Die Stadt über der Stadt

12 lebensgroße Frauengestalten blicken aus ca. 50 Metern Höhe auf die Stadt Münster hinab. Die Hälfte von ihnen schaut erwartungsvoll in die Ferne, die andere Hälfte ist in einer heftigen Körperbewegung der Verzweiflung dargestellt. Was der Betrachter von unten kaum sehen kann, sind die Gefäße, die jede von ihnen in einer Hand hält. Erst Blicke durch ein Fernglas lassen erkennen, dass die verzweifelt aussehenden Frauen ihre runden Töpfe mit der Öffnung nach unten halten.

Jetzt wird verständlich, was der Bildhauer gemeint hat: Auf den vier Seiten des Turmobergeschosses stehen die klugen und die törichten Jungfrauen, von denen das Gleichnis im Neuen Testament (Matthäus 25) erzählt. Sein Inhalt ist schnell wiedergegeben: Zehn Jungfrauen gingen einst dem Bräutigam entgegen. Die klugen unter ihnen sorgten vor und nahmen Öl für ihre Lampen mit; die törichten vergaßen das Öl und verpassten deshalb die Hochzeit. Was haben die zwölf jungen Frauen aber auf dem 5. Turmgeschoss der Liebfrauen-Überwasserkirche verloren?

Im biblischen Text werden die zehn Jungfrauen mit dem Himmelreich verbunden, in dem der auferstandene Christus als König über die Gerechten herrscht. Es ist die Vorstellung eines neuen Paradieses, das Gott nach dem Jüngsten Gericht errichtet und in dem die auferstandenen Menschen mit Gott wohnen. Das künftige Reich Gottes haben sich die Menschen im Mittelalter wie ein Königreich vorgestellt und ihr Aufenthaltsort wie eine prächtige Stadt. Das Turm-Obergeschoss der Liebfrauenkirche ist also eine architektonische Darstellung dieses himmlischen Jerusalems. Auf der darunter liegenden Westseite sehen wir das dazugehörige Figurenprogramm. Es zeigt uns das Erlösungswerk Christi. Ganz ähnlich hat es der Kölner Maler Stefan Lochner auf einem Altarbild dargestellt.

Stefan Lochner: Stefan Lochner, Das Jüngste Gericht, um 1435, Wallraf-Richartz-Museum, Köln

Der Kirchenlehrer Augustinus entwickelte im 4. und 5. Jahrhundert die Lehre von der Erbsünde. Danach ist jeder Mensch seit dem Sündenfall von seiner Zeugung an mit einem Makel behaftet, der die Neigung zur Sünde bewirkt. Die Sünde besteht nach christlichem Verständnis in einer Abkehr von Gottes gutem Willen, im Misstrauen Gott gegenüber, im Zulassen des Bösen oder im Sich-Verführen-Lassen.
Jesus Christus ist nach christlichem Glaubensverständnis zugleich wahrer Gott und wahrer Mensch. Gott wandte sich in der Menschwerdung in seinem Sohn der in Sünde verstrickten Menschheit zu; der Tod am Kreuz bewirkte die Erlösung durch Beseitigung von Schuld und Sünde der Menschheit.
Die Vorstellung von einem das Weltgeschehen, an dessen Ende ein göttliches Gericht über alle Lebenden und Toten urteilt, ist eng mit der Idee der Auferstehung verknüpft. Das Neue Jerusalem entspringt einer Vision aus dem Buch der Offenbarung des Johannes, Kapitel 21, wonach am Ende des Gottesgerichts eine neue Stadt, ein neues Jerusalem entstehen wird, „bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann“. Dies geschieht, nachdem der alte Himmel und die alte Erde vergangen sind. In diesem Himmlischen Jerusalem wohnen die Seligen bei Gott.
Diese Zusammenhänge werden im Skulpturenprogramm des Turmes der Überwasserkirche dargestellt. Die Vorgeschichte und der Sündenfall werden als bekannt vorausgesetzt und daher ausgelassen.

Die gotische Hallenkirche wurde seit 1340 errichtet; der Bau des Westturms dauerte von 1363 bis 1415. Der spätgotische Figurenschmuck überdauerte bis auf die Mariendarstellung und die Gewändefiguren der Apostel im Portal den Bildersturm der Wiedertäufer; die aus dem weichen Baumberger Sandstein hergestellten Figuren waren allerdings bereits um 1800 derartig witterungsgeschädigt und zum Teil bereits abgefallen, dass von 1878 bis 1882 eine Erneuerung im Stil des Historismus erfolgte. Eine Erfassung der Bausubstanz vor einigen Jahren hat ergeben, dass die Bildhauer des 19. Jahrhunderts sich eng an die noch erkennbaren gotischen Figuren angeschlossen haben. Teile der Architektur und fast alle Figuren wurden durch Wrexener Sandstein ersetzt. Man erkennt diesen Stein an den starken Verschwärzungen, während die erhaltene Teile aus Baumberger Sandstein sehr viel heller erscheinen.

Die Westfassade wird im zweiten, dritten und vierten Geschoss jeweils durch vier geschosshohe gotische Blendfenster gegliedert, deren beiden senkrechten Bahnen im Spitzbogen durch stehende Vierpässe abgeschlossen werden. Im dritten Geschoss sind zwei kleine, im vierten zwei große reale Mittelfenster eingefügt. Die einzelnen Geschosse werden durch Gurtgesimse voneinander abgegrenzt.
Das zweiflügelige Portal ist durch einen Mittelpfeiler und die Wand links und rechts der Tür durch mehrfach gestufte Gewände mit eingestellten Säulen gegliedert. Sie tragen die Spitzbögen, die als Archivolten (Bogenläufe) über das Tympanon (Bogenfeld) laufen. Das Spitzbogensystem wird durch einen Giebel gekrönt, der mit durchbrochenem Maßwerk gestaltet ist und der mit seinen aufsteigenden Krabben bis in die Mitte des ersten Obergeschosses reicht. An den Außenseiten wird dieser von einer Kreuzblume gekrönte Wimperg von zwei schlanken filialenbekrönten Portalpfeilern begleitet.
Der Giebel und ein System von je drei Figuren verbindet die drei markant voneinander abgegrenzten Geschosse durch dienstgestützte Konsolen und Spindelhelmbaldachine, die in drei Bahnen zwischen den Fenstern angeordnet sind und zu einer effektvollen Geschossverzahnung beitragen.

Die Bilderzählung beginnt im unteren Geschoss mit dem Westportal, das einen Apostelzyklus mit einer Madonna am Mittelpfosten aufweist. Ursprünglich befanden sich hier die um 1370 entstandenen und heute im Landesmuseum aufgestellten Originale, die 1534 von den Wiedertäufern herab geschlagen wurden. Der jetzige und durch Kriegseinwirkung nicht mehr vollständig erhaltene Figurenzyklus stammt von Bildhauer Anton Rüller aus Münster. Erhalten ist die Madonnenstatue (stehende Maria mit dem Kind) in der Mitte und drei der ursprünglich 12 Apostel. Er ersetzte eine bei der Restaurierung im 19. Jahrhundert aufgestellte klassizistische Gruppe und ist in Anlehnung an die 1898 wieder aufgefundenen Originale der Spätgotik gestaltet.

      

Maria trägt eine Krone und ist als Himmelskönigin dargestellt; sie steht auf einer Konsole mit einer Engelsdarstellung und weist mit ihrer rechten Hand auf das Kind, das eine Kugel in der linken Hand hält und dadurch als Herr der Welt erkennbar ist. Es handelt sich also nicht um ein Bild des Jesusknaben, sondern um eine Christusdarstellung, wie sie in jedem der fünf Turmgeschosse wiederkehrt. Die Gottesmutter ist zugleich Patronin der Liebfrauenkirche. Die beiden Statuen an den Turmecken – der hl. Bonifatius, genannt der „Apostel Deutschlands“ (links) und Josef, der Stiefvater von Jesus, (rechts) – sind Hinzufügungen des frühen 20. Jahrhunderts.

Die zentrale Stellung, die Christus bereits im Zusammenhang mit der Madonnenfigur des Westportals einnimmt, setzt sich in jedem der vier Obergeschossen fort. Dadurch wird das theologische Gesamtprogramm, das Erlösungswerk Christi, bereits durch die Figurenkomposition angedeutet. Die Bildhauer des späten Mittelalters veranschaulichen mit ihren Bildwerken zentrale biblische Berichte und deuten sie im Sinne der damals vorherrschenden Theologie.
Das 2. Geschoss zeigt uns Christus zwischen der hl. Katharina und der hl. Barbara aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts. Die ursprünglichen Begleitfiguren konnten im 19. Jahrhundert wegen schwerer Beschädigungen nicht mehr identifiziert werden; man vermutet, es habe sich um die Apostel Petrus und Paulus gehandelt. Dann verwiese die Darstellung von Christus inmitten der Apostelfürsten auf die Nachfolge, in der sich die katholische Kirche sieht und deren Glaubensbekenntnis sie in der Kraft des Heiligen Geistes durch die Zeiten bewahren will. Allerdings wurden die verlorenen Statuen 1882 durch Bonifatius und Ludgerus, den ersten Bischof von Münster, ersetzt.

Katharina von Alexandrien oder Katharina von Alexandria lebte sie im 3. oder 4. Jahrhundert und erlitt unter dem römischen Kaiser Maximinus Daia (305–313) das Martyrium. Sie gehört zu den so genannten Virgines capitales, den vier großen heiligen Jungfrauen und zu den heiligen 14 Nothelfern und gilt als Helferin bei Leiden der Zunge und Sprachschwierigkeiten. Ihr Folterinstrument war das Rad, das Engel zerstörten.
Barbara von Nikomedien war eine christliche Jungfrau und Märtyrin des 3. Jahrhunderts, deren Existenz historisch nicht gesichert ist. Der Überlieferung zufolge wurde sie von ihrem Vater zunächst in einen Turm gesperrt und später enthauptet, weil sie sich weigerte, ihren christlichen Glauben und ihre jungfräuliche Hingabe an Gott aufzugeben. Sie zählt ebenfalls zu den Virgines capitales und den Vierzehn Nothelfern, und ihr Verhalten im Angesicht von Verfolgung und Tod gilt als Symbol der Wehr- und Standhaftigkeit im Glauben. Sie wird daher gegen Gewitter, Feuergefahr, Fieber, Pest und allgemein gegen plötzlichen und unvorhersehbaren Tod angerufen.
Christus in ihrer Mitte ist als Salvator Mundi (‚Erlöser der Welt‘) dargestellt, als ein im Spätmittelalter entstandener Bildtypus der christlichen Ikonographie. Mit Hilfe von Jesus Christus kann die Gemeinschaft mit Gott wiederhergestellt werden. Der Mensch allein besitzt nicht die Kraft dafür. Die rechte Hand hält der durch einen Kreuznimbus als Heiland Ausgewiesene zum Segen erhoben, während er in der Linken den Reichsapfel (eine Weltkugel mit aufgesetztem Kreuz) hält. Die Kugel symbolisiert seine Herrschaft über die Welt. Christus steht auf einer runden Plinthe, die von einer knienden Konsolenfigur getragen wird, und die ein Selbstbildnis des Bildhauers sein könnte.

Im 3. Geschoss sehen wir eine Kreuzigungsgruppe; dargestellt ist Christus am Kreuz zusammen mit seiner Mutter Maria und einem seiner Jünger, hier wohl Johannes. Im Neuen Testament (Johannes 19,25–27) heißt es: „Bei dem Kreuz Jesu standen seine Mutter und die Schwester seiner Mutter, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala. Als Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er liebte, sagte er zu seiner Mutter: Frau, siehe, dein Sohn! Dann sagte er zu dem Jünger: Siehe, deine Mutter! Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.“ So lautet eines der sieben letzten Worte Jesu am Kreuz. Die Kreuzigungsgruppe spielt eine zentrale Rolle in der Christusverehrung, weil sich in ihr die Fürsorglichkeit Jesu spiegelt, die dem Verlassenen und dem trauernden Hinterbliebenen Trost gibt.
Unter dem Kreuz steht auf der Konsole ein Löwe, darüber sitzt auf einer runden Plinthe ein Adler. Jesus wird im Neuen Testament „Löwe aus dem Stamme Juda“ (Offb. 5,5) genannt. Der Löwe, der mit dem Schweif seine Spuren verwischt, ist Sinnbild für die geheimnisvolle Herkunft Jesu und meint hier die Menschwerdung Gottes. Nach dem griechischen Physiologus, einer frühchristlichen Naturlehre des 2. Jahrhunderts, ist der Löwe ein Symbol der Auferstehung; dort heißt es, dass die Jungen des Löwen tot geboren und erst am dritten Tage durch den Atem des Vaters auferweckt werden.
In der Bibel ist der Adler Symbol für Gottes Fürsorge und Christi Auferstehung und Himmelfahrt. Nach antiker Vorstellung fliegt der alt gewordene Adler in die Sonne, verbrennt dort seine Gefieder, taucht dann dreimal in eine Quelle und wird wieder jung; auch kann er Menschen und Tiere in den Himmel tragen.

Die Darstellung des Grabes Jesu im 4. Geschoss zeigt auf drei Seiten eines Kubus‘ vier schlafende Wächter. Sie sind in mittelalterliche Handwerkertracht gekleidet. Darüber steigt Christus als Auferstehender aus dem Grab. Links sind Maria Magdalena und recht Maria Salome dargestellt. Unter dem Grab ist eine Konsolenfigur angebracht, die ebenfalls eine Stifterfigur darstellen könnte.
Im 28. Kapitel des Matthäus-Evangeliums lesen wir dazu: „Nach dem Sabbat kamen in der Morgendämmerung des ersten Tages der Woche Maria aus Magdala und die andere Maria, um nach dem Grab zu sehen. Plötzlich entstand ein gewaltiges Erdbeben; denn ein Engel des Herrn kam vom Himmel herab, trat an das Grab, wälzte den Stein weg und setzte sich darauf. Seine Gestalt leuchtete wie ein Blitz und sein Gewand war weiß wie Schnee. Die Wächter begannen vor Angst zu zittern und fielen wie tot zu Boden. Der Engel aber sagte zu den Frauen: Fürchtet euch nicht! Ich weiß, ihr sucht Jesus, den Gekreuzigten. Er ist nicht hier; denn er ist auferstanden, wie er gesagt hat. Kommt her und seht euch die Stelle an, wo er lag. Dann geht schnell zu seinen Jüngern und sagt ihnen: Er ist von den Toten auferstanden. Er geht euch voraus nach Galiläa, dort werdet ihr ihn sehen. Ich habe es euch gesagt. Sogleich verließen sie das Grab und eilten voll Furcht und großer Freude zu seinen Jüngern, um ihnen die Botschaft zu verkünden.“
Jesus Christus erscheint als Messias, der zugleich der kommende Richter aller Lebenden und der auferstandenen Toten ist; seine Auferstehung verbürgt der Rettung aller Menschen aus dem Endgericht.

Das 5. und oberste Geschoss besteht aus einem Achteck, das der Architekt meisterhaft auf den fast quadratischen Turmgrundriss aufgesetzt hat. Vier achteckige Türme, die wiederum aus drei Geschossen bestehen, flankieren das Geschoss und bilden vier der acht Seiten. Die jeweiligen Mittelteile, die nach den vier Himmelsrichtungen des Turmes weisen, zeigen jeweils zwei Fenster unter einem mit Blättern bekrönten Spitzbogen, in dem auf jeder Turmseite eine Figur angebracht ist. Am Fuße jedes der vier Ecktürme befindet sich eine auf Säulen ruhende Laube, die je eine Engelsfigur aufnimmt.
Die Türme sind mit den Fassaden in der Mitte durch kreuzblumenbekrönte und mit reichem Maßwerk verzierten Giebel verbunden; darunter befinden sich mit Krabben besetzte Strebebogen, eigentlich einer brückenartigen, ansteigenden Verstrebungen zwischen der Wand von Mittelschiff oder Chor einer gotischen Basilika. Diese architektonischen Versatzstücke zeigen am deutlichsten, dass das oberste Geschoss nicht nur aus Schmuckelementen besteht, sondern dass hier mit Hilfe gotischer Architekturteile eine Stadtarchitektur angedeutet wird.
Alle Bauteile sind vielfach mit Profilen, Fialen, Kreuzblumen und Wasserspeiern verziert. Das oberste Geschoss ist von einer durchbrochenen Galerie bekrönt, die an ihren acht Ecken hohe Fialen mit Kreuzblumen überragen.
Hier oben hat einmal ein Turm-Helm gestanden, der aber von den Wiedertäufern abgerissen, später wieder aufgebaut und schließlich beseitigt wurde.
Das Figurenprogramm der Westfassade wird oben an den Außenseiten einer gotischen Stadtarchitektur fortgesetzt und auf den vier Seiten des Obergeschosses erweitert.
Das Bild des „Himmlischen Jerusalems“ entspringt einer Vision aus dem Buch der Offenbarung des Johannes, Kapitel 21, wonach am Ende alles Tage eine neue Stadt, ein neues Jerusalem entstehen wird. Dies geschieht, nachdem der alte Himmel und die alte Erde vergangen sind.
So beschreibt Johannes, wie aus dem Endkampf zwischen Gut und Böse Gott als Sieger hervorgehen wird. Daraufhin werden die Erde und der Himmel erneuert und eine Stadt wird aus dem Himmel herab fahren. Es folgt eine detaillierte Beschreibung dieser Stadt; sie soll von gleißendem Licht strahlen, aus glasartigem Gold und von würfelförmiger Gestalt sein.

An der Westseite sehen wir eine fünfte Darstellung von Christus, nun erscheint er uns als der über den Tod triumphierenden Pantokrator, allumfassender König des Himmels und der Kirche. Die rechte Hand weist nach oben und in der linken trägt er eine Fahnenstange mit Querstrebe, die wie ein römisches Feldzeichen den Sieg des Auferstanden über den Tod symbolisiert. Diese Darstellung zeigt ihn nach der Vollendung des Erlösungswerks vor der Himmlischen Stadt, in der die auferstandenen Menschen nach dem Ende aller Tage wohnen werden. Nach dem apokryphen Thomasevangelium spricht Christus: „Das Königreich des Vaters ist ausgebreitet über die Erde, und die Menschen sehen es nicht.“ Der Turm in Münster wurde erbaut, damit alle Menschen diese Offenbarung schon jetzt mit eigenen Augen sehen können.
In den vier Lauben der Turmecken stehen drei musizierende und ein singender Engel. In der Literatur werden zwei einander nicht ausschließende Deutungen beschrieben: Die Engel könnten die Toten zur Auferstehung erwecken und zum Gericht rufen oder das Lob Gottes verkünden.

Die vier Wände sind im unteren Bereich mit dreimal drei weiblichen Gestalten besetzt, den klugen und törichten Jungfrauen, von denen es bei Matthäus (Kap. 25) heißt:

1 Dann wird das Himmelreich gleich sein zehn Jungfrauen, die ihre Lampen nahmen und gingen aus, dem Bräutigam entgegen. 2 Aber fünf unter ihnen waren töricht, und fünf waren klug. 3 Die törichten nahmen Öl in ihren Lampen; aber sie nahmen nicht Öl mit sich. 4 Die klugen aber nahmen Öl in ihren Gefäßen samt ihren Lampen.
5 Da nun der Bräutigam verzog, wurden sie alle schläfrig und schliefen ein. 6 Zur Mitternacht aber ward ein Geschrei: Siehe, der Bräutigam kommt; geht aus ihm entgegen! 7 Da standen diese Jungfrauen alle auf und schmückten ihre Lampen.
8 Die törichten aber sprachen zu den klugen: Gebt uns von eurem Öl, denn unsere Lampen verlöschen. 9 Da antworteten die klugen und sprachen: Nicht also, auf daß nicht uns und euch gebreche; geht aber hin zu den Krämern und kauft für euch selbst.
10 Und da sie hingingen, zu kaufen, kam der Bräutigam; und die bereit waren, gingen mit ihm hinein zur Hochzeit, und die Tür ward verschlossen. 11 Zuletzt kamen auch die anderen Jungfrauen und sprachen: Herr, Herr, tu uns auf! 12 Er antwortete aber und sprach: Wahrlich ich sage euch: Ich kenne euch nicht.
13 Darum wachet; denn ihr wisset weder Tag noch Stunde, in welcher des Menschen Sohn kommen wird.

Warum der Münsteraner Baumeister 12 statt 10 Jungfrauen aufgestellt hat, lässt sich vielleicht durch die Symmetrie ihrer Anordnung erklären.

Die Figuren, die ursprünglich an den drei freien Seiten des Oktogons in den Mittelachsen standen, lassen sich nicht mehr eindeutig identifizieren. An der Ostseite steht heute eine Kopie des hl. Benedikt von Nursia, der das nach ihm benannte benediktinische Mönchtum gegründet hat. Das gut erhaltene Original ist heute restauriert im Turmraum zu sehen und zeugt neben den Portalfiguren im Landesmuseum von der Qualität der gotischen Steinmetzarbeiten.
Im Norden und Süden hat man die unkenntlich gewordenen gotischen Figuren im 19. Jahrhundert durch die hl. Ida und die hl. Anna ersetzt; sie stehen für Tugenden der weltlichen und der geistlichen Stände.

Die Architektur und das Figurenprogramm des Turms der Liebfrauenkirche zeigt uns also das ganze historische Erlösungswerk Christi sowie als visionäre Krönung das von oben herabschwebende Himmlische Jerusalem als Verheißung eines neuen Paradieses, in dem die Gerechten am Ende aller Zeiten bei Gott wohnen. So lehrt es die katholische Kirche bis heute und mahnt den gläubigen Betrachter, wie die klugen Jungfrauen bereit für dieses Ereignis zu sein.
 

 

Überwasserkirche

Turmfassade, Westseite

 

Verzeichnis der Statuen

 

 

12   Christus Pantokrator

 

 

13   drei Jungfrauen

14   Engel

15   Engel

 

 

10   der Auferstandene

11   Maria Salome

9     Maria Magdalena

a-d  Grabwächter

 

 

 

 

f      Adler

7     der Gekreuzigte

8     Johannes

6     Maria

e     Löwe

 

 

 

5     Barbara

4     Salvator Mundi

3     Katharina

 

 

 

 

 

17   Josef

16   Bonifatius

 

2     drei Apostel

1     Madonna mit Kind

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