St. Lamberti, im Sommer

Hier sitze ich am liebsten, auf dem Platz vor St. Lamberti. Über der Turm-Uhr glänzen matt die Eisenkäfige, in denen die Klerisei vor mehr als 400 Jahren die sterblichen Überreste von drei Wiedertäufer verfaulen ließ, unten plätschert munter das Wasser in das doppelte Becken des Lamberti-Brunnens, auf dem drei ehrbare Münsteraner stehen, ein Mann, eine Frau und noch eine Frau mit Kind.

Ein Bettler, der Straßenmusikant und ich - wir bilden ein gleichseitiges Dreieck und umspannen den Platz: Der Musiker schickt von der renovierten Appelrath-Cüpper-Fassade Passanten mit Zitaten aus Bachs Toccata und Fuge in die Kirche, der Bettler lässt alle an sich vorbeihuschen, die ins Gotteshaus ein- und ausgehen, und ich trinke mein Glas Bier, wie immer von einem flinken Mädchen mit slawischem Akzent aus dem nahe gelegenen italienischen Restaurant serviert.

Ich sehe mehr als die beiden anderen: Zum Beispiel sehe ich, dass der Bettler sich Haar- und Bartschmuck von einem der 12 Könige geliehen hat, die über ihm in der "Wurzel Jesse" thronen.

Zum Beispiel vermute ich, dass der Bandoneonspieler einer von den vielen Berufsmusikern ist, die nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus arbeitslos wurden und sich nun im Westen als Straßenmusikanten durchschlagen müssen.

Zum Beispiel beobachte ich, wie sich Kinder im Brunnen ihre kleinen Hände waschen.

Wenn sich nun aber eine weiße Taube auf den Kopf des Weibes niederließe, das neben dem Mann und der jüngeren Frau über den Wassern steht, könnte sie das kleine Mädchen loslassen. Vielleicht würde es hinabspringen, um seine Hände neben denen der anderen Kinder zu waschen. Dann nähme es zwei Kinder bei den Händen und liefe mit ihnen um den Kirchturm herum und die Straße entlang bis zum Kiepenkerl. Steigt man dort links zur alten Domburg empor, so gelangt man zum Denkmal des Kardinal von Gahlen, der 1941 mutig gegen die Euthanasiemorde der Nazis gepredigt hat. Etwas weiter unten kann man ihm seit 2004 noch einmal begegnen, gemeinsam mit der von Deutschen ermordeten jüdisch-christlichen Philosophin Edith Stein, die Papst Pius XI. vergeblich gebeten hatte, mit einer Enzyklika gegen die Judenverfolgung einzuschreiten, und der stigmatisierten Nonne Anna Katharina Emmerick aus der Zeit von Brentanos deutscher Spätromantik. Diese drei verharren - wie es sich in Münster gehört - demütig unter dem Stamm, an den sie Jesus genagelt haben. Der listige Bildhauer aber hat einen Vierten ins Abseits dazugesetzt: Jan van Leyden, einen der drei, dem der Bischof Franz von Waldeck 1536 die Grabruhe versagt hatte, nachdem man ihm und seine Gefährten aufs grausamste geschunden und zu Tode gebracht hatte. In einen der Käfige hat man die Leiche geworfen und dann gemeinsam mit seinen beiden Gefährten hoch an Lamberti Wind und Wetter ausgesetzt.

Aber keine weiße Taube schwebt vom hohen Turm herab, kein Kind reißt sich von der Hand der Frau los, keiner der Passanten beachtet die drei Irrlichter, die nun in den Käfigen hoch am Turme matt aufleuchten. Es sind die Seelenlichter der toten Wiedertäufer, die in der Dunkelheit über dem stolzen Pflaster des Salzgasse glimmen. Sonst sind die Käfige leer. Der Spötter Heinrich Heine riet seinen Landsleuten vor 150 Jahren, die Knochen der Heiligen Drei Könige aus dem Kölner Dom hier zur Schau zu stellen.

 

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