzen seiner Zuhörer – dieses Bild ist ein Produkt einer sehr deutschen Rezeption über 200 Jahre hin. Nimmt man den ersten Text von Raspe ernst als Literatur, darunter auch das Vorwort, dann schimmert eine weitere Schicht hervor: Das Ziel des Baron Munchausen besteht ausdrücklich darin, den common sense zu stärken; der Baron diagnostiziert, dass diejenigen, welche diese Haltung verloren haben, nicht leicht gebessert werden können, dass seine Methode ihnen aber die Augen öffnen könne. Dass hinter diesen unspektakulär erscheinenden Wendungen eine Brisanz verborgen sein könnte, lässt sich aus der kurzen Lebensdauer dieses Vorworts schließen: Schon in der zweiten Ausgabe vier Monate später sind alle direkten Hinweise auf Politik im Vorwort verschwunden. Wie ist das zu erklären? Eine Ursache wird darin zu suchen sein, dass man in England common sense nicht nur als gesunden Menschenverstand wird gelesen haben, sondern als Bestandteil eines berühmt-berüchtigten Buchtitels: Common Sense -Addressed to the Inhabitants of America. Diese Flugschrift von Thomas Paine, l776 erstmals in Philadelphia erschienen, war ein politischer Stachel zugunsten des Unabhängigkeitsgedankens in den amerikanischen Kolonien. In diesen Kontext gerät der Name der Münchhausens also beim ersten Auftritt. Untersucht man unter diesem Aspekt die ersten fünf Auflagen, dann ist die Tendenz eindeutig: Sowohl die Anspielungen auf die Familie als auch diejenigen auf common sense und Politik gehen zurück. Raspes erster Munchausen-Verleger Smith befand sich ja an derselben Adresse wie Kearsley, der die Fortsetzungen edierte wie auch Raspes Übersetzung der Bornschen Briefe aus Temeswar, für die Raspe ein Vorwort mit deutlichen politischen Aussagen beigesteuert hat. In diesem Zusammenhang wird auch Kearsley mit seinem Verlagsprogramm plötzlich interessant: Er hat sich mehrfach regierungskritisch exponiert, musste deswegen vorübergehend sein Geschäft schließen – und hat u. a. Paine's Common Sense verlegt. Weshalb er am 7.1.1786 und am 26.8.1786 jeweils Konkurs angemeldet hat, gerade nach dem Erscheinen des ersten Munchausen bei seinem Nachbarn Smith und zwischen seinen eigenen vierten und fünften Ausgaben, wäre noch zu untersuchen. Raspes Münchhausens: viele Beamte und Offiziere Man stelle sich also vor: Der berühmte Ritter Linne, die größte Kapazität im Fach der Naturgeschichte, ehrt in der Fachöffentlichkeit den Gründer der Universität Göttingen und den in ganz Europa bekannten Otto mit einem symbolischen Akt, der auf die ganze Familie abstrahlt. Und diese Familie ist überall, wo Raspe ist: in Hannover, Kassel und London. Leicht lassen sich etwa 15 Münchhausens finden, mit denen Raspe zu tun hatte. Wenige Beispiele werden hier genügen müssen um zu zeigen, dass Raspe seinen Munchausen nicht geschrieben haben kann ohne ein Bewusstsein von dieser Präsenz.
Mit Gerlach Adolph von Münchhausen (1688-1770) hatte Raspe wegen seiner
Leibniz-Ausgabe direkt zu tun. Mit Wilhelm Werner Heinrich von Münchhausen
(1715-1788), Oberst, Landrat der Grafschaft Schaumburg, dem Bruder des
Hieronymus, ist ein Kontakt nicht belegt, aber sehr wahrscheinlich. Von der
Bedeutung des Otto von Münchhausen (1716-1774), Cousin ersten Grades des
Hieronymus, war Raspe als Mitglied der „Gesellschaft des Landbaues“ in Kassel
mit Sicherheit orientiert. In dieser Gesellschaft saß er gemeinsam mit Moritz
Friedrich von Münchhausen (1731-1799), Oberappellationsgerichtspräsident,
ehemals Regierungspräsident in Rinteln. Dessen Frau (*1740) führte Raspe am
2.4.1770 durch das Kunsthaus in Kassel. |