Am Marktbrunnen    

I.

Leise tröpfelt ein spärlicher Wasserfaden in ein schmutziges Becken. Der massive Sandsteintrog steht auf dem Domplatz, keine fünfzig Meter vom Hautportal der Kirche entfernt. Jeden Samstag wird hier Wochenmarkt abgehalten; achtlos lehnen Besucher Fahrräder an den Brunnen. Ein Mann, der sich die Hände abspülen will, braucht Geduld. Ein paar Schritte entfernt steht eine alte Frau; sie trägt ein viel zu großes altes Herrensakko über ausgebeulten Hosen, die an diesem milden Spätsommertag an kaltes Herbstwetter mahnen. Ihr Kopftuch signalisiert, dass sie Ausländerin sein könnte; diese Vermutung bewahrheitet sich, wenn man sie anspricht. Auf leeren Gemüsekisten hat sie ihre Waren aufgebaut: Ein paar Schalen mit Brombeeren, drei oder vier Kräuterbündel und kleine Sträuße, die sie aus bunten Gartenblumen zusammen gebunden hat. Sie stellt einen leeren Joghurtbecher unter das Rinnsal. Es dauert mehrere Minuten, bis er voll ist. Die Frau hat ihn aus den Augen verloren, da sie gerade ein paar Sträuße an Marktbesucher verkauft. Das Wasser läuft über. Die meisten Besucher beachten ihre bescheidenen Auslagen nicht und gehen vorbei. Sie übersehen auch den Brunnen, dessen Trog mit einer eigentümlichen Einfassung aus Metall versehen ist. Von ihr streben an der Rückseite zwei Rohre empor, aus deren Verbindungsstück der tropfende Hahn zur Brunnenmitte weist. Darüber ist ein metallener Rahmen befestigt, dessen schmales Band dazu dient, einen quadratischen Sandstein zu halten.

Aus diesem Rahmen reckt Undine ihren Hals, sie schaut aus einem runden Medaillon, das - wie die ganze Figur - mit grünen Flechten bedeckt ist. Ihre Augen hat sie weit geöffnet und blickt über geschwollenen Tränensäcken vor dem Betrachter ins Wasser. Den kleinen Mund hält sie geschlossen. Ihr lockiges, gescheiteltes Haar fällt bis auf die Schultern; über der Stirn hält es ein Band zusammen.

Das Wasser im Trog ist trübe; gelbe Lindenblätter schwimmen umher. Direkt daneben haben die Männer von der Stadtreinigung einen Abfallcontainer aufgestellt, aus dem es nach Verwesung riecht.

Ich kaufe der alten Frau eine Schale mit Brombeeren ab und wasche sie unter Undines Haupt. Dann setze ich mich auf eine Bank, aber die Beeren schmecken sauer und sind bitter.

 

II.

Gerade kommt eine Gruppe von Menschen an, die sich Münsters Altstadt erklären lässt. Sie schlängelt sich zwischen geparkten Autos durch, geht hart am Marktbrunnen vorbei und fädelt sich durch einen schmalen Gang ins Markttreiben ein. Ich passe die Stadtführerin ab und frage höflich ihr Wissen vom Brunnen ab. Sie muss leider passen und läuft rasch hinter ihrer Klientel her. Ich muss andere Marktbesucher fragen und halte mich an die Älteren. Eine Frau meint, die Figur aus Sandstein stamme aus der Trümmermasse des Doms und sei nach dem Krieg hier aufgestellt worden. Andere Passanten signalisieren, dass die Undine nach meiner Frage zum ersten Mal bewusst wahrnehmen.

So komme ich nicht weiter, deshalb gehe ich zum Rathaus und frage dort nach Undine. Der Diensthabende verweist mich an eine gerade müßige Stadtführerin, die mir Auskunft gibt. Sie hat gelesen, dass es sich bei der Brunnenfigur um einen Stein von einem der zerbombten Häuser des Prinzipalmarktes handelt und nennt mir Fragmente des Verfassernamens. Eine Recherche in der Stadtbücherei führen zu keinem befriedigenden Ergebnis. Deshalb gehe ich zurück zum Domplatz und kaufe mir an einem Bäckerstand zwei Käsestangen, die ich unter Undines Quellaugen genussvoll verzehre.

 

III.

„Undine?“ spottet meine Frau, „das ist doch ein Männerkopf. So bescheuert guckt keine Frau!“ Und sie geht stracks zum Blumenstand, um uns wie immer Samstags zwei bunte Sträuße zu kaufen. Ich aber verlasse Undine, um die Blumen nach Hause zu bringen. Es ist wohl wirklich nur ein alter Hausstein, dem sie da über dem Brunnen Asyl gewährt haben; ich aber trage Undines Bild weiter in mir.

 

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