Rudolf Erich Raspe

 

Medaillonrelief des schottischen Kupferstechers James Tassie (1735–1799) von Rudolf Erich Raspe (1736–1794).

 

Am 29. Juli 1809 konnten die Leser der Zeitung für die elegante Welt folgendes unter der Überschrift „Anekdote“ lesen:

Der berühmte, oder sollte man lieber sagen berüchtigte Baron von Münchhausen, welcher seine erträumten höchst seltsamen Abentheuer als wirkliche Facta zu erzählen pflegte, <hatte> ein ausgebreiteteres Publikum, als man glaubt. Ein sich in London aufhaltender deutscher Gelehrter (Raspe) hatte diese Seltsamkeiten gesammelt, und die Begebenheiten des Herrn von Münchhausen erlebten in kurzer Zeit mehrere Auflagen des englischen Originals hinter einander, bis sie endlich, sonderbar genug, seinen Landsleuten in einer Übersetzung aus dem Englischen mitgetheilt wurden.

Dieser Hinweis wurde kaum zur Kenntnis genommen und man vermutete noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts, der Raspe'sche Münchhausen sei eine Übersetzung von Bürgers Text ins Englisch. Erst nach 1855 verdichten sich die Hinweise, dass Raspe Verfasser der englischen Munchhausen-Geschichten war. In England und den USA erschienen im 19. Jahrhundert viele bearbeitete und veränderte Ausgabe des Münchhausen; erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts werden die Munchausen-Texte unter dem Namen Raspes veröffentlicht.

 

Bernhard Wiebel beschreibt die Entstehung und Verbreitung der Münchhausen-Abenteuer, die er gründlich erforscht und dokumentiert hat, unter der Überschrift Ein Erfolgsbuch – zwei Autoren folgendermaßen (Wiebel 2015, S. 213):

1781 veröffentlichte ein Anonymus im Vade Mecum für lustige Leute, einer in Berlin erscheinenden Buchreihe zur leichten Unterhaltung, einige fantastische Erlebnisse eines »Herrn von M-h-s-n im H-schen«. Der in London lebende deutsche Gelehrte Rudolf Erich Raspe übersetzte 1785 diese Abenteuer ins Englische und baute sie mit kleinen Ergänzungen zu einem Buch aus. Dabei schrieb er den Namen seiner in Deutschland beheimateten literarischen Figur in englischer Weise als »Munchausen«. Raspe veröffentlichte seinen Munchausen-Erstling im Winter 1785/86 beim Buchhändler M. Smith in London, der anderes Vergleichbares druckte, zum Beispiel Billy Brass – a Political Hudibrastic, eine Sammlung satirischer Gedichte. Im Nachdruckeldorado Dublin erfolgte unverzüglich ein wortgetreuer Raubdruck des Munchausen; im Frühling 1786 legte Raspe die erweiterte Fassung A New Edition vor, die vier Illustrationen enthielt.

Der bekannte Balladendichter Gottfried August Bürger in Göttingen übersetzte im Sommer 1786 dieses Büchlein ins Deutsche und ließ es, mit Ergänzungen versehen, im Frühherbst auf der Michaelismesse in Leipzig anonym erscheinen. Bürgers Illustrator, Ernst Ludwig Riepenhausen, muss da bereits die folgende Ausgabe von Raspe, die Third Edition, erschienen im Mai 1786, gekannt haben, da er für acht Bilder in Bürgers Buch Vorlagen aus dieser Ausgabe benutzte.

 

 

  

Titelblätter der 1. und 6. Ausgabe

 

Wiebels Analysen der Erweiterungen bis zur sechsten Ausgabe zeigen, dass Allein Raspe ihr Verfasser war und nicht Lohnschreiber, wie in der Forschung lange angenommen wurde. Auch das Sequel, das in Deutschlang unbekannt geblieben ist, stammt aus Raspes Feder.

 

 

Rudolf Erich Raspe wurde 1736 in Hannover geboren. Er studierte Rechtswissenschaften in Göttingen und Leipzig und arbeitete als Bibliothekar an der dortigen Universität. 1762 wurde er Angestellter in der Universitätsbibliothek Hannover und 1764 Sekretär der Universitätsbibliothek Göttingen. Er machte sich als vielseitiger Gelehrter der Naturgeschichte und der Antike einen Namen und veröffentlichte einige Originalgedichte sowie Übersetzungen von Ossians Gedichten. 1765 gab er die erste Sammlung von Leibniz philosophischen Werken heraus. 1767 wurde er zum Professor in Kassel und anschließend zum Bibliothekar ernannt. Ab 1767 war er für einige Sammlungen Friedrichs II., Landgraf von Hessen-Kassel verantwortlich. Nachdem er 1775 wertvolle ihm anvertraute Münzen und Medaillen zum eigenen Vorteil verkauft hatte, floh er nach England. Im selben Jahr wurde er wegen seiner divers frauds and gross breaches of trust aus der Royal Society ausgeschlossen.

Raspe blieb bis an sein Lebensende auf den Britischen Inseln. Zur Bestreitung seines Lebensunterhalts betätigte er sich anfangs als Übersetzer geologischer Abhandlungen. So übertrug er 1776 ein eigenes, zwei Jahre zuvor auf Deutsch erschienenes Werk als Account of some German volcanoes and their productions … ins Englische. Umgekehrt half er dem deutschen Naturforscher Georg Forster, den er zusammen mit dessen Vater Johann Reinhold Forster in der britischen Hauptstadt getroffen hatte, seine Reisebeschreibung A Voyage round the World (1777) ins Deutsche zu übersetzen.

1781 verfasste der Aufklärer mäßig gelungene englische Übersetzungen von Werken der deutschen Literatur, insbesondere die Erstübersetzung des Dramas Nathan der Weise von Gotthold Ephraim Lessing, ohne dass ihm damit jedoch größerer Erfolg beschieden war. So musste er weiterhin ein relativ kärgliches Leben fristen.

Der Industrielle Matthew Boulton, der gemeinsam mit James Watt ein Unternehmen leitete, beauftragte Raspe, in Cornwall gelegene Minen zu erschließen. Seit 1782 bei Boulton beschäftigt, lebte Raspe einige Jahre in Redruth, erhielt ein eigenes Labor und stieg 1784 zum „master of assay“ auf.

Ende 1785 veröffentlichte er die erste Auflage von ins Englische übersetzten, angeblich vom Freiherrn Karl Friedrich Hieronymus von Münchhausen erzählten aufschneiderischen „Lügengeschichten“ und schuf damit den Ausgangspunkt für eines der meistgelesenen Kinder- und Volksbücher. Mit diesem Werk sollte er (postum) auch seinen nachhaltigsten Ruhm begründen.

In London hatte der schottische Medaillenfabrikant James Tassie 1784 ein heute in der National Portrait Gallery in Edinburgh aufbewahrtes Medaillenbildnis von Raspe anfertigen lassen. 1790 begann Raspe, die Kunstsammlungen des Schotten systematisch zu erfassen und gab 1791 einen zweibändigen, auf Englisch und Französisch verfassten Katalog heraus, der fast 16 000 Gemmen und Kameen – die Tassie nach geliehenen Originalen in Glaspaste reproduziert hatte – beschrieb. Seine Einleitung zu diesem Katalog führte den Leser in die Geschichte der Steinschneidekunst ein. Tassie beteiligte ihn auch an seiner Manufaktur.

Unter anderem erfand Raspe die Härtung von Stahl durch Wolfram. 1790/91 suchte er im Auftrag der Highland Society in Nordschottland nach Bodenschätzen. Er behauptete, auf Anzeichen großen Mineralienreichtums gestoßen zu sein und verleitete einen lokalen Magnaten, Sir John Sinclair von Ulbster, viel Geld in diesbezügliche Voruntersuchungen zu stecken, verschwand aber, bevor das Projekt Früchte tragen konnte. Er wurde verdächtigt, Moore mit kornischen Erzen versetzt zu haben, um reiche Bodenschatzvorkommen vorzutäuschen. 1792/93 forschte er zeitweise auch in Cornwall und Wales nach ökonomisch rentablen Mineralien. Ende 1793 ging er nach Irland. Zuletzt beriet er den Eigentümer des Landgutes „Muckross“ im Südwesten Irlands, Henry Arthur Herbert (1756–1821), bei der Entwicklung der dort befindlichen Kupferminen. Dabei erkrankte Raspe an Scharlach und starb im November 1794. Er wurde nahe Killarney auf dem protestantischen Friedhof „Killeaghy“ in einem anonymen Grab bestattet.
(Unter Verwendung von Wikipedia)

 

Quelle für Raspes Erzählungen waren kurze Erzählungen, die im Vade Mecum für lustige Leute erschienen, einer zehnteiligen Buchreihe, des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts. Jeder Band enthält 300 kurze Texte, Schwänke, Witze, Rätsel und Anekdoten sowie Scherze und humoristische Texte, darunter solche, die mit Münchhausen in Verbindung stehen. In den Teilen 8 und 9 (1781/1783) finden sich insgesamt 18 M-h-s-nsche Geschichten ohne Angabe des Verfassers. In der Einleitung heißt es:

Es lebt ein sehr witziger Kopf, Herr von M–h–s–n im H–schen, der eine eigne Art sinnreicher Geschichten aufgebracht hat, die nach seinem Namen benannt wird, obgleich nicht alle einzelne Geschichten von ihm seyn mögen. Es sind Erzählungen voll der unglaublichsten Uebertreibungen, dabey aber so komisch und launigt, daß man, ohne sich um die Möglichkeit zu bekümmern, von ganzem Herzen lachen muß; in ihrer Art wahre hogarthsche Karrikaturen. Unsere Leser, denen aber vielleicht schon manche davon durch mündliche Ueberlieferung bekannt sind, sollen hier einige der vorzüglichsten davon finden. – Das Komische wird sehr erhöht, wenn der Erzähler alles als selbst gesehn oder selbst gethan vorträgt.

 

  

 

Ein zeitgenössischer Rezensent merkt zu den Münchhausen-Geschichten an:

Manchmal scheint es freylich, als wenn sich der Sammler die Mühe habe verdrießen lassen zu erzählen, denn daß er erzählen, gut erzählen kann, wenn er will, kann niemand leugnen; aber, manches steht gar zu hölzern da – Wer die M-h-s-n Mährchen von andern hat erzählen hören, wird uns beyfallen. Auch sieht man den Ton der guten Gesellschaft durch eingeschaltetes Fluchen, Teufel holen und dergleichen ungern beleidiget.
Allgemeine deutsche Bibliothek, 52. Band, zweites Stück, Berlin 1783, S. 506.

 

Im August 1809 berichtet die Zeitung für die elegante Welt:

Anekdote.

Der berühmte, oder soll man lieber sagen berüchtigte Baron von Münchhausen, welcher seine erträumten höchst seltsamen Abenteuer als wirkliche Facta zu erzählen pflegte, hatte ein ausgebreiteteres Publikum, als man glauben sollte. Ein sich in London sich aufhaltender deutscher Gelehrter (Raspe) hatte diese Seltsamkeiten gesammelt, und die Begebenheiten des Herrn von Münchhausen erlebten in kurzer Zeit mehrere Auflagen des englischen Originals hinter einander, bis sie endlich, sonderbar genug, seinen Landsleute in einer Übersetzung aus dem Englischen mitgetheilt wurden. Aber nicht allein in England wurden die Phantasien dieses Mannes gelesen – sie hatten sich bis nach Ostindien verbreitet. Als die 1782 nach Madras gesandten hannoverischen Truppen dort angelangt waren, fanden die Offiziere die sogenannten Travels von Münchhausen in den ersten Häusern, und sie wurden dort um so begieriger gelesen, als man hörte, daß dieser Mann wirklich lebe, und alles aus seinen eigenen Erzählungen abgeschrieben sey. Diese seltsame Kopf lebte still und eingezogen in dem kleinen Städtchen Bodenwerder an der Weser, kam wenig in Gesellschaft, war er aber da, und wurde er auf seine Reisen gebracht, so erzählte er seine wunderlichen Einfälle mit dem ganzen Ernste eines Historikers, und nahm es sehr unwillig auf, wenn man das Faktische zu bezweifeln schien. War seine Gattin zugegen, so rief er sie gewöhnlich als Zeugin auf, ob das alles nicht so ganz wahr sey. Es ist gar nicht zu zweifeln, daß dieser Manu endlich selbst an die von ihm ersonnenen Abenteuer glaubte, nachdem er sie so oft sich und andern vorerzählt hatte. In solchen Fällen pflegt die abenteuerliche Phantasie schon den Zuhörer für einen Augenzeugen zu halten.
Zeitung für die elegante Welt, Nr. 150. Sonnabends, den 29. Juli 1809, Sp. 1199.

Seit dem Jahr 1775 befanden sich die 13 nordamerikanischen Kolonien im offenen Aufstand gegen das britische Mutterland. Ab 1778 griff Frankreich auf Seiten der amerikanischen Kolonisten in der Krieg ein, 1779 folgte Spanien und 1780 die Niederlande. Der Krieg spielte sich nicht nur in den Nordamerikanischen Kolonien, sondern auch in anderen britischen Kolonialbesitzungen ab. In Ostindien geriet die Britische Ostindien-Kompanie unter Druck, da die Franzosen von Französisch-Indien zusammen mit den Marathen und dem Sultan von Mysore Hyder Ali gegen die Kompanie vorgingen (Zweiter Mysore-Krieg). Da keine englischen Regimenter mehr zur Verfügung standen, hatte die Englische Krone bereits Truppen im Heiligen Römischen Reich geworben. Hessische und braunschweigische Truppen kämpften in Nordamerika und fünf Bataillone Hannoveraner verstärkten die Truppen auf Menorca und Gibraltar. Die Lage des Kurfürstentums Hannover war dabei unter den deutschen Staaten eine besondere, weil es seit 1714 in Personalunion mit Großbritannien verbunden war: Der König von Großbritannien war zugleich Kurfürst von Hannover. Staatsrechtlich gesehen war Kurhannover eigenständig. Beschlüsse des britischen Parlaments galten also nicht für Kurhannover. Die Ostindien-Kompanie wandte sich daher an den britischen König Georg III., um die Erlaubnis zu erhalten, zwei Regimenter deutscher Infanterie in Sold nehmen zu dürfen.

Am 1. Juni 1781 wurde die Erlaubnis mit Auflagen erteilt. Zu den Auflagen gehörte, dass die Offiziere und Unteroffiziere aber nur ein kleiner Stamm Mannschaften aus Freiwilligen der kurhannoverschen Armee bestehen sollte. Der Rest sollte mit (deutschen) Ausländern aufgefüllt werden. Geplant waren zwei Bataillone, die inklusive Stab 1037 Köpfe stark sein sollten. Jedes Bataillon sollte aus zehn Kompanien bestehen, darunter eine Kompanie Grenadiere, eine Kompanie leichte Infanterie und acht Kompanien Füsiliere. […]

Am 5. Juni 1782 waren 7 Offiziere und 176 Mannschaften unter dem Kommando des Hauptmanns Plato mit der Brilliant nach Ostindien abgereist. Doch ihr Schiff scheiterte am 28. Oktober 1782 an den Klippen der Komoren-Insel Johanna. Fast alle wurden gerettet und von den Einheimischen freundlich aufgenommen, etliche starben allerdings an tropischen Krankheiten. Das Schiff, das die Gestrandeten nach Bombay bringen sollte, wurde durch einen Sturm bis nach Sokotra abgetrieben. Dennoch erreichte es schließlich Goyo in der Bucht von Cambay. Ende 1783 kamen die Überlebenden nach Tellicherry, wo ein Detachement unter Major von Krause stationiert war. Es meldeten sich dort 3 Offiziere sowie 44 Unteroffiziere und Mannschaften.

Trotz eines kleinen Seegefechts mit den Franzosen, waren die ersten Hannoveraner bereits am 11. September 1782 in Madras angekommen. Die Truppen wurden vom Gouverneur Macartney begrüßt und im Fort St. George einquartiert. Im April 1783 erreichten das 16. Regiment und die restlichen Truppen des 15. Regiments Madras, ohne weitere Zwischenfälle. Beim Brand der Duke of Anthol vor Madras starben aber 1 Unteroffizier und 5 Mann. Nur die Brilliant blieb vermisst und 2 Kompanien unter Major Berenius waren bereits zur Armee des Generals Stuart († 1793) abkommandiert worden.
Wikipedia

Bemerkung an den Herausgeber.

In Num. 150 Ihrer Zeitung wird des Baron von Münchhausen und seiner Lügen erwähnt. Zur Charakteristik dieses Windbeutels verdient es wohl bekannt zu werden, daß seine albernen Märchen nicht einmal von ihm selbst erfanden sind. Man findet sie in Johann Peter Langens drittem Buche seiner deliciarum academicarum (Heilbronn 1665) unter der Rubrik: mendadacia ridicula.

K. M

Zeitung für die elegante Welt, Nr. 168. Donnerstags, den 24. August 1809, Sp. 1343.

Joann-Petri Langii Liber Tertius Deliciarum Academicarum: Seu PAR NOBILE FRATRVM, PHILOCLEPTA ET PHILOPSEUDES. Hoc est: FURTORUM MEMORABILIUM, AC MENDACIORUM JOCOSORUM NARRATIONES FESTIVAE. Quibus ob argumentim similitudinem accessere, Luciani Samosatensis Iter in Lunam, & Insularum quarumdam Miracula. Omnia in gratiam [et] usum Academicorum, pro gratiorum studiorum, aut quarumvis molestiarum condimento selecta. Heilbronna 1665.

Diese Bemerkung bezieht sich auf die Erzählung von der zweiten Reise zum Mond, für die Raspe wahrscheinlich Lukians Schriften. Aus dem Griechischen übersetzt. Erster Theil. Zürich 1769 verwendet hat.

Man vermutet seit Ende des 19. Jahrhunderts, dass Raspe selbst der Verfasser dieser kurzen Erzählungen war, von denen er möglicherweise einige im Umfeld seines Wirkungskreises vielleicht sogar von Hieronymus von Münchhausen selbst gehört haben könnte. Rudolf Hallo dokumentierte bereits 1943 in seiner Raspe-Biographie die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Münchhausen-Geschichten verfasst habe und Erwin Wackermann versuchte 25 Jahre später in einem umfangreichen biographischen und philologischen Beweis dessen Autorschaft zu belegen (Wackermann 1969, S. 33ff.).

 

Über die von Raspe vorgenommenen Veränderungen am deutschen Text lesen wir bei Wackermann:



Wackermann 1969, S. 14-16.